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Haft I: Haftprüfung beim OLG dauert 5 Monate, oder: Berechtigte Klatsche vom BVerfG für das OLG Frankfurt

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Heute dann noch einmal/schon wieder ein Tag mit Haftentscheidungen, und zwar U-Haft und Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe.

An der Spitze steht BVerfG, Beschl. v. 21.09.2023 – 2 BvR 825/23 – zu (zu) langen = überlangen  Dauer des Haftprüfungsverfahrens beim OLG nach den §§ 121, 122 StPO. Das BVerfG sagt: Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens nach den §§ 121, 122 StPO verletzt den Beschuldigten in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.

Folgender Sachverhalt: Gegen den Beschuldigten ist ein Wirtschaftsstrafverfahren anhängig. Er befindet sich seit dem 30.06.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 13.12.2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten an das OLG Frankfurt am Main zum Zwecke der besonderen Haftprüfung und beantragte im Verfahren nach den §§ 121, 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten. Die Akten gingen am 28.12. 2022 beim OLG ein. Am Folgetag versandte der Vorsitzende des zuständigen Strafsenats eine Abschrift der Übersendungsverfügung an die Beteiligten und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 9.1.2023 beantragte der Beschuldigte die Aufhebung des Haftbefehls.

Der Beschuldigte hat dann mit Schreiben vom 29.03.2023 beim OLG um Mitteilung gebeten, bis wann mit einer Entscheidung über die U-Haft zu rechnen sei. Das OLG teilte daraufhin mit, dass der Berichterstatter längerfristig krankheitsbedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24.03.2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts „eigener“ vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde. Am 13.04.2023 stellte die zuständige Richterin in einem Aktenvermerk die Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine Corona-Erkrankung in ihrer Familie an.

Der Beschuldigte hat am 16.6.02033 Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gegen die Nichtentscheidung des OLG im Haftprüfungsverfahren eingelegt. Das OLG hat mit Beschluss vom 26.06.2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Beschuldigte hat seine Verfassungsbeschwerde mit der Maßgabe aufrechterhalten, festzustellen, dass ihn die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts bis zum 26.06.2023 in seinem Grundrecht auf Freiheit und auf effektiven Rechtsschutz verletze.

Und der Antrag hatte Erfolg. Das BVerfG hat die verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und die Rechtswidrigkeit der überlangen Haft(fortdauer) festgestellt.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

Zur Zulässigkeit verweist es darauf, dass der zwischenzeitlich – endlich – ergangene Haftfortdauerbeschluss des OLG der Zulässigkeit des Feststellungsantrags, auf den der Beschuldigte inzwischen umgestellt hat, nicht entgegenstehe. Der Beschuldigte habe ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis an der Feststellung, dass ihn die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt.

In der Sache sieht das BVerfG in der überlangen Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem OLG Frankfurt am Main den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz habe Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 GG besondere Bedeutung. Bei einem Haftprüfungsverfahren sei außerdem Art. 5 Abs. 4 EMRK zu berücksichtigen. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext

Und dann geht es zur Sache:

„2. Diesen Maßstäben ist das Oberlandesgericht nicht gerecht geworden, indem es bis zum 26. Juni 2023 eine Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren unterlassen hat.

a) Das Oberlandesgericht hat dadurch in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG eingegriffen. Die Verfahrensakten sind am 28. Dezember 2022 und damit vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zur Haftprüfung an das Oberlandesgericht gelangt. Nach Eingang der Stellungnahme des Beschwerdeführers am 9. Januar 2023 vergingen bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Haftfortdauer am 26. Juni 2023 mehr als fünf Monate. § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO sieht demgegenüber vor, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft weiter vorliegen, spätestens nach drei Monaten zu wiederholen ist. Zwar ruht gemäß § 121 Abs. 3 StPO der Fristenlauf des § 121 Abs. 1 StPO bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts, sodass dem Beschwerdeführer formell keine der in §§ 121, 122 StPO vorgeschriebenen Prüfungen verwehrt worden ist. Indem die Entscheidung des Oberlandesgerichts aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergangen ist, hat das Oberlandesgericht durch die überlange Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer faktisch nicht nur die gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO vorgesehene Sechsmonatsprüfung, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.

