Und dann der BVerfG, Beschl. v. 19.05.2023 – 2 BvR 637/23. Entschieden hat das BVerfG in einem Eilverfahren betreffend einen Unterbringungsbeschluss nach § 81 Abs 1 StPO.
Zugrunde liegt ein Verfahren wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Diebstahl. Das AG hatte Bedenkene wegen der Schuldfähigkeit der Angeklagten. Zudem stand ggf. auch die Frage einer Unterbringung nach § 63 StGB an. Es hat daher einen Sachverständigem bestellt. Die Angeklagte sagte vereinbarte Termine zur Exploration durch den bestellten Sachverständigen zunächst ab bzw. erschien so verspätet, dass der Termin scheiterte. Der Sachverständige legte sodann ein Gutachten nach Aktenlage vor, das er später ergänzte. Im Rahmen eines Hauptverhandlungstermins vereinbarten die Angeklagte und der Sachverständige einen Termin für ein Explorationsgespräch. Zu diesem erschien die Angeklagte, verweigerte jedoch nach Belehrung ihre Mitwirkung. Der Sachverständige regte daraufhin eine Unterbringung zur Begutachtung nach § 81 StPO an. Da die Angeklagte nicht kooperiere, sei die Unterbringung zur Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus sinnvoll. Aufgrund des sich abzeichnenden Fehlens der Kooperationsbereitschaft solle diese sechs Wochen dauern. Dieses Vorgehen sei aus forensisch-psychiatrischer Perspektive notwendig.
Das AG ist dem gefolgt und hat die Unterbringung zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand der Angeklagten für die Dauer von höchstens sechs Wochen angeordnet. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte keinen Erfolg. Die Angeklagte hat Verfassungsbeschwerde erhoben und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Der hatte Erfolg:
„2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
a) Die Verfassungsbeschwerde genügt den Zulässigkeitsanforderungen. Insbesondere hat die Beschwerdeführerin den Rechtsweg erschöpft und ihre Verfassungsbeschwerde substantiiert begründet.
b) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet. Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin erscheint nicht ausgeschlossen. Dies abschließend zu klären, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
aa) Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses Recht schützt grundsätzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter eines Menschen (vgl. BVerfGE 32, 373 <378 ff.>; 44, 353 <372 f.>; 65, 1 <41 f.>; 78, 77 <84>; 84, 192 <194 f.>).
bb) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht absolut geschützt. Vielmehr muss jeder Bürger staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit auf gesetzlicher Grundlage unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 32, 373 <379>; 65, 1 <44>). Die Auslegung und Anwendung des einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gestattenden Gesetzes ist dabei grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Verfassungsgerichtliches Einschreiten ist nur geboten, wenn sich diese als objektiv willkürlich erweisen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 ff.>).
(1) Nach § 81 Abs. 1 StPO kann das zuständige Gericht zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten beziehungsweise Angeklagten nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers die Unterbringung und Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus anordnen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Unterbringung jedoch nicht verhältnismäßig, wenn sich der Betroffene weigert, die erforderlichen Untersuchungen zuzulassen beziehungsweise an ihnen mitzuwirken. Insbesondere dann, wenn eine Exploration erforderlich wäre, die Mitwirkung hieran aber verweigert wird und ein Erkenntnisgewinn daher nur bei Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden oder einer anderen Einflussnahme auf die Aussagefreiheit des Betroffenen zu erwarten ist, ist die Anordnung der Unterbringung nicht verhältnismäßig (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Oktober 2001 – 2 BvR 1523/01 -, Rn. 20). Zielt das Untersuchungskonzept darauf ab, den Betroffenen in seinem Alltagsverhalten und seiner Interaktion mit anderen Personen zu beobachten, so steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer derartigen „Totalbeobachtung“ unüberwindbar entgegen. In einem solchen Fall wäre der Betroffene nur noch Objekt staatlicher Erkenntnisgewinnung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Oktober 2001 – 2 BvR 1523/01 -, Rn. 22).
(2) Aufgrund des Vortrags der Beschwerdeführerin und den von ihr vorgelegten Unterlagen steht ernsthaft im Raum, dass die Anordnung der Unterbringung im vorliegenden Fall darauf abzielte, die Beschwerdeführerin in unzulässiger Weise zu veranlassen, einer Exploration und weiteren Untersuchungen entgegen ihrer eindeutigen Weigerung zuzustimmen. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Unterbringung auf eine unzulässige „Totalbeobachtung“ abzielt. Dies abschließend zu klären, ist dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
3. Die damit eröffnete Folgenabwägung spricht für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als zulässig und begründet, so wäre mit der Unterbringung ein nicht mehr revidierbarer Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin geschehen. Etwaige Erkenntnisse unterlägen dann zwar eventuell einem Verwertungsverbot. Die Einwirkung auf den Willensentschluss der Beschwerdeführerin und die vollständige Beobachtung ihres Verhaltens könnten jedoch nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Erginge hingegen die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als erfolglos, so könnte der Beschluss des Amtsgerichts vollzogen werden. Die Aufklärung der offenen Fragen wäre nach wie vor möglich. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Unterbringung erst so spät erfolgen könnte, dass Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin zu den Tatzeitpunkten unmöglich wären.
Die negativen Folgen in erstgenanntem Fall überwiegen insgesamt.“