In die 2. KW./2020 starte ich mit zwei Entscheidungen, in den – zumindest ein wenig – Corona eine Rolle gespielt hat.
Im BGH, Beschl. v. 24.11.2020 – 5 StR 439/20 – nimmt der 5. Strafsenat zur Wirksamkeit von zwei Urteilszustellungen Stellung. Die Frage war insofern von Bedeutung, weil davon abhing, wann der Lauf der Revisionsbegründungsfrist begonnen hatte. Der BGH hat die Zustellung als unwirksam angesehen. Begründung: Das Protokoll war zum Zeitpunkt der „Zustellungen“ noch nicht fertiggestellt. Und es gibt einen „Corona-Hinweis“
„Der Senat teilt nicht die Auffassung des Generalbundesanwalts, dass die Revisionsbegründungsfristen des § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO durch die bisherigen Urteilszustellungen in Lauf gesetzt worden sind. Denn diese sind unwirksam.
1. Nach § 273 Abs. 4 StPO darf das Urteil nicht zugestellt werden, bevor das Protokoll fertiggestellt ist. Ein Verstoß hiergegen macht die Zustellung wirkungslos und setzt deshalb die Revisionsbegründungsfrist nicht in Lauf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Dezember 1976 – 4 StR 614/76, BGHSt 27, 80, 81; vom 3. Januar 1991 – 3 StR 377/90, BGHSt 37, 287, 288). Durch diese Regelung soll sichergestellt werden, dass mit dem Protokoll schon zu Beginn der regelmäßig mit der Urteilszustellung in Lauf gesetzten Revisionsbegründungsfrist eine abgeschlossene Grundlage für die Entscheidung über die Anbringung von Verfahrensrügen vorliegt, die dem Anfechtungsberechtigten während der gesamten Revisionsbegründungsfrist zur Einsichtnahme offen steht (BGH, Beschluss vom 13. Februar 2013 – 4 StR 246/12, NStZ 2014, 420, 421 mwN).
2. Das Protokoll war im Zeitpunkt der Urteilszustellungen vom 23. und 26. April 2020 an die Verteidiger der Angeklagten noch nicht fertiggestellt.
a) Fertiggestellt ist ein Protokoll in dem Zeitpunkt, in dem die letzte der für die Beurkundung des gesamten Protokolls erforderlichen Unterschriften geleistet wurde, selbst wenn die Niederschrift sachlich oder formell fehlerhaft ist oder Lücken aufweist (BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 317). Dies gilt aber nur, wenn beide Urkundspersonen das Protokoll als abgeschlossen ansehen (BGH, Beschluss vom 3. Januar 1991 – 3 StR 377/90, BGHSt 37, 287, 288).
b) Dies war im Zeitpunkt der Urteilszustellung offensichtlich noch nicht der Fall. Wie sich aus dem – unwidersprochen gebliebenen und mit dem Akteninhalt übereinstimmenden – Revisionsvortrag einer Verteidigerin ergibt, wurde ihr mehrere Tage nach der Urteilszustellung auf der Geschäftsstelle die Einsichtnahme in das Protokoll mit der Begründung verweigert, dieses sei noch nicht fertiggestellt, es müssten noch Änderungen vorgenommen und Unterschriften eingeholt werden. Einsicht in den Protokollband wurde etwa eine Woche danach genehmigt.
Damit korrespondiert ein Vermerk des Vorsitzenden, wonach das Hauptverhandlungsprotokoll erst später fertiggestellt wurde, weil eine lediglich am zweiten von 15 Hauptverhandlungstagen eingesetzte Justizbeschäftigte aufgrund eigener Krankheit und eingeschränkten Dienstbetriebs wegen der Corona-Pandemie eine Ergänzung nur später genehmigen konnte. Ist der Vorsitzende demnach selbst davon ausgegangen, dass seine Ergänzung (ein Beschluss zum Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 1, 3 GVG wurde um einen Halbsatz zur Begründung ergänzt) der Genehmigung bedarf, war nach seiner Vorstellung die Protokollfertigung noch nicht abgeschlossen. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob die aus Sicht des Vorsitzenden notwendige Genehmigung nur eine weniger erhebliche Änderung betraf.
Angesichts dessen erweist sich der unter dem Protokoll angebrachte Vermerk, wonach dieses bereits am 30. März 2020 fertiggestellt wurde, als widerlegt (vgl. zur Funktion und eingeschränkten Beweiskraft dieses nach § 273 Abs. 1 Satz 2 StPO anzubringenden Vermerks BGH, Beschluss vom 15. September 1969 – AnwSt [B] 2/69, BGHSt 23, 115). Zwar ergibt sich aus dem Protokoll selbst immer noch nicht mit hinreichender Klarheit, ob und gegebenenfalls wann die Protokollführerin die nach Ansicht des Vorsitzenden genehmigungsbedürftige Änderung genehmigt hat. Der Senat entnimmt aber dem genannten Vermerk des Vorsitzenden, dass das Protokoll inzwischen fertiggestellt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2017 – 2 StR 361/16).
3. Das Urteil bedarf deshalb erneuter Zustellung an die Verteidiger der Angeklagten. Weil hierüber Unklarheit bestand, hat der Senat über die Wirksamkeit der bisherigen Zustellung klarstellend befunden (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Januar 1991 – 3 StR 377/90, BGHSt 37, 287, 288). Der Senat sieht Anlass für folgende Hinweise:
a) Stehen Krankheit oder sonstige Hinderungsgründe in der Person des Urkundsbeamten der Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls entgegen, so dass es bei einem Zuwarten voraussichtlich zu einer unangemessenen Verzögerung kommen würde, kann der Vorsitzende dies unter Angabe des Hinderungsgrundes vermerken und damit das Protokoll fertigstellen (vgl. näher LR-StPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 271 Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 271 Rn. 17 f.). Durch die Corona-Pandemie bedingte Einschränkungen des Dienstbetriebs können – anders als etwa dienstliche Überlastung (vgl. Stuckenberg, aaO Rn. 25) – ebenfalls geeignet sein, die geregelte Abwicklung des Verfahrens wesentlich zu verzögern, und deshalb im Einzelfall die Annahme einer – freilich näher darzulegenden – Verhinderung rechtfertigen (vgl. zum Beurteilungsspielraum des Vorsitzenden bei der Anbringung eines Verhinderungsvermerks auch BGH, Beschluss vom 8. Juni 2011 – 3 StR 95/11 mwN).
b) Um solchen Schwierigkeiten zu entgehen, kann es sich für den Vorsitzenden ohnehin empfehlen, bei länger dauernden Hauptverhandlungen die von verschiedenen Urkundsbeamten zu verantwortenden Teilprotokolle zügig zu überprüfen und notwendige Änderungen zeitnah genehmigen zu lassen (vgl. zur Problematik näher Birkhoff, Festheft Tepperwien, 2010, 7).