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Einführen des Daumens/eines Fingers in den Mund, oder: keine „beischlafähnliche Handlung“

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Ich eröffne die 18. KW. mit zwei Entscheidungen zum materiellen Recht, und zwar jeweils zu einem Sexualdelikt.

Zunächst kommt der BGH, Beschl. v. 14.11.2018 – 2 StR 419/18. Das LG hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes und sexuellen Missbrauchs in vier Fällen verurteilt. Dagegen die Revision, die wegen der vier Fälle des sexuellen Missbrauchs keinen Erfolg hat, die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs hat der BGH jedoch beanstandet.

Dazu war festgestellt:

„Anschließend kam es zu einem „Probier-Spiel“. Der Angeklagte stellte Gläser mit Honig, Marmelade, Zucker und Salz zusammen. Die Nebenklägerin sollte mit verbundenen Augen raten, welches Lebensmittel er ihr mit einem Löffel in den Mund steckte. Er strich sich Marmelade auf ein Körperteil und steckte es ihr in den Mund. Davon, dass es sich um seinen Penis handelte, vermochte sich die Strafkammer nicht zu überzeugen. Das Landgericht hat im Zweifel zugunsten des Angeklagten zugrunde gelegt, dass er dem Kind einen Finger, eventuell den Daumen, in den Mund eingeführt habe. Die Nebenklägerin empfand Ekel, biss zu und riss sich das Tuch von den Augen. Der Angeklagte hatte danach „den Hosenknopf geöffnet“ und sein Penis war ein Stück weit zu sehen (Fall 5 der Urteilsgründe).“

Dazu der BGH:

1. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass das festgestellte Einführen des Daumens oder eines anderen Fingers des Angeklagten in den Mund des Kindes nach dem Handlungszusammenhang eine sexuelle Handlung mit Körperkontakt von Täter und Opfer gewesen ist. Diese Handlung war auch von einiger Erheblichkeit (§ 176 Abs. 1, § 184h Nr. 1 StGB); denn sie lässt sowohl nach ihrer Bedeutung als auch nach ihrer Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des durch § 176 StGB geschützten Rechtsguts besorgen. Jedoch erfüllt die festgestellte Handlung des Einführens des Daumens durch den Angeklagten in den Mund des Kindes nicht den Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes.

a) Gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB wird der sexuelle Missbrauch mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft, wenn eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind.

Der Begriff „Eindringen in den Körper“ umschreibt besonders nachhaltige Begehungsweisen der Tat (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263, 268). Er ist nicht auf Vaginal-, Anal- und Oralverkehr beschränkt (Senat, Beschluss vom 19. Dezember 2008 – 2 StR 383/08, BGHSt 53, 118, 119; Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR 65/11, BGHSt 56, 223, 234). Erfasst ist zum Beispiel auch das Eindringen mit Gegenständen in Vagina oder Anus (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2016 – 4 StR 389/16).

Die Gesetzgebungsmaterialien belegen, dass der Gesetzgeber eine umfassende Regelung treffen wollte, um besonders schwerwiegende sexuelle Handlungen zu erfassen (Senat, Urteil vom 16. Juni 1999 – 2 StR 28/99, BGHSt 45, 131, 133; Beschluss vom 19. Dezember 2008 – 2 StR 383/08, BGHSt 53, 118, 120). Anders als § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB stellt § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht auf eine besondere Erniedrigung des Opfers ab (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263, 269). Eine penetrierende sexuelle Handlung allein führt aber noch nicht zur Qualifikation des sexuellen Missbrauchs. Erforderlich ist auch, dass der Täter mit dem Kind dabei entweder den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt. Welche Handlungen dem Beischlaf ähnlich sind, lässt das Gesetz offen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Penetration des Körpers erforderlich, die im Belastungsgewicht für das geschützte Rechtsgut dem Beischlaf ähnelt (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR 65/11, BGHSt 56, 223, 224 f.). Der Qualifikationstatbestand wurde durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 164) in das Strafgesetzbuch eingeführt. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs sollte das qualifizierende Merkmal dem durch das 33. Strafrechtsänderungsgesetz vom 1. Juli 1997 (BGBl. I S. 1607) in § 177 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB (heute § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB) eingeführten Regelbeispiel eines besonders schweren Falls der Vergewaltigung nachgebildet werden (BT-Drucks. 13/8587, S. 31 f.). Hiernach sollte zwar vor allem das Eindringen des männlichen Geschlechtsgliedes in den Körper als orale oder anale Penetration erfasst werden (BT-Drucks. 13/2463, S. 7 und BT-Drucks. 13/7324, S. 6). Jedoch hat der Gesetzgeber die Anwendung des Qualifikationstatbestands nicht auf diese Arten sexueller Betätigung beschränkt (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263, 269). Dies folgt schon daraus, dass auch das Eindringen mit Gegenständen erfasst werden sollte (BT-Drucks. 13/2463, S. 7; 13/7324, S. 6).

Die Beischlafähnlichkeit der sexuellen Handlung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine äußerliche Ähnlichkeit mit dem Bewegungsablauf beim Vaginalverkehr voraus (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263, 270; a.A. Eschelbach/Krehl in Festschrift für Kargl, 2015, S. 81, 86 ff.). Eine Ähnlichkeit mit dem Beischlaf liegt regelmäßig schon dann vor, wenn die sexuelle Handlung entweder auf Seiten des Opfers oder des Täters unter Einbeziehung des primären Geschlechtsteils geschieht. Sie ist aber vor allem an dem Gewicht der Rechtsgutverletzung zu messen (Senat aaO).

b) Nach diesem Maßstab ist das Einführen des Daumens oder eines Fingers in den Mund des Kindes jedoch kein Fall einer beischlafähnlichen Handlung (vgl. MüKoStGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 176a Rn. 22; s.a. SSW-StGB/Wolters, 4. Aufl., § 176a Rn. 13; differenzierend Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 176a Rn. 8b). Eine solche Handlung besitzt kein dem Beischlaf vergleichbares Belastungsgewicht für das geschützte Rechtsgut. Insbesondere ist kein primäres Geschlechtsorgan bei Täter oder Opfer beteiligt (vgl. Senat, Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR 65/11, BGHSt 56, 223, 235; Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263, 267)…..“