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Eigenmacht, wenn der Angeklagte unvorhersehbar in der Türkei verhaftet wird?, oder: Peinlich

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Author David Benbennick

Und zum Schluss des Tages stelle ich dann noch den BGH, Beschl. v. 27.06.2018 – 1 StR 616/17 – vor.  Es geht um den Begriff der Eigenmacht i.S. des § 231 Abs. 2 StPO. Das LG Essen hat die Angeklagten R.E. und J.E. u.a. wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Dagegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen. Der Angeklagte R.E. hat mit der Verfahrensrüge einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 230 StPO, die Angeklagte J.E. einen Verstoß gegen § 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 265 Abs. 4 StPO geltend gemacht. Beide Revisionen hatten Erfolg.

Zugrunde liegt dem Beschluss etwa folgendes Verfahrensgeschehen: In der Hauptverhandlung vom 20.6.2017 erschien der Angeklagte R.E. nicht, da er am 14.6.2017 in der Türkei in polizeilichen Gewahrsam genommen worden war. Er war in die türkische Provinz B. geflogen, um dort seine am 8.6.2017 in die Intensivstation eines Krankenhauses eingewiesene Mutter zu besuchen und wollte am 16.6.2017 und damit vor dem nächsten Verhandlungstermin nach Deutschland zurückkehren. Der Angeklagte war seit November 2011 mindestens 48-mal in die Türkei gereist. Auch seit 2015 hatte er sich mehrfach in der Türkei aufgehalten und war unbehelligt wieder ausgereist.

Das LG unterbrach die Hauptverhandlung und bestimmte einen Fortsetzungstermin auf den 22.6.2017, an dem der Angeklagte R.E. aufgrund seines noch andauernden Freiheitsentzugs nicht erscheinen konnte. Der türkische Rechtsanwalt des Angeklagten bestätigte telefonisch, dass der Angeklagte am 14.6.2017 in polizeilichen Gewahrsam genommen worden sei. Nach Verlesung verschiedener Vermerke über Gespräche mit Behörden, einer Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für die Provinz B. sowie teilweiser Übersetzung des ärztlichen Befundes der Mutter durch den Dolmetscher entschied das LG, dass in Abwesenheit des Angeklagten R.E. weiter verhandelt werde (§ 231 Abs. 2 StPO). Der Angeklagte sei der Verhandlung eigenmächtig fern geblieben, da es für ihn vorhersehbar gewesen sei, dass er in der Türkei verhaftet werden könnte. Er sei im Jahr 1995 aus politischen Gründen nach Deutschland gekommen und habe einen Asylantrag gestellt. Aufgrund der politischen Lage insbesondere in der Provinz B. hätte er erkennen können, dass er sich einem Inhaftierungsrisiko aussetzen würde. Demgegenüber sei die Erkrankung seiner Mutter, die keinen lebensbedrohlichen Charakter habe, nicht geeignet, das Verhalten des Angeklagten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Es lebten noch weitere elf Geschwister in der Türkei. Der Angeklagte habe seine Reisepläne dem Gericht auch nicht mitgeteilt. Eine Anwesenheit des Angeklagten sei auch nach dem Ermessen der Strafkammer nicht erforderlich, da die Beweisaufnahme weitgehend abgeschlossen sei und die Schlussvorträge kurz bevor stünden. Den im Anschluss an diese Entscheidung gestellten Antrag der Verteidigung, die Verhandlung auszusetzen, lehnte das LG ab. Im Verlauf der weiteren Hauptverhandlung verkündete es zudem mehrere ablehnende Beweisbeschlüsse und beschränkte die Strafverfolgung gegenüber beiden Angeklagten auf Antrag der Staatsanwaltschaft teilweise nach § 154a StPO.

Im Fortsetzungstermin vom 28.6.2017 hat das LG weitere Beweisanträge, auch einen erneuten Aussetzungsantrag des Angeklagten R.E.  sowie einen erstmaligen Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung durch die Angeklagte J.E. abgelehnt. Die hatte im Hinblick auf ihren Aussetzungsantrag im Wesentlichen vorgetragen, sie sei in ihrer Verteidigung beschränkt, da nur der Angeklagte R.E. auf die ablehnenden Beweisbeschlüsse habe reagieren können, da sie keine Kenntnisse über die vom Angeklagten R.E. benannten Zeugen und deren Einschaltung als Subunternehmer auf der Baustelle in G. gehabt habe.