b) Die vom Oberlandesgericht angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Bei den in der Antwort auf die Sachstandsanfrage des Beschwerdeführers am 30. März 2023 angeführten und im Aktenvermerk vom 13. April 2023 festgehaltenen Gründen für die Nichtbearbeitung handelt es sich sämtlich um solche, die der Beschwerdeführer nicht zu vertreten hat und die nicht geeignet sind, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gilt für den Verweis der Richterin auf ihren bevorstehenden Urlaub und die Corona-Erkrankung in ihrer Familie ebenso wie für den Hinweis auf vorrangig zu bearbeitende „eigene“ Haftsachen. Dass die Richterin erst am 24. März 2023 für das Verfahren vertretungsweise zuständig wurde, rechtfertigt die Verzögerung ebenfalls nicht, weil es in der gerichtsinternen Sphäre liegt, dass auf die seit November 2022 bestehende Erkrankung eines Beisitzers erst im März reagiert wurde. Unabhängig davon sind von der Zuweisung des Verfahrens an die neue Richterin am 24. März 2023 bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts am 26. Juni 2023 noch einmal mehr als drei Monate vergangen. Damit hat das Oberlandesgericht versäumt, dem Recht des Beschwerdeführers auf Durchführung der besonderen Haftprüfung nach § 122 StPO praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener Zeit gewährt hat.“

In meinen Augen: Das Verhalten/Vorgehen des 1. Strafsenats des OLG Frankfurt am Main ist Ungeheuerlich und dreist und das Ganze ein Armutszeugnis für die (hessische) Justiz, oder besser für die Strafjustiz beim OLG Frankfaurt am Main.

Denn man mag es nicht glauben, wenn man es liest. Da dauert ein Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO beim OLG Frankfurt am Main mehr als fünf Monate, also fast so lange, wie U-Haft ohne besondere Haftprüfung durch das OLG nach der StPO überhaupt dauern darf. Und das versucht man dann damit zu entschuldigen, dass der Berichterstattet länger erkrankt sein. Dem kann man nur entgegenhalten, was das BVerfG – mit wohl gesetzten Worten – auch tut: Das ist dem Beschuldigten völlig egal und die Justiz hat dafür zu sorgen, dass dann eben Ersatz zur Verfügung steht. Und die Vertreterin des erkrankten Berichterstatters geht dann, nachdem sie nach drei Monaten – da stand im Grunde die 9-Monats-Prüfung schon an (!!) – die Sache endlich übernommen hat, erst mal in Urlaub und schiebt eigene – offenbar wichtigere, vielleicht aber auch noch ältere (?) – Haftsachen vor, die eine zeitnahe – nach drei Monaten? – Bearbeitung nicht möglich machen. Und – zum Glück, ich weiß, das klingt zynisch – gibt es dann noch eine Corona-Erkrankung in der Familie, die man auch vorschieben kann. Erst als dann der Beschuldigte bereits Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, bequemt der Senat sich dann im Juni 2023 endlich zu entscheiden; man hat wegen des zeitlichen Zusammentreffens mit der Verfassungsbeschwerde ein wenig den Eindruck in der Hoffnung, dass das BVerfG die dann als erledigt ansieht. Aber mitnichten. Das BVerfG geht von einem fortdauernden Feststellungsinteresse aus und entscheidet zu Gunsten des Beschuldigten. Und man kann dem Beschluss m.E. deutlich anmerken, dass das Verfassungsgericht „not amused“ ist. Und das mit Recht. Denn das Verhalten und die mehr als zögerliche Bearbeitung des Verfahrens durch das OLG Frankfurt am Main ist – mit Verlaub – dreist und ungeheuerlich, wenn man berücksichtigt, dass es um das Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten geht. Bei solchem Verhalten muss man sich über die immer weiter zunehmende mangelnde Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen nicht wundern.

