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Ein Eichschein ist eine zu verlesende Urkunde, aber: Die Beruhensfalle schnappt zu

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Immer wieder wird in amtsgerichtlichen Entscheidungen betreffend Geschwindigkeitsüberschreitungen bzw. Abstandsunterschreitungen in den Feststellungen u.a. auf den Eichschein des verwendeten Messgeräts und/oder andere Urkunden Bezug genommen. So auch in dem dem OLG Bamberg, Beschl. v. 07.03.2018 – 3 Ss OWi 284/18 – zugrundeliegenden amtsgerichtlichen Urteil. Dazu meint das OLG Bamberg:

„In sachlich-rechtlicher Hinsicht beanstandet die Rechtsbeschwerde allerdings zu Recht, dass das AG rechtsfehlerhaft „wegen der Einzelheiten“ auf die bei den Akten befindlichen und jeweils das als ‚standardisiert‘ anerkannte verfahrensgegenständliche Abstands- und Geschwindigkeitskontrollsystems ‚VKS 3.0‘ betreffenden Eichscheine des Bay. Landesamts für Maß und Gewicht vom 24.01.2017 und des Landesamts für Mess- und Eichwesen Rheinland-Pfalz vom 17.11.2016 gemäß § 71 I i.V.m. § 267 I 3 StPO Bezug genommen hat.

a) Denn bei den Eichscheinen handelt es sich ebenso wie bei Konformitätsnachweisen, Messprotokollen, Schulungsnachweisen, der sog. ‚Lebensakte‘ Gerätstammkarte oder Videodistanzauswertungen um (regelmäßig zu verlesende) Urkunden i.S.v. § 249 StPO und gerade nicht um die Außenwelt unmittelbar wiedergebende Abbildungen i.S.v. § 267 I 3 StPO, weshalb eine Bezugnahme nach dieser Vorschrift ausscheidet; der Tatrichter hat diese Beweismittel vielmehr im Urteil in einer aus sich heraus verständlichen Form zu würdigen (vgl. zuletzt OLG Bamberg, Beschl. v. 07.08.2017 – 3 Ss OWi 996/17 = BA 55 [2018], 78 und OLG Hamm, Beschl. v. 11.05.2017 – 4 RBs 152/17 [bei juris]; ferner schon OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.11.2004 – 1 Ss [OWi] 210 B/04 = DAR 2005, 97 = StraFo 2005, 120 = NStZ 2005, 413; OLG Hamm, Beschl. v. 07.01.2009 – 3 Ss OWi 948/08 = NStZ-RR 2009, 151 = NZV 2009, 303 [Ls.] sowie OLG Schleswig, Beschl. v. 06.01.2011 – 1 Ss OWi 209/10 = VA 2011, 64; s. auch Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. [2017] § 71 Rn 42 ff. und Burhoff [Hrsg.]/Gieg HB OWi-Verfahren 5. Aufl. [2018] Rn. 144, jew. m.w.N.).“

Aber: Im Ergebnis bringt der Fehler nichts – die „Beruhensfalle“ schnappt zu:

„b) Jedoch greift die Beanstandung der Rechtsbeschwerde hier deshalb nicht durch, weil ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf dem festgestellten Rechtsfehler beruht (§ 337 I StPO). Denn zur Erfüllung der gebotenen sachlich-rechtlichen Darstellungsanforderungen bedurfte es der Mitteilung der gedanklichen Inhalte der Eichscheine oder gar einer Auseinandersetzung mit diesen im Urteil nicht.

aa) Erfüllt die Abstandsmessung – wie hier vom AG rechtsfehlerfrei festgestellt – die Voraussetzungen eines als ‚standardisiert‘ anerkannten Messverfahrens i.S.d. Rspr. des BGH (grundlegend BGHSt 39, 291/301 ff. = NJW 1993, 3081 = DAR 1993, 474 u. BGHSt 43, 277, 282 ff. = NJW 1998, 321 = MDR 1998, 214 = DAR 1998, 110) und ergibt sich aus den Gründen des Bußgeldurteils zweifelsfrei, dass die dem Betr. vorgeworfenen Geschwindigkeits- und Abstandswerte unter Vornahme des gebotenen Toleranzabzugs ermittelt wurden, stellt es für sich genommen grundsätzlich keinen sachlich-rechtlichen Mangel des Urteils i.S.v. § 71 I i.V.m. § 267 I StPO dar, wenn sich die Verurteilung hinsichtlich des Messvorgangs auf die Mitteilung des angewendeten Messverfahrens, die errechnete Geschwindigkeit des Betr. und die Länge des vorwerfbaren Abstandes zum vorausfahrenden Fahrzeug beschränkt. Die Angaben zum Messverfahren und zum Toleranzwert bilden somit die Grundlage einer ausreichenden, nachvollziehbaren Beweiswürdigung. Eine darüber hinausgehende ausdrückliche Erörterung weiterer tatsächlicher Voraussetzungen dieses vom Rechtsbeschwerdegericht anzulegenden Prüfungsmaßstabes im Urteil wäre daher überflüssig (vgl. neben BGH a.a.O. u.a. KG, Beschl. v. 12.11.2015 – 122 Ss 111/15 = NStZ-RR 2016, 27 = VRS 129 [2015], 155 = NZV 2016, 293 und v. 02.99.2015 – 3 Ws [B] 447/15122 Ss 125/15 sowie zuletzt OLG Bamberg, Beschl. v. 19.07.2017 – 3 Ss OWi 836/17 [bei juris] m. Anm. Krenberger, jurisPR-VerkR 25/2017 Anm. 6), sofern nicht ausnahmsweise aufgrund der Art des Verkehrsverstoßes weitere Feststellungen, beim Abstandsverstoß mit Blick auf seine Vorwerfbarkeit und bei Vorliegen eines substantiierten Einwands etwa zur sog. ‚Beobachtungsstrecke‘ und etwaigen außergewöhnlichen Fahrmanövern und hierdurch dem Betr. nicht vorwerfbare Abstandsunterschreitungen (z.B. unerwarteter Spurwechsel mit Einscheren eines überholenden Fahrzeugs oder plötzliches Abbremsen des Vorausfahrenden), geboten sind (Burhoff [Hrsg.]/Giega.O. Rn. 156, 158 ff. m.w.N.).

bb) Diesen Mindestanforderungen wird das angegriffene Urteil gerecht, weshalb es sowohl bei der Errechnung der Geschwindigkeit des Betr. als auch bei der hieraus abgeleiteten Bestimmung des Abstandes sogar keiner Mitteilung der Toleranzwerte mehr bedurft hätte, da ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass die nach der Gebrauchsanweisung des Herstellers vorgesehenen systemimmanenten Verkehrsfehlergrenzen bereits vom Rechenprogramm abgezogen und damit beim Ergebnis berücksichtigt wurden (st.Rspr.; vgl. [für ViBrAM-BAMAS] OLG Stuttgart NStZ-RR 2007, 382 = DAR 2007, 657 = VRR 2007, 475 [Krumm]; [für Brückenabstandsmessverfahren VAMA] OLG Bamberg ZfS 2013, 290 = VM 2013, Nr 30 = VRR 2013, 111 [Deutscher]; vgl. auch OLG Brandenburg VRS 108, 121 = DAR 2005, 162 und NStZ 2005, 413 [jew. für Geschwindigkeitsermittlungen mittels VIDISTA-R]; OLG Karlsruhe NZV 2007, 256; vgl. ferner schon BGHSt 39, 291/301 ff.; 43, 277/282 ff.; BayObLGSt 1993, 55/56 f sowie OLG Bamberg, Beschl. v. 19.7.2017 – 3 Ss OWi 836/17; OLG Bamberg NJW 2015, 1320 = NZV 2015, 309 = DAR 2015, 396 und OLG Bamberg, Beschl. v. 21.11.2016 – 3 Ss OWi 1394/16 = DAR 2017, 91; Burhoff[Hrsg.]/Gieg, a.a.O. Rn. 152, 154 ff. m.w.N.; Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 4 StVO Rn 26; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke a.a.O. § 4 StVO Rn 7; Gutt/Krenberger ZfS 2015, 664, 666).“

Beiziehung der Lebensakte – gibt es ein Rechtsmittel?

Wir haben in der letzten Zeit ja schon mehrfach über den Dauerbrenner: Akteneinsicht, insbesondere deren Umfang, im Bußgeldverfahren berichtet.

In dem Zusammenhang tut sich jetzt offenbar eine neue Streitfrage auf: Nämlich die Frage nach dem Rechtsmittel. Dazu nimmt jetzt das LG Lüneburg, Beschl. v. 19.07.2011 – 26 Qs 190/11 Stellung, das eine Entscheidung des AG Lüneburg v. 19.06.2011 bestätigt. Dort hatte der Verteidiger einen Antrag auf Beiziehung der Lebensakte (Wartungs-/Reparatur-/Eichschein) gestellt, den das AG abgelehnt hat. Dagegen wird „gemäß der §§ 62 Abs. 2 S. 2, 3 OWiG, 306 Abs. 1 StPO“ Beschwerde eingelegt.

Das LG Lüneburg hat die Beschwerde als unzulässig angesehen und das mit einem Hinweis auf § 305 Abs. 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG begründet. Es handele sich um eine der Urteilsfällung vorausgehende Entscheidung. Der Verteidiger erstrebe, dass im gerichtlichen Bußgeldverfahren die sogenannte „Lebensakte“  beigezogen werde. Dies solle  – vorbereitend – der Aufklärung des Sachverhalts dienen, der letztlich vom Gericht aufgrund durchzuführender Hauptverhandlung festzustellen sein werde. Das ist für das LG eine Anregung zur Beweisermittlung und die Ablehnung unterliege nicht dem Rechtsmittel der Beschwerde.

Leider setzt sich das LG nicht mit der Entscheidung des LG Ellwangen, über die wir hier auch vor einiger Zeit berichtet haben, auseinander. Das hatte die Frage – m.E. zu Recht – anders gesehen und die dort vom Verteidiger in einem vergleichbaren Fall eingelegte Beschwerde als zulässig angesehen.

In der Sache kann man dem Verteidiger in den Fällen nur empfehlen – unabhängig von der Frage des Rechtsmittels – seinen Antrag in der HV zu wiederholen, um so die Rechtsbeschwerde vorzubereiten (vgl. dazu hier).