Hinsichtlich der Revision des Angeklagten R.E. ist der BGH von einem Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO ausgegangen. Die Fortsetzung der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten habe gegen § 230 Abs. 1, 231 Abs. 2 StPO verstoßen:

„Die Fortsetzung der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten R. E. an den genannten Terminen verstößt gegen § 230 Abs. 1 StPO. Danach findet gegen einen ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht statt, es sei denn, dies ist nach § 231 Abs. 2 StPO ausnahmsweise zulässig. Nach dieser Vorschrift darf eine unterbrochene Hauptverhandlung ohne den Angeklagten zu Ende geführt werden, wenn er eigenmächtig ferngeblieben ist, d.h. ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt (BGH, Beschluss vom 19. November 2009 – 4 StR 276/09, BGHR StPO § 231 Abs. 2 Abwesenheit, eigenmächtige 16 Rn. 5; Urteil vom 30. November 1990 – 2 StR 44/90, BGHSt 37, 249, 251).

Eigenmächtig einem Fortsetzungstermin fern bleibt auch der Angeklagte, der sich schon vor dem angesetzten Termin wissentlich und ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund, d.h. ohne Not, in eine Lage begibt, die für ihn vorhersehbar mit dem erheblichen Risiko verbunden ist, zum angesetzten Termin an der Teilnahme der Hauptverhandlung gehindert zu sein. Dem eigenmächtigen Ausbleiben im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO steht es deshalb gleich, dass sich ein Angeklagter nach der Vernehmung zur Sache – vorher gilt § 231a StPO – in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt (BGH, Urteil vom 19. Februar 2002 – 1 StR 546/01, NStZ 2002, 533, 535 Rn. 14 mwN). Dem ist die Situation vergleichbar, dass ein Angeklagter während einer laufenden Hauptverhandlung in Deutschland im Ausland vorsätzlich eine Straftat von Gewicht begeht, bei deren Entdeckung er mit seiner Verhaftung rechnen muss, oder wenn ein in Deutschland vor Gericht stehender Angeklagter, der schon früher eine Straftat entsprechenden Gewichts im Ausland begangen hat, wegen der er – wie er weiß – auch mit seiner Verhaftung im Land des Tatorts rechnen muss, sich während des Laufs der gegen ihn gerichteten Hauptverhandlung ohne Not in jenes Land und dort in eine Situation mit hohem Verhaftungsrisiko begibt (BGH, Beschluss vom 7. November 2007 – 1 StR 275/07 Rn. 18, NStZ-RR 2008, 285).

Eine damit vergleichbare Situation hat der Angeklagte nach freibeweislicher Überprüfung (BGH, Beschluss vom 6. Juni 2001 – 2 StR 194/01, BGHR StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 24) nicht provoziert, da er nicht damit rechnen konnte, in der Türkei in Gewahrsam genommen bzw. verhaftet zu werden.

Der Angeklagte ist ausweislich seines Reisepasses seit 2011 insgesamt 48-mal in die Türkei ein- und wieder ausgereist. Es bestand daher für ihn kein Anlass, von einem möglichen Verhaftungsrisiko in der Türkei auszugehen. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Angeklagte im Jahr 1995 in Deutschland aufgrund politischer Verfolgung Asyl erhalten hat und die politische Lage in der Türkei seit 2015 angespannt ist. Der Angeklagte war seit 2015 einige Male unbehelligt nach B. zu seiner Familie gereist und konnte daher davon ausgehen, dass sich an diesem Zustand auch 2017 nichts geändert hatte. Dafür, dass der Angeklagte sich während dieses oder eines früheren Aufenthalts in der Türkei strafbar gemacht haben könnte, fehlen jegliche Anhaltspunkte.

Der Angeklagte hatte auch einen gewichtigen Grund für die Reise. Seine Mutter war erkrankt und wurde in die Intensivstation eines Krankenhauses eingewiesen. Es mag zwar sein, dass sich herausgestellt hat, dass die Mutter tatsächlich nicht lebensbedrohlich erkrankt war. Es war dem Angeklagten jedoch nicht zuzumuten, erst zuzuwarten und dann möglicherweise nicht rechtzeitig im Krankenhaus erscheinen zu können. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Angeklagte elf Geschwister hat, die sich um die Mutter hätten kümmern können.