Der Zorn und das Unverständnis richten sich aber nicht nur gegen den lethargischen 1. Strafsenat des OLG Frankfurt am Main, sondern auch gegen die Verwaltung des OLG, die „ihren Laden offenbar nicht im Griff hat“ und auch gegen das hessische Justizministerium, das solche Verfahrensabläufe, wenn man die Vorgaben der StPO ernst nimmt bzw. ernst nehmen würde, zu verhindern hat/hätte. In meinen Augen ein Versagen der Justiz auf ganzer Linie.

News: Unzulässige Verfassungsbeschwerde zu Encro, oder: (Mal wieder) Nichts Neues vom BVerfG

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Ich hatte ja vorhin in dem ersten Tagesbeitrag auf die heute anstehende Entscheidung des BVerfG hingewiesen. Nun ist der BVerfG, Beschl. v. 09.08.2023 – 2 BvR 558/22 – dar. Und: Er ist enttäuschend. Und zwar sowohl für diejenigen, die „gegen EncroChat“ verteidigen, sondern vor allem auch für diejenigen,die sich vom BVerfG eine Klärung der Frage der Verwertbarkeit erhofft hatten. Denn das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des LG Rostock und gegen den BGH, Beschl. v. 08.02.2022 – 6 StR 639/21 – nicht zur Entscheidung angenommen, weil nicht ausreichend begründet.

Ich verweise wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltext und stelle hier nur die Zusammenfassung des BVerfG in der PM ein. Da heißt es:

„Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

1. Hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 7 und Art. 8 GRCh hat der Beschwerdeführer den Subsidiaritätsgrundsatz nicht gewahrt.

Danach soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden. Im Strafverfahren verlangt der Grundsatz der Subsidiarität von einem Beschwerdeführer, der seine Grundrechte durch Verstöße des Tatgerichts verletzt sieht, diese im Revisionsverfahren so zu rügen, dass das Revisionsgericht in eine sachliche Prüfung der Rüge eintritt.

Vorliegend hat der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 7 und Art. 8 GRCh nicht in zulässiger Weise mit der Revision gerügt. Er hat im Revisionsverfahren zu den Verfahrenstatsachen nicht ausreichend vorgetragen, um dem Revisionsgericht den Eintritt in die sachliche Prüfung der Beweisverwertung zu ermöglichen. Seinem Revisionsvortrag fehlt es insoweit an der Vorlage der vom Beschwerdeführer in Bezug genommenen Aktenteile.

2. In Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung nicht substantiiert dargetan.

Ein Rechtsuchender kann seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden, dass ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht außer Acht lässt. Die Nichteinleitung eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) kann eine der einheitlichen Auslegung bedürftige Frage des Unionsrechts der Entscheidung des gesetzlichen Richters – des Gerichtshofs der Europäischen Union – vorenthalten und damit das Ergebnis der Entscheidung beeinflussen. Für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV prüft das Bundesverfassungsgericht nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.

Eine solche Konstellation vermag der Beschwerdeführer nicht aufzuzeigen. Es ist anhand des Beschwerdevortrags nicht erkennbar, dass der Bundesgerichtshof in unvertretbarer Weise von einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union abgesehen hat. Die Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union war offensichtlich nicht entscheidungserheblich. Die Beantwortung von europarechtlichen Fragen zur Rechtmäßigkeit der Erhebung, Übermittlung und Verwertung von EncroChat-Daten konnte keinen Einfluss auf die Revisionsentscheidung nehmen, weil der Bundesgerichtshof über die Rechtmäßigkeit der Beweisverwertung vorliegend nicht zu entscheiden hatte. Denn der Beschwerdeführer hat die Beweisverwertung durch das Landgericht mit der Revision nicht in zulässiger Weise gerügt.

3. Über die mit der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen ist damit in der Sache nicht entschieden.“

Entscheidend ist der letzte Satz: „…. in der Sache nicht entschieden.“. Die Frage der Verwertbarkeit bleibt also weiterhin (verfassungsrechtlich) offen. Allerdings sind derzeit fünf weitere Verfassungsbeschwerden zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten noch anhängig, und zwar 2 BvR 684/22, 2 BvR 1832/22, 2 BvR 2143/22, 2 BvR 64/23 und 2 BvR 1008/23). Nicht zur Entscheidung angenommen sind übrigens mit sieben weiteren, nicht veröffentlichten Beschlüssen vom 09.08.2023 die Verfassungsbeschwerden in den Verfahren a BvR 2005/22, 2 BvR 2022/22, 2 BvR 2024/22, 2 BvR 2025/22, 2 BvR 2048/22, 2 BvR 594/23 und 2 BvR 867/23. Wegen der noch offenen Verfassungsbeschwerden geht das Warten also weiter. M.E. ein zumindest unschöner Zustand. Ich erinnere aber nur an das Verfahren 2 BvR 1167/20 – Stichwort: Rohmessdaten. Da hat das BVerfG letztlich auch gekniffen und hat sich auf die Unzulässigkeit zurückgezogen. Das scheint der „neue Weg“ zu sein.

Und: Mit dieser Entscheidung ist der Weg zum EuGH/EGMR „aufgegraben“.

News: Das BVerfG und die Rohmessdaten, oder: Für diese Absage braucht man drei Jahre, lächerlich

    Smiley

Da ist sie also nun. Die lange erwartete Entscheidung des BVerfG in 2 BvR  1167/20.

Wer sich allerdings davon etwas erhofft hatte, wird bitter enttäuscht  Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Für mich das Ärgernis des Monats, wenn nicht des Jahres. Ich frage mich, warum man dafür drei Jahre braucht. BVerfG eben. Mia san mia (?).

Ich stelle hier jetzt nur die PM ein, da ich im Moment im Zug bin. Die lautet:

„Erfolglose Verfassungsbeschwerde wegen fehlender „Rohmessdaten“ bei Geschwindigkeitsmessung

Pressemitteilung Nr. 68/2023 vom 14. Juli 2023

Beschluss vom 20. Juni 2023
2 BvR 1167/20

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich der Beschwerdeführer gegen die gerichtliche Festsetzung eines Bußgeldes wegen einer vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung wendet. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts wurde die Geschwindigkeitsmessung mit Hilfe des von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) zugelassenen mobilen Geschwindigkeitsmessgeräts des Typs Leivtec XV3 durchgeführt. Der Beschwerdeführer sieht sich insbesondere in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) folgenden Recht auf ein faires Verfahren verletzt, weil das eingesetzte Messgerät keine sogenannten „Rohmessdaten“ speichere und damit im Bußgeldverfahren ein nicht überprüfbares Geschwindigkeitsmessergebnis verwertet worden sei.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung nicht hinreichend substantiiert darlegt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Betroffene in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren grundsätzlich einen Anspruch auf Zugang auch zu bei der Bußgeldbehörde vorhandenen, aber nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen. Der Beschwerdeführer meint jedoch, der aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierende Gedanke der Waffengleichheit gebiete es darüber hinaus, dass die zuständigen Behörden nur Geräte einsetzen, die sogenannte „Rohmessdaten“ erheben. Er legt insofern aber nicht substantiiert dar, dass aus dem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf ein faires Verfahren auch eine staatliche Pflicht folgt, potentielle Beweismittel zur Wahrung von Verteidigungsrechten vorzuhalten beziehungsweise zu schaffen.

Mit ebenfalls am heutigen Tag veröffentlichten Beschlüssen hat die 2. Kammer des Zweiten Senats zwei ähnlich gelagerte Fälle entschieden, in denen Geschwindigkeitsmessgeräte der Typen PoliScan M1 HP (Az. 2 BvR 1082/21) und TraffiStar S350 (Az. 2 BvR 1090/21) zum Einsatz kamen.

Sachverhalt:

 Mit Bußgeldbescheid vom 26. März 2019 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen einer vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße festgesetzt. Hiergegen legte der Beschwerdeführer Einspruch ein und beantragte gegenüber dem zuständigen Amtsgericht unter anderem die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass bei dem zum Einsatz gekommenen Messgerät des Typs Leivtec XV3 die Möglichkeit ausgeschlossen sei, die Messung durch ein Sachverständigengutachten überprüfen zu lassen, sodass die Anerkennung als standardisiertes Messverfahren nicht mehr in Betracht komme. Zur Begründung führte er aus, dass das Messgerät die Rohmessdaten beziehungsweise die Messdaten der gesamten Messung nicht speichere; dadurch werde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit genommen, die bestehenden hohen Anforderungen an einen Vortrag zu Messfehlern zu erfüllen. Das Amtsgericht lehnte den Beweisantrag ab und verurteilte den Beschwerdeführer mit angegriffenem Urteil vom 10. Januar 2020 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h zu einer Geldbuße in Höhe von 105 Euro. Die festgestellte Ordnungsmäßigkeit der Geschwindigkeitsmessung begründete das Amtsgericht im Wesentlichen damit, dass die Messung durch den Messbeamten mit dem von der PTB zugelassenen mobilen Geschwindigkeitsmessgerät des Typs Leivtec XV3 durchgeführt worden sei. Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung handele es sich hierbei um ein standardisiertes Messverfahren. Die Beweisaufnahme habe im Ergebnis keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung ergeben. Den hiergegen eingelegten Beschwerdezulassungsantrag des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 28. Mai 2020.

 Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Ihre Begründung lässt eine Verletzung von Rechten des Beschwerdeführers nicht erkennen.

1. Der Beschwerdeführer legt die gerügte Verletzung in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Recht auf ein faires Verfahren nicht hinreichend dar.

a) Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist.

b) Die geringeren Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte nach der Rechtsprechungspraxis zu sogenannten standardisierten Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen genügen diesen Anforderungen an ein faires Verfahren, wobei der Betroffene grundsätzlich einen Anspruch auf Zugang zu den bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen hat.

aa) Das Bundesverfassungsgericht hat bereits festgestellt, dass es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist, wenn Fachgerichte in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht im Fall eines standardisierten Messverfahrens ausgehen. Bei einem standardisierten Messverfahren handelt es sich um ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf derart festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind. Regelmäßig werden technische Messsysteme, deren Bauart von der PTB zur Eichung zugelassen ist, von den Gerichten als standardisierte Messverfahren insbesondere bei Geschwindigkeitsmessungen anerkannt. Kommt bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geringere Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte zu stellen. Das Tatgericht muss sich bei der Berücksichtigung der Ergebnisse von Geschwindigkeitsmessgeräten bewusst sein, dass Fehler nicht auszuschließen sind, und es hat diesem Umstand durch die Berücksichtigung von Messtoleranzen Rechnung zu tragen. Davon abgesehen ist das Tatgericht nur dann gehalten, das Messergebnis zu überprüfen und sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind. Dabei bleibt der Anspruch des Betroffenen, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, gewahrt, wenn ihm die Möglichkeit eröffnet ist, das Tatgericht im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen.

bb) Um dem aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierenden Gedanken der „Waffengleichheit“ hinreichend Rechnung zu tragen, hat der Betroffene in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren einen Anspruch auf Zugang auch zu den bei der Bußgeldbehörde vorhandenen, aber nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen.

Dabei gilt das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten allerdings nicht unbegrenzt, weil andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs bestünde. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte haben im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das den Geschwindigkeitsverstoß betreffende Zugangsgesuch der Verteidigung in Bezug auf die angeforderten Informationen innerhalb dieses Rahmens hält.

c) Vorliegend zeigt der Beschwerdeführer nicht die Möglichkeit auf, durch das Urteil des Amtsgerichts in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt zu sein.

Zwar ist denkbar, dass der Beschwerdeführer aus Gründen der verfassungsrechtlich gebotenen „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen in einem Bußgeldverfahren andererseits auch Zugang zu ? zwar nicht in der Bußgeldakte, aber bei der Bußgeldbehörde ? vorhandenen Informationen verlangen kann. Ob auch die vom Beschwerdeführer bezeichneten „Rohmessdaten“ zu diesen herauszugebenden Informationen zählen können, haben die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte im Einzelfall zu entscheiden.

Der Beschwerdeführer schlussfolgert jedoch, der aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierende Gedanke der Waffengleichheit gebiete es darüber hinaus, dass die zuständigen Behörden nur Geräte einsetzen, die sogenannte „Rohmessdaten“ erheben. Damit verlangt er ein Mehr im Vergleich zur bloßen Herausgabe von vorhandenen Informationen, weil nach seinem Vorbringen auch die Bußgeldbehörde nicht im Besitz der von ihm bezeichneten „Rohmessdaten“ ist. Der Beschwerdeführer legt insofern nicht substantiiert dar, dass aus dem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf ein faires Verfahren auch eine staatliche Pflicht folgt, potentielle Beweismittel zur Wahrung von Verteidigungsrechten vorzuhalten beziehungsweise zu schaffen.

 Der Beschwerdeführer versäumt es insoweit auch, sich mit den Maßstäben und Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 12. November 2020 (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -) hinreichend auseinanderzusetzen. Er hätte an die dortigen Ausführungen anknüpfen und darlegen müssen, dass die dort genannten verfassungsrechtlichen Maßstäbe von Verfassungs wegen fortzuentwickeln seien. Denn er stützt sein Vorbringen auf ein von ihm für verfassungsrechtlich geboten gehaltenes Recht auf Vorhaltung beziehungsweise Schaffung von Beweismitteln und damit auf eine Veränderung der Anforderungen an ein standardisiertes Messverfahren. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu standardisierten Messverfahren bei Geschwindigkeitsmessungen konstatiert jedoch lediglich ein Recht auf erweiterten Zugang zu vorhandenen Informationen und dies auch nicht unbegrenzt, sondern abhängig von dem jeweiligen Einzelfall.

 In Anbetracht der nicht hinreichenden rechtlichen Substantiierung kommt es nicht mehr darauf an, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers auch in tatsächlicher Hinsicht den Begründungsanforderungen nicht genügen dürfte. Dies gilt insbesondere für seine Tatsachenbehauptungen zu den Daten, die das bei der verfahrensgegenständlichen Geschwindigkeitsmessung eingesetzte Messgerät des Typs Leivtec XV3 nach seinen Angaben infolge eines Gerätesoftware-Updates nicht mehr abspeichere beziehungsweise die das Gerät seines Erachtens zukünftig speichern müsse. Hinzu kommen die offenkundigen tatsächlichen Unsicherheiten im Hinblick auf die Relevanz von „Rohmessdaten“ für die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschwerdeführers.

 Angesichts dieses Befundes zeigt der Beschwerdeführer nicht substantiiert auf, dass das Amtsgericht ? bestätigt durch das Oberlandesgericht ? vorliegend gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen haben könnte, indem es die angegriffene Verurteilung auf eine Geschwindigkeitsüberschreitung stützte, die im Wege eines (zum damaligen Zeitpunkt) anerkannten standardisierten Messverfahrens ermittelt worden war. Dass das Amtsgericht dabei rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben haben könnte, kann auf dieser Grundlage im Rahmen der gebotenen Gesamtschau auf das Verfahrensrecht nicht festgestellt werden.

Schließlich fehlt es mangels substantiierten Vortrags des Beschwerdeführers an tatsächlichen Anhaltspunkten für eine staatlich veranlasste willkürliche Beeinträchtigung seiner Verteidigungsmöglichkeiten oder für eine sonstige Verletzung der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Pflicht zur Objektivität von Verwaltung und Justiz durch eine reduzierte Vorhaltung
oder Schaffung bestimmter Daten, die aus Sicht des erkennenden Fachgerichts einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens begründen könnte.

2.Das Vorbringen des Beschwerdeführers zu der von ihm gerügten Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie seiner Rechte auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) bleibt offensichtlich unsubstantiiert.“

Lächerlich. Vor allem, dass man dafür drei Jahre gebraucht hat. BVerfG eben. Mia san mia (?).

M E. ist jetzt endlich der Gesetzgeber gefordert, die Fragen zu klären. Aber will/kann man das von dem derzeitigen Bundesjustizminister oder – noch schlimmer – Bundesverkehrsminister erwarten? Eher nicht. Also geht die Praxis der OLG weiter. Jetzt wird erst recht verworfen.

Was Sie im Hintergrund knallen hören, sind übrigens keine Fahrgeräusche der Bahn. Nein, das sind die Sektkorken  bei der PTB.

Und sorry wegen der Verspätung. Aber auch egal. Das BVerfG hat drei Jahre gebraucht.

StPO I: Die Unzulässigkeit einer Durchsuchung, oder: Keine Frage nach der Funktion des Nachtbriefkastens?

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Heute stelle ich drei Entscheidungen in Zusammenhang mit (Zwangs)Maßnahmen im Strafverfahren vor, also StPO.

Ich beginne mit „ganz oben“, also mit dem BVerfG. Das hat sich im BVerfG, Beschl. v. 19.04.2023 – 2 BvR 1844/21 – mal wieder zur Zulässigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme geäußert bzw. äußern müssen.

Ergangen ist der Beschluss in einem gegen den Beschuldigten angestrengten Ermittlungsverfahrens war der Vorwurf der falschen Versicherung an Eides statt. Der Beschuldigte hatte vor dem AG Passau – Familiengericht – eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz erwirkt, deren Wirksamkeit bis zum 06.01.2021 befristet war. In der Nacht vom 06. auf den 07.01.2021 warf der Beschuldigte seinen schriftlichen Antrag auf Verlängerung der Gewaltschutzanordnung in den Nachtbriefkasten des AG. Dieser wurde am folgenden Tag geleert. Da die Antragsschrift in das Fach gefallen war, in das alle nach 24:00 Uhr eingeworfenen Schreiben gelangten, erhielt der Schriftsatz den Eingangsstempel des 07.01.2021. Das AG wies den Beschuldigten in der Folge darauf hin, dass sein Antrag verspätet, da nach Ablauf der Gewaltschutzanordnung, bei Gericht eingegangen sei.

Der Beschuldigte legte daraufhin eine Videodatei vor, von der er erklärte, sie zeige ihn beim Einwurf des Schreibens in den Nachtbriefkasten. Im Hintergrund sei das Radio seines Wagens zu hören. Ein Abgleich mit dem Programm des Senders ergebe, ebenso wie der Zeitstempel des Videos, dass er sein Schreiben am 06.01.2021, um 21:21 Uhr, in den Briefkasten eingeworfen habe.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Familiengericht gab der Beschuldigte eine eidesstattliche Versicherung ab, in der er erklärte, er habe die Antragsschrift am 06.01.2021, vor 24:00 Uhr, in den Nachtbriefkasten des AG eingeworfen.

Das AG wies den Antrag mit Beschluss vom 11.03.2021 ab. Er sei verspätet eingegangen. Dies zeige der Eingangsstempel der Poststelle. Die eidesstattliche Versicherung und das von dem Beschuldigten vorgelegte Video könnten diesen nicht widerlegen. Der Beschuldigte habe offenbar versucht, Beweise zur Verschleierung des Eingangszeitpunktes herzustellen.

Der Antragsgegner in dem Verfahren vor dem Familiengericht erhob Strafanzeige gegen den Beschuldigten wegen falscher Versicherung an Eides statt (§ 156 StGB). Die Staatsanwaltschaft Passau kontaktierte am 15.03.2021 die Wachtmeisterei des AG. Telefonisch teilte diese mit, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Nachtbriefkasten nicht einwandfrei gearbeitet haben könnte. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das AG Passau am 16.04.2021 zwei Durchsuchungsbeschlüsse. Angeordnet wurde zum einen die Durchsuchung des Elternhauses und – nach dessen Angaben – der Hauptwohnung des Beschuldigten, zum anderen der von ihm in jedem Fall tatsächlich bewohnten Nebenwohnung in Passau. Nur der letztgenannte Beschluss ist Gegenstand dieses Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Das LG hat die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss als unbegründet verworfen.

Die Verfassungsbeschwerde hatte (teilweise) Erfolg:

„3. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie offensichtlich begründet. Die im Tenor genannten fachgerichtlichen Entscheidungen verletzten das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG).

a) Art. 13 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Der Schutzbereich, auch in persönlicher Hinsicht, ist vorliegend eröffnet.

Der hier angegriffene Beschluss des Amtsgerichts (Gs 909/21) bezieht sich nicht auf das Elternhaus des Beschwerdeführers, hinsichtlich dessen zweifelhaft ist, ob es sich tatsächlich um die Wohnung des Beschwerdeführers handelt, sondern auf die Wohnung des Beschwerdeführers in Passau, die dieser ohne Zweifel bewohnte. Ein weiterer Durchsuchungsbeschluss (Gs 910/21), der sich auf das Elternhaus des Beschwerdeführers bezieht, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

b) In die durch Art. 13 1 GG grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 42, 212 <219>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>). Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG wird nicht schrankenlos gewährleistet. Art. 13 Abs. 2 GG ermöglicht Durchsuchungen der Wohnung, wenn dies gesetzlich zugelassen ist und von dem Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch im Gesetz bestimmte andere Organe angeordnet wurde. Im Strafprozess gestattet § 102 StPO die Durchsuchung der Wohnung bei dem Beschuldigten. Die Voraussetzungen dieser gesetzlichen Rechtsgrundlage liegen aber in einer Verfassungsrecht verletzenden Weise nicht vor.

(1) Ein Ermittlungsmaßnahmen rechtfertigender Anfangsverdacht lag dabei noch vor. Es bestanden auf konkreten Tatsachen beruhende Anhaltspunkte (vgl. BVerfGE 44, 353 <371 f.>; 115, 166 <197 f.>; BVerfGK 2, 290 <295>; 5, 84 <88>) für die Begehung einer Straftat. Es sind diesbezüglich keine Fehler erkennbar, die auf objektive Willkür oder auf eine grundsätzlich unrichtige Anschauung des Grundrechts des Beschwerdeführers schließen lassen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 ff.>; 95, 96 <128>; 115, 166 <199>; BVerfGK 5, 25 <30 f.>). Der Beschwerdeführer gab eine eidesstattliche Versicherung ab, die dem Eingangsstempel des Familiengerichts inhaltlich widersprach und das Familiengericht sah diese als unglaubhaft an. Diese Umstände tragen den weitere Ermittlungen rechtfertigenden Anfangsverdacht, es sei eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben worden.

(2) Auch ist anzunehmen, dass eine Durchsuchung grundsätzlich geeignet war, Beweismittel zu finden. Die nach der Lebenserfahrung begründete Vermutung, bei dem Beschuldigten könnten die gesuchten Beweisgegenstände grundsätzlich aufzufinden sein (vgl. BVerfGK 1, 126 <132>; 15, 225 <241>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Januar 2016 – 2 BvR 1361/13 -, Rn. 13), wurde vorliegend nicht entkräftet. Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer ab einem bestimmten Zeitpunkt Kenntnis von den Ermittlungen und angedeutet hatte, er werde sich eventueller Beweismittel entledigen, erschüttert diese Vermutung nicht. Es handelte sich vorliegend erkennbar um eine Schutzbehauptung, die der Beschwerdeführer in den Raum stellte, um sich weiteren Ermittlungsmaßnahmen zu entziehen.

(3) Die Anordnung der Durchsuchung war aber unverhältnismäßig, denn sie war nicht erforderlich. Mildere Ermittlungsmaßnahmen, die den Verdacht wohl auch zerstreut hätten, drängten sich geradezu auf und wurden unterlassen.

(a) Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss mit Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 42, 212 <220>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>; 115, 166 <198>). Hierbei sind auch die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des auf die verfahrenserheblichen Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu bewerten (vgl. BVerfGE 115, 166 <197>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2019 – 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19 -, Rn. 25). Dabei ist es grundsätzlich Sache der ermittelnden Behörden, über die Zweckmäßigkeit und die Reihenfolge vorzunehmender Ermittlungshandlungen zu befinden. Ein Grundrechtseingriff ist aber jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn naheliegende, grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die vorgenommene Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des in diesem Verfahrensabschnitt vorliegenden Tatverdachts steht (BVerfGK 11, 88 <92>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2018 – 2 BvR 2993/14 -, juris, Rn. 25).

(b) Aufgrund der Besonderheiten des hier zur Entscheidung stehenden Sachverhalts standen den Ermittlungsbehörden zwei sehr naheliