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Verkehrsrecht II: Bekifft mit dem E-Scooter=Tretroller, oder: Wenn ohne Ausfallerscheinungen, straffrei

entnommen wikimedia.org – gemeinfrei

Die zweite Entscheidung hat auch einen nicht alltäglichen Sachverhalt zum Gegenstand. Dem Angeklagten ist nämlich zur Last gelegt worden, er habe am 13.05.2021 gegen 13:25 Uhr mit dem Elektrokleinstfahrzeug/E-Scooter Typ Dualmoto Nanrobot 4 d plus (2000 Watt), öffentliche Straßen unter dem Einfluss von Marihuana befahren, obwohl er wusste, dass er die zum Führen des Fahrzeugs benötigte Erlaubnis der Verwaltungsbehörde nicht hatte und das Fahrzeug auch nicht haftpflichtversichert war.

Das AG hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Gebrauchs eines Fahrzeugs auf öffentlichen Wegen und Plätzen ohne erforderlichen Haftpflichtversicherungsschutz verurteilt und ihn vom Vorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis freigesprochen. Dagegen haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Berufung eingelegt. Ziel der Berufung der Staatsanwaltschaft war eine Verurteilung des Angeklagten auch wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Ziel des Rechtsmittels des Angeklagten war ein Freispruch insgesamt. Nur die Berufung des Angeklagten hatte im Erfolg, also vollständiger Freispruch durch das LG Hildesheim, Urt. v. 20.09.2022 – 13 Ns 40 Js 25077/21:

„Das Benutzen des E-Scooters als einfachen Tretroller durch den Angeklagten erfüllt auch keinen Straftatbestand oder zumindest den einer Verkehrsordnungswidrigkeit, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt eines Vergehens nach dem Pflichtversicherungsgesetz (1.) noch unter dem Gesichtspunkt eines Fahrens ohne Fahrerlaubnis (2.) und auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Fahrens unter Drogeneinfluss (3.)

1. § 6 PflVG setzt ein „Gebrauchen“ des Kraftfahrzeugs voraus. Gebrauchen bedeutet die bestimmungsgemäße Benutzung des Kraftfahrzeugs zum Zweck der Fortbewegung (vgl. Lampe in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 239. EL Dezember 2021, § 6 PflVG Rn. 10; Sandherr in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl. 2021, § 6 PflVG Rn. 24; jeweils m. w. N.). Rechtsprechung dazu, ob das Fortbewegen eines E-Scooters mit bloßer Tretkraft ein Gebrauchen i. S. von § 6 PflVG darstellt, ist, soweit ersichtlich, bislang nicht veröffentlicht. Auch die Kommentarliteratur (vgl. Lampe in Erbs/Kohlhaas, a. a. O.; Sandherr in Haus/Krumm/Quarch, a. a. O.; Kretschmer in Münchener Kommentar zum StVR, 1. Aufl. 2016, § 6 PflVG Rn. 28) verhält sich dazu nicht. Zu den Fallgestaltungen, in denen ein Kraftfahrzeug mit bloßer Muskelkraft fortbewegt worden ist, werden im Wesentlichen folgende – allesamt ältere – Entscheidungen zitiert:

– Das Kammergericht hat mit Urteil vom 06.09.1973 – 3 Ss 125/73 – (VRS 25, 475) das Fortbewegen eines – unversicherten – Mopeds (Fahrrad mit Hilfsmotor) mit Tretkraft als „Gebrauchen“ i. S. von § 6 PflVG angesehen.

– Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat mit Urteil vom 29.09.1981 – 2 Ss 426/81 – 219/81 II – (VRS 62, 193) entschieden, dass das Fortbewegen eines Mofas, indem sich der Fahrer auf dem Sattel sitzend mit den Füßen vom Erdboden abstößt, nicht unter § 24a StVG (Führen eines Kraftfahrzeugs nach Alkoholkonsum) fällt.

– Mit Beschluss vom 31.01.1984 – 5 Ss 315/83 – 1/84 – (VRS 67, 154) hat das Kammergericht ausgeführt, dass es sich um einen Gebrauch i. S. von § 6 PflVG dann nicht handelt, wenn das Fahrzeug abgeschleppt, von Tieren gezogen, Menschen geschoben oder auf einem anderen Kraftfahrzeug transportiert worden ist.

Alle diese Entscheidungen beruhen auf dem Grundsatz, dass die von Kraftfahrzeugen ausgehende typische Verkehrsgefahr in der Regel fehlt, wenn ein Kraftfahrzeug durch (betriebs-) fremde Kräfte – beispielsweise durch bloßes Schieben, Ziehen oder durch die eigene Körperkraft – im Verkehr bewegt wird. Bei der Anwendung dieses Grundsatzes auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass die typische Gefahr eines E-Scooters darin besteht, dass er viel höhere, gleichbleibende Geschwindigkeiten erzielt als ein einfacher Tretroller und dass der Fahrer dabei zudem anders als beim Tretroller keinen regelmäßigen Bodenkontakt und damit auch weniger körperliche Kontrolle über das Fahrzeug hat. Wird ein E-Scooter hingegen mit bloßer Muskelkraft benutzt, verhält er sich nicht anders als ein für Erwachsene ausgelegter Tretroller. Darin liegt auch der wesentliche Unterschied zum Moped, welches Gegenstand des Urteils des Kammergerichts vom 06.09.1973 (VRS 25, 475) war. Das Kammergericht hatte dazu ausgeführt, dass die von dem Moped ausgehende Gefahr mit Rücksicht auf seine gegenüber einem Fahrrad schwierigere Handhabung, das größere Gewicht und das Vorhandensein eines Benzintanks nicht wesentlich geringer ist, wenn es statt mit Motorkraft mit Tretkraft fortbewegt wird.

Damit liegt zur Überzeugung der Kammer kein Gebrauchen i. S. von § 6 PflVG vor, wenn ein E-Scooter wie ein einfacher Tretroller mit bloßer Muskelkraft gefahren wird.

2. Gem. § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG macht sich strafbar, wer ohne die erforderliche Fahrerlaubnis „ein Kraftfahrzeug führt“. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. NJW 2015, 1124, 1125 m. w. N.) ist Führer eines Kraftfahrzeugs, wer es unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Allein- oder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrtbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt“. Nach dieser Definition ist für die Benutzung eines E-Scooters als bloßen Tretroller § 21 StVG erst recht nicht einschlägig.

3. Auch für den Umstand, dass die dem Angeklagten eine Dreiviertelstunde nach der Verkehrskontrolle abgenommene Blutprobe Wirkstoffkonzentrationen aufwies, die den analytischen Grenzwertes für THC von 1 ng/ml insgesamt über 90(!)-fach überschreiten, kann er letztlich nicht belangt werden, weil Voraussetzung für eine Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG ebenfalls das Führen eines Kraftfahrzeugs wäre (siehe oben III. 2.) und der Straftatbestand des § 316 StGB („Trunkenheit im Verkehr“) zwar nur das Führen eines „Fahrzeugs“ verlangt, es für Fahruntüchtigkeit infolge von Drogenkonsum jedoch keine Wirkstoffgrenzen für „absolute“ Fahruntüchtigkeit gibt, vielmehr die Feststellung der Fahruntüchtigkeit anhand einer umfassenden Würdigung der Beweisanzeichen im Einzelfall erforderlich ist (vgl. Fischer, StGB, 69. Auf. 2022, § 316 Rn. 39, 39a m. w. N.).

Solche Beweisanzeichen für eine Fahruntüchtigkeit des Angeklagten liegen nicht vor. Die ihn kontrollierenden Polizeibeamten XX haben weder Fahrfehler noch sonstige Ausfallerscheinungen am Angeklagten beobachtet. Der Blut abnehmende Arzt hat zwar erweiterte Pupillen, deren träge Reaktion auf Licht, wässrige Bindehäute und ein leichtes Schwanken des Angeklagten beim Romberg-Test dokumentiert und notiert, dass der Angeklagte leicht von Drogen beeinflusst zu sein scheine. Diese Tatsachen lassen aber trotz der sehr hohen Wirkstoffkonzentration nicht den Schluss zu, dass der Angeklagte über die allgemeine Drogenwirkung hinaus in der konkreten Verkehrssituation fahrunsicher gewesen ist. Dafür hätte es schon anderer Verhaltensauffälligkeiten wie z. B. schwerwiegender Beeinträchtigungen der Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit, mangelnder Ansprechbarkeit, Unfähigkeit zu koordinierter Bewegung und/oder deutlicher motorischer Ausfallerscheinungen (Schwanken und Torkeln) bedurft (vgl. OLG Saarbrücken NZV 2016, 97 m. w. N.).“

StPO I: Erkenntnisse aus längerfristiger Observation, oder: FoF ist nicht von „erheblicher Bedeutung“

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Heute dann ein Tag mit „StPO-Entscheidungen“.

An der Spitze steht das OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.05.2022 – III-2 RVs 15/22, das sich mit der Frage der Verwendung von einer bei einer längerfristigen Observation festgestellten Umstände in anderen Verfahren befasst. In dem Verfahren ist dem Angeklagten zur Last gelegt worden, am 27. Januar 2021 gegen 10:57 Uhr in Duisburg auf der pp. Straße den Pkw Opel Tigra, amtliches Kennzeichen pp., geführt zu haben, ohne im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein. Dies sei dem Angeklagten auch bewusst gewesen. Er sei zu einer Hauptverhandlung bei dem Amtsgericht Duisburg-Hamborn gefahren, bei der er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden sei.

Das AG hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen, weil die Erkenntnisse zu dem Tatvorwurf bei einer längerfristigen Observation in anderer Sache erlangt worden seien und deshalb in dem diesem Verfahren ein Beweisverwertungsverbot bestehe.

Dagegen die Revision der StA, die das OLG Düsseldorf zurückweist:

„…

b) Die Ermittlungsmaßnahme der längerfristigen Observation unterfällt der Verwendungsbeschränkung des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO.

Die Anordnung der längerfristigen Observation erfordert zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ begangen worden ist (§ 163f Abs. 1 Satz 1 StPO). Es handelt sich damit im Sinne des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO um eine Maßnahme, die „nur bei Verdacht bestimmter Straftaten“ zulässig ist.

Das Kammergericht (Beschluss vom 20. Dezember 2018, 3 Ws 309/18, bei juris = NStZ 2019, 429) hat zu dem inhaltsgleichen § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. mit ausführlicher Begründung dargelegt, dass der Terminus „bestimmte Straftaten“ nicht nur konkret und enumerativ aufgeführte Katalogtaten, sondern auch generalklauselartig umschriebene Delikte wie etwa eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ erfasst. Dieser Bewertung tritt der Senat bei.

So gelten die Verfahrensregeln für verdeckte Maßnahmen gemäß § 101 Abs. 1 StPO auch für die längerfristige Observation. Durch die Pflicht, dass personenbezogene Daten, die durch solche verdeckten Maßnahmen erhoben wurden, nach § 101 Abs. 3 StPO entsprechend zu kennzeichnen sind, soll nach dem Willen des Gesetzgebers gerade sichergestellt werden, dass die für eingriffsintensive verdeckte Ermittlungsmaßnahmen geltenden Verwendungsbeschränkungen beachtet werden (vgl. BT-Drucksache 16/5846 S. 3 zu § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO a.F.). Daraus geht klar hervor, dass der Gesetzgeber die Verwendung von personenbezogenen Daten, die durch längerfristige Observation bei dem Verdacht einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ erlangt wurden, den Beschränkungen des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO unterwerfen wollte (vgl. auch: Henseler NZV 2020, 423).

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat, dass das Merkmal einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ Grundrechtseingriffe im Strafverfahren einer hinreichend bestimmten Begrenzung unterwirft. Eine solche Straftat muss mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BVerfG NJW 2001, 879, 880; NJW 2003, 1787, 1791; NJW 2005, 1338, 1339).

Genügt das in § 163f Abs. 1 Satz 1 StPO bezeichnete Merkmal einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ mithin auf der Eingriffsebene den Anforderungen an die Normenklarheit und Tatbestandsbestimmtheit, ist es nur folgerichtig, die Regelung des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO, die für die Verwendungsbeschränkung auf eine „nur bei Verdacht bestimmter Straftaten“ zulässige Maßnahme abstellt, auch auf eine derart umschriebene Straftat anzuwenden.

c) Die gesetzlichen Verwendungsbeschränkungen können bei Zufallserkenntnissen nicht mit der Erwägung umgangen werden, dass dieselben personenbezogenen Daten auch durch weniger eingriffsintensive Maßnahmen hätten erlangt werden können. Maßgeblich ist stets, aufgrund welcher Ermittlungsmaßnahme die Zufallserkenntnisse tatsächlich gewonnen wurden. Anderenfalls würden die gesetzlichen Verwendungsbeschränkungen häufig leerlaufen. So kann etwa dann, wenn an einer nach § 111 StPO eingerichteten Kontrollstelle ein Kraftfahrzeugführer ohne die erforderliche Fahrerlaubnis angetroffen wurde, nicht darauf abgestellt werden, dass derselbe Sachverhalt auch bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle (§ 36 Abs. 5 StVO) hätte festgestellt werden können.

Soweit von Teilen der Literatur zufällige Erkenntnisse zu anderen Straftaten, die durch eine längerfristige Observation (§ 163f StPO) erlangt wurden, ohne nähere Begründung als uneingeschränkt verwertbar angesehen werden (vgl. von Häfen in: BeckOK, StPO, 42. Edition 2022, § 163f Rdn. 15; Moldenhauer in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019; § 163f Rdn. 31), steht dies in Widerspruch zu § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO.

So ist die Erwägung, dass sich bei einer längerfristigen Observation strafrechtlich relevante Beobachtungen zu anderen, nicht von der Anordnung erfassten Tathandlungen zuweilen gar nicht vermeiden ließen und deshalb wie Ergebnisse kurzfristiger Observationen gemäß § 163 Abs. 1 StPO zu behandeln seien (vgl. von Häfen a.a.O), nicht überzeugend. Zufallserkenntnisse können sich bei sämtlichen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen ergeben. Es kommt auch nicht in Betracht, die längerfristige Observation, die tatsächlich durchgeführt wurde, fiktiv auf die weniger eingriffsintensive Stufe einer einfachen Observation zu reduzieren (vgl. Günther in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2016, § 163f Rdn. 33). Maßgeblich ist nach § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 Satz 1 StPO, ob die längerfristige Observation auch zur Aufklärung der zufällig entdeckten Straftat hätte angeordnet werden dürfen (vgl. LG Braunschweig StV 2019, 320, 321 = BeckRS 2018, 41459; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 163f Rdn. 11; Erb in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018; § 163f Rdn. 18; Zöller in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 6. Aufl. 2019, § 163f Rdn. 12; Ambos in: Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2022, § 163f StPO Rdn. 2).

d) Die Anordnung der längerfristigen Observation wäre zur Aufklärung eines Vergehens nach § 21 Abs. 1 StVG nicht zulässig gewesen. Denn bei vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis handelt es sich nicht – wie gemäß § 163f Abs. 1 StPO erforderlich ist – um eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“.

Eine Straftat hat – wie oben bereits dargelegt (II.1.b) – „erhebliche Bedeutung“, wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Dies setzt voraus, dass der Gesetzgeber der Straftat allgemein ein besonderes Gewicht beimisst und sie im konkreten Fall erhebliche Bedeutung hat (vgl. BVerfG NJW 2003, 1787, 1791; BGH NStZ 2014, 281).

Der Strafrahmen des § 21 Abs. 1 StVG reicht von Geldstrafe bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe. Bei dieser geringen Strafrahmenobergrenze, die sich etwa auch bei Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB) findet, hat der Gesetzgeber dem Delikt schon allgemein kein besonderes Gewicht beigemessen (vgl. KG NStZ 2019, 429, 431). Zwar liegen im konkreten Fall erschwerende Umstände vor, die in der Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft aufgezeigt worden sind. So ist der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis mehrfach vorbestraft, wobei er zur Tatzeit am 27. Januar 2021 wegen der einschlägigen Verurteilung vom 13. Mai 2019 unter laufender Bewährung stand. Auch stellt es eine besondere Dreistigkeit dar, dass der Angeklagte mit einem Pkw ohne die erforderliche Fahrerlaubnis zu dem Hauptverhandlungstermin vom 27. Januar 2021 gefahren ist, bei dem er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer weiteren Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Da allein die Hinfahrt zum Amtsgericht Duisburg-Hamborn Gegenstand der Anklage ist, sei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass er zur Tatzeit entgegen dem Revisionsvorbringen nicht zweifach unter laufender Bewährung stand. Ungeachtet dessen ändern die erschwerenden Tatumstände nichts daran, dass vorliegend eine geringe Strafrahmenobergrenze von einem Jahr Freiheitstrafe gilt. Für die Annahme einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ fehlt es bereits an der Voraussetzung, dass der Gesetzgeber der Straftat allgemein ein besonderes Gewicht beimisst. Dass die Straftat auch im konkreten Fall erhebliche Bedeutung hat, muss ggf. hinzutreten.

Nach alledem war das Amtsgericht gemäß § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 Satz 1 StPO gehindert, die Zufallserkenntnisse aus der längerfristigen Observation zur Aufklärung des Tatvorwurfs zu verwenden. Ein „hypothetischer Ersatzeingriff“ wäre nicht zulässig gewesen.“

Straßenverkehrsgefährdung/Fahren ohne Fahrerlaubnis, oder: Warum schweigt das OLG München?

FragezeichenDer Kollege Florian C.A. Alte aus Anzing hat mir den OLG München, Beschl. v. 04.10.2016 – 4 OLG 15 Ss 456/16 – übersandt. Problematik des Beschlusses: Ist die vom Angeklagten, der vom Amtsgericht wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) verurteilt worden ist, erklärte Beschränkung der Berufung auf das Strafmaß wirksam oder nicht. Voraussetzung dafür ist, dass vom AG ausreichende tatsächliche Feststellungen getroffen worden sind, um den Rechtsfolgenausspruch zu tragen. Das hat das OLG verneint:

„Insbesondere zu den Verkehrsdelikten hat der Senat in ständiger Rechtsprechung, an der jedenfalls derzeit festzuhalten ist, erkannt, dass der Tatrichter sich nicht auf Feststellungen beschränken darf, die nur die reine tatbestandsmäßige Schuldform betreffen. Vielmehr ist der Tatrichter wegen der Bedeutung für die Rechtsfolgen gehalten, Feststellungen auch zur Motivation der Tat, den konkreten Verkehrsverhältnissen bei Tatbegehung, insbesondere zu möglichen Gefährdungen anderer Straßenverkehrsteilnehmer, und zum Anlass der Tat zu treffen. Beschränkt sich das Erstgericht auf die Feststellungen allein zur Schuldform und unterlässt es die weiteren Feststellungen, ist eine Beschränkung des Rechtsmittels nach § 318 StPO unwirksam und der Berufungsrichter gehalten, den Sachverhalt unter Beachtung der revisionsrechtlichen Vorgaben vollumfänglich festzustellen. (OLG München aaO).

Die vom Amtsgericht Ebersberg getroffenen und unter 1. dieses Beschlusses ausgewiesenen Feststellungen betreffen weitestgehend nur die reine Schuldform. Das Urteil des ersten Rechtszugs teilt nichts zur gefahrenen Fahrstrecke, zum Anlass der Fahrt und zur tatsächlichen Geschwindigkeit des Kfz mit. Nach Ansicht des Senats wären derartige Feststellungen notwendig, um den Anforderungen an einen alle für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte abwägenden Rechtsfolgenausspruch gerecht zu werden. Mithin war das Urteil lückenhaft und einer Beschränkung der Berufung nach § 318 StPO nicht zugänglich. Das hat die Berufungskammer verkannt.“

Was den Kollegen erstaunt hat und was auch schon ein wenig ungewöhnlich ist: Im Beschluss des OLG München kein Hinweis auf den OLG Nürnberg, Beschl. v. 21. 10. 2015 – 1 OLG 2 Ss 182/15., mit dem das OLG Nürnberg dem BGH vorgelegt hat, um die umstrittene Frage des Umfangs der tatsächlichen Feststellungen – beim Fahren ohne Fahrerlaubnis – klären zu lassen (vgl. dazu Das OLG Nürnberg traut sich: BGH-Vorlage zum Fahren ohne Fahrerlaubnis). Nun, ich denke, dass das OLG München die Entscheidung aus Nürnberg nicht übersehen hat, sondern das Schweigen daran liegt, dass es bei dem OLG Nürnberg-Beschluss nur um eine Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis ging, im Fall des OLG München aber auch eine fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) ausgeurteilt worden ist. Ich meine, da kann man schon unterschiedlicher Auffassung hinsichtlich des Umfangs der Feststellungen sein. Und immerhin schreibt der Senat ja: „….. in ständiger Rechtsprechung, an der jedenfalls derzeit festzuhalten ist, ..“.

Schauen wir mal, was passiert, wenn der BGH entschieden hat. Ggf. werden sich die Tatgerichte dann umtun müssen.