Der Angeklagte war nicht verpflichtet, dem Gericht seine Reisepläne mitzuteilen oder seine Personalpapiere auszuhändigen (§§ 125, 116 Abs. 1 Satz 2 StPO). Mithin durfte er sich an den verhandlungsfreien Tagen an jedem Ort aufhalten. Dabei ist es auch unerheblich, dass das Gericht darauf hingewiesen hatte, dass sich die Verteidigung auf die Schlussvorträge vorbereiten solle, zumal der Angeklagte geplant hatte, am 16. Juni 2017, also vier Tage vor dem nächsten Verhandlungstag, nach Deutschland zurückzukehren.“

Die Entscheidung ist m.E. zutreffend. Der Begriff der „Eigenmacht“ i.S. des § 231 Abs. 2 StPO setzt ein Verschulden bzw. voraus, dass man dem Angeklagten sein Ausbleiben vorwerfen kann. Beides ist hier beim Angeklagten R.E. nicht der Fall gewesen. In dem Zusammenhang ist der Hinweis der Strafkammer auf die 11 Geschwister des Angeklagten, die sich um die totkranke Mutter, die auf die Intensivstation eingewiesen worden war, hätten kümmern können, in meinen Augen nur peinlich. Hier sollte offenbar ein Verfahren mit aller Macht zu Ende gebracht werden. Entsprechendes gilt für die Ablehnung des Aussetzungsantrags der Angeklagten J.E. Auch insoweit merkt man deutlich, dass es der Strafkammer um eine Beendigung des Verfahrens „ohne Rücksicht auf Verluste“ gegangen is. Daher ist es zutreffend, wenn auch die Revision dieser Angeklagten Erfolg hatte.

„Sie, Herr Angeklagter, gehen sie ruhig, wir brauchen Sie nicht“, oder: Die selbstgestrickte StPO

entnommen wikimedia.org Urheber Turris Davidica

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„Sie, Herr Angeklagter, gehen sie ruhig, wir brauchen Sie nicht.“, so oder so ähnlich hat offenbar der Vorsitzende einer Berufungskammer beim LG Berlin darauf reagiert, als er bemerkt hat, dass der Dolmetscher, der wegen der Sprachunkundigkeit des Angeklagten erforderlich war, in der Hauptverhandlung fehlte. Jedenfalls kann man das in etwa dem Verfahrensablauf entnehmen, den das KG seinem KG, Beschl. v. 10.04.2015 – (2) 121 Ss 58/15 (26/15) zugrunde gelegt hat:

„Der Angeklagte ist, nachdem er zur Anklage vernommen war, zum Fortsetzungstermin am 7. November 2014 erschienen. Nachdem das Gericht das Fehlen eines Dolmetschers bemerkt hatte, wurde der der deutschen Sprache nicht mächtige Angeklagte vom Vorsitzenden gefragt, ob er nicht bereit wäre, den Saal zu verlassen. Da der Angeklagte dies nicht verstand, wandte sich – mit Einverständnis des Vorsitzenden – die Nebenklagevertreterin in spanischer Sprache an den Angeklagten, der daraufhin den Saal verließ. Die Sitzung wurde um 8.59 Uhr ohne den Angeklagten fortgesetzt. Sodann wurde ein Gutachten (zu etwaigen Spermaspuren an der Kleidung der Nebenklägerin) auszugsweise verlesen. Danach ergänzte die Nebenklägerin ihren Adhäsionsantrag um einen weiteren Feststellungsantrag. Im Anschluss daran wurde die Sitzung um 9.05 Uhr beendet.“

Und es kommt, was kommen muss(te): Die Verfahrensrüge, die dann – was m.E. auch auf der Hand liegt – auch Erfolg hatte. Denn:

„a) Eine Fortsetzung ohne den Angeklagten gemäß § 231 Abs. 2 StPO war vorliegend nicht möglich. Denn dann hätte der Angeklagte der Hauptverhandlung eigenmächtig fern geblieben sein müssen. Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „Eigenmacht“ liegt vor, wenn der Angeklagte wissentlich und ohne Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe der weiteren Hauptverhandlung fern bleibt (vgl. BGH NJW 2011, 3249, 3252). Ein eigenmächtiges Ausbleiben ist dagegen zu verneinen, wenn der Angeklagte in dem Glauben ist, nicht zum Termin erscheinen zu müssen, etwa weil das Gericht ihm das Ausbleiben entweder gestattet oder den Anschein hervorgerufen hat, es sei mit seiner Abwesenheit einverstanden (vgl. BGHSt 37, 249, 252; 3, 187, 190; OLG Celle StraFo 2012, 140).

Angesichts des unwidersprochenen Vortrags der Revision ist vorliegend davon auszugehen, dass der Vorsitzende das Ausbleiben des Angeklagten nicht nur hingenommen, sondern – durch seine in Gestalt einer Frage formulierte Bitte – sogar selbst initiiert hat. Grund hierfür war offenkundig, dass an diesem Verhandlungstag kein Dolmetscher zugegen war und der Vorsitzende – zu Recht – eine Fortsetzung der Verhandlung scheute, da dies mit dem Anspruch des Angeklagten aus § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG unvereinbar gewesen wäre. Ebenso gesetzwidrig war es jedoch, die erforderliche Heranziehung eines Dolmetschers dadurch zu umgehen, den Angeklagten zu bitten, den Saal zu verlassen. Zwar war, nachdem der Angeklagte den Saal verlassen hatte, die Bestellung eines Dolmetschers überflüssig geworden. Doch war das Vorgehen des Vorsitzenden in keiner Weise mit dem Recht und der Pflicht des Angeklagten zur fortdauernden Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§§ 230 ff. StPO) in Einklang zu bringen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Angeklagte der „Anregung“ des Vorsitzenden letztlich widerspruchslos gefolgt ist und auch keiner der anderen Verfahrensbeteiligten – namentlich der Verteidiger und die Staatsanwältin –gegen eine solche Vorgehensweise Bedenken erhoben hätte. Es kann offen bleiben, ob – was indes fernliegt – darin eine stillschweigende Übereinkunft gesehen werden kann, ohne den Angeklagten zu verhandeln. Denn die Anwesenheitspflicht des Angeklagten steht grundsätzlich nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten; sie ist – vorbehaltlich einzelner, hier nicht einschlägiger Ausnahmeregelungen wie etwa §§ 231c, 233 StPO – einer „konsensualen Regelung“ von vornherein nicht zugänglich (vgl. BGH NJW 1973, 522; OLG Brandenburg StraFo 2015, 70; OLG Hamm StV 2007, 571).“

Sollte man als Vorsitzender einer Berufungsstrafkammer vielleicht auch selbst drauf kommen, oder: Muss ich mich so vom Revisionsgericht belehren lassen? Ich verstehe nun wirklich nicht. Man kann sich doch „seine StPO“ nicht selbst stricken.

Wer wiederkommt, muss das letzte Wort bekommen..

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Manche Entscheidungen überraschen mich, und zwar nicht wegen des Inhalts der Entscheidung, sondern wegen der zugrunde liegenden Verfahrenskonstellationen. Denn häufig kann man daraus nur den Schluss ziehen, dass dann manches, was eigentlich klar sein müsste, in der Praxis doch nicht so klar ist. So ist es mir mit dem OLG Stuttgart, Beschl., v. 02.02.2015 – 1 Ss 6/15 – ergangen. Da hatte das AG den Angeklagten verurteilt. Der legt Berufung ein. Am zweiten Berufungshauptverhandlungstag erscheint er nicht. Das LG beschliesst, die Hauptverhandlung nach § 231 Abs. 2 StPO wegen eigenmächtigen Ausbleibens des Angeklagten ohne diesen fortzuführen. Nach Schließung der Beweisaufnahme erhalten die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger das Wort. Danach wurde die HV um 10:22 Uhr unterbrochen und um 10:51 Uhr bei Anwesenheit aller Beteiligten einschließlich des inzwischen wieder erschienenen Angeklagten fortgesetzt. Ohne dem Angeklagten das letzte Wort zu erteilen und ohne dass dieser das Wort ergriffen hatte, verkündete das LG dann ein Urteil.

So geht es nicht, sagt das OLG Stuttgart. Denn:

„Die Fortsetzung der Verhandlung am 10. Oktober 2014 in Abwesenheit des Angeklagten gemäß § 231 Abs. 2 StPO enthob das Gericht nicht seiner Verpflichtung, dem vor Urteilsverkündung erschienenen Angeklagten gemäß § 258 Abs. 2 StPO das letzte Wort zu erteilen (BGH NStZ 1986, 372). Das Recht zur Ausübung des letzten Wortes hat der Angeklagte auch nicht dadurch verwirkt, dass er zuvor eigenmächtig der Verhandlung ferngeblieben ist. Es entspricht ständiger höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung, dass ein Angeklagter nach seiner Rückkehr in die Hauptverhandlung seine Stellung mit all seinen Rechten wieder einnimmt (BGH a.a.O. sowie NStZ 1990, 291; OLG Hamm NStZ-RR 2001, 334; siehe auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 231, Rn. 23; KK-Gmel, StPO, 7. Aufl., § 231, Rn. 12).

Dem Recht des Angeklagten auf das letzte Wort entspricht die Verpflichtung des Gerichts, nach § 258 Abs. 3 StPO dem Angeklagten von Amts wegen Gelegenheit zu ge¬ben, sich als letzter persönlich abschließend zur Sache zu äußern (BGH NJW 1963, 259). Das ist angesichts der Bedeutung dieses Rechts auch dann erforderlich, wenn das Gericht das Beweisergebnis schon abschließend beraten hat und zur Verkündung des Urteils bereit ist (BGH NStZ 1986 a.a.O.).

Zwar begründet die Nichterteilung des letzten Wortes die Revision nur dann, wenn und soweit das Urteil darauf beruht (§ 337 Abs. 1 StPO), wobei die bloße Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs genügt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337, Rn. 37 m.w.N.). Dieser kann nur in besonderen Ausnahmefällen ausgeschlossen werden (vgl. dazu BGH BeckRS 2014, 15076 m.w.N.). Die insoweit entwickelten Fallgruppen greifen vorliegend indes nicht durch. Insbesondere hat der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat nicht eingeräumt, weshalb nicht auszuschließen ist, dass er die Möglichkeit des letzten Wortes genutzt hätte, um Erklärungen abzugeben, die Anlass für weitere Beweiserhebungen oder eine andere Entscheidung hätten sein können.“

Wer zu spät (wieder)kommt, den bestraft das AG

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Manchmal ist es schon kurios/bemerkenswert, wie verfahren wird. Da wird im Bußgeldverfahren die Hauptverhandlung unterbrochen, damit der Verteidiger und der Betroffene einen Beweisantrag formulieren können. Die Unterbrechungsdauer wird auf 10 Minuten festgesetzt. Danach sind Verteidiger und Betroffener noch nicht wieder erschienen. Als das nach 13 Minuten immer noch nicht der Fall, verkündet das AG in Abwesenheit des Betroffenen sein Urteil und verurteilt ihn wegen einer Ord­nungswidrigkeit der Pflichtverletzung bei der Einfuhr von Geldmitteln zu einer Geld­buße von 2.000 €. Dagegen die Rechtsbeschwerde.

Und die konnte nur Erfolg haben, wie der OLG Bamberg, Beschl. v. 30.03.2012 – 3 Ss OWi 360/12 – deutlich macht. Denn man fragt sich – und das hat das OLG auch getan: Welche Vorschrift sieht eigentlich vor, dass der Amtsrichter in Abwesenheit des Betroffenen weiterverhandeln konnte.

  • § 231 Abs. 2 StpO i.V.M. § 71 OWiG? Das OLG sagt,: Nein, die Vorschrift ist im Bußgeldverfahren nicht anwendbar.Im Übrigen dürfet es wohl an der erforderlichen „Eigenmacht“ fehlen.
  • Das OLG untersucht dann die Verwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG? Da sieht das OLG die von der Rechtsprechung geforderte Wartefrist, die vor einer Verwerfungsentscheidung einzuhalten ist, nicht gewahrt. Frage: Ist es überhaupt ein Fall des § 74 Abs. 2 OWiG? Denn verworfen worden ist ja nicht.
  • Also bleibt nur § 74 Abs. 1 OWiG, – Verfahren in Abwesenheit. Da liegen die Voraussetzungen aber wohl nicht vor, weil der Betroffene ja nicht vom persönlichen Erscheinen entbunden war. Und „nicht erschienen“ sein muss er auch. Ist er das nach einer Verspätung von 3 Minuten schon.

Woran hat es nun gelegen, dass es zu der Entscheidung gekommen ist? Nun vielleicht an der frühen Terminsstunde. Die Hauptverhandlung wurde immerhin „um 08.42 Uhr“ unterbrochen: Vielleicht war der Amtsrichter noch nicht ganz wach. 🙂

Venire contra factum proprium – das gilt auch für das Gericht -, oder: Die erlaubte Eigenmacht

Folgender Sachverhalt:

Der Amtsrichter verkündet in der Hauptverhandlung am 23. 12. 2010 einen Beschluss, mit dem die Hauptverhandlung unterbrochen und ein Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 03.01.2011 anberaumt wird. Auf Nachfrage der Verteidigerin, wie die Anberaumung eines Verkündungstermins zu verstehen sei, antwortet der Vorsitzende, der Angeklagte brauche nicht zu erscheinen, das gelte auch für die Verteidigerin. An dem Hauptverhandlungstermin am 03.01.2011, in dem das Urteil verkündet worden ist, sind der Angeklagte und seine Verteidigerin nicht anwesend gewesen.

Der Angeklagte rügt das mit der Revision. Er sieht in der Verkündung des Urteils seiner Abwesenheit einen zum absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO führenden Verstoß gegen § 230 StPO. Die Voraussetzungen für eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nach § 231 Abs. 2 StPO hätten nicht vorgelegen. Es fehle an der dafür erforderlichen Eigenmächtigkeit der Abwesenheit, weil das Gericht dem Angeklagten das Erscheinen freigestellt habe. Auch die übrigen gesetzlichen Gründe für eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten lägen nicht vor.

Der OLG Celle, Beschl. v. 17.05.2011 – 32 Ss 47/11 – sagt dazu auf der Grundlage der Stellungnahme der GStA: Richtig. Denn:

Die Fortsetzung der Hauptverhandlung am 03.01.2011 ohne den Angeklagten war rechtsfehlerhaft. Eine unterbrochene Hauptverhandlung darf nur dann ohne den An­geklagten fortgesetzt werden, wenn dieser ihr eigenmächtig ferngeblieben ist, also ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesen­heitspflicht nicht genügt hat (BGHSt 37, 249, 251; 46, 81 ff.).

 Eigenmächtiges Handeln liegt unter anderem dann nicht vor, wenn dem Angeklagten in der mündlichen Verhandlung erklärt wird, bei seinem Nichterscheinen werde ohne ihn verhandelt (vgl. OLG Köln StV 1985, 50; OLG Bremen StV 1992, 558), wenn das Gericht ihm freigestellt hatte, ob er zu Fortsetzungsverhandlung erscheine (vgl. BGH StV 1987, 189; OLG Stuttgart NJW 1970, 343) oder wenn sich aus dem Verhalten des Gerichts ein Einverständnis mit dem Ausbleiben des Angeklagten entnehmen lässt (vgl. BGH NStZ 1989, 283).

 Dabei obliegt es nicht dem Angeklagten, glaubhaft zu machen, dass sein Ausbleiben nicht auf Eigenmächtigkeit beruht, diese ist ihm vielmehr nachzuweisen (BGHSt 10, 304, 305; 16, 178, 180). Es kommt auch nicht darauf an, ob das Gericht Grund zur Annahme hatte, der Angeklagte habe den Termin zur Fortsetzung der Hauptver­handlung vorsätzlich nicht wahrgenommen, sondern allein darauf, ob eine solche Eigenmächtigkeit im Sinne von § 231 Abs. 2 StPO tatsächlich vorlag (BGH StV 1981, 393, 394).

 Der Senat hat dabei selbständig, gegebenenfalls im Wege des Freibeweises, zu prüfen, ob die Eigenmächtigkeit auch noch im Zeitpunkt des Revisionsverfahrens nachgewiesen werden kann, ohne an die Feststellungen des Tatrichters gebunden zu sein (BGH NStZ 1999, 418; NStZ-RR 2001, 333).

 Ein solcher Nachweis für ein eigenmächtiges Fernbleiben des Angeklagten ist nicht zu führen.

 Ausweislich der eingeholten dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden Richters kann sich dieser an die Inhalte eines Gesprächs mit der Verteidigerin nicht mehr konkret erinnern; er vermag demzufolge die ihm zugeschriebene Äußerung nicht auszuschließen (Bl. 137 d.A.).

 Da die Verlesung der Urteilsformel nach § 268 StPO einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung darstellt (vgl. BGHSt 8, 41; 15, 263; 16, 178, 180; BGH NStZ 1989, 284; BGH NStZ-RR 2001,333;), ist die Verfahrensrüge begründet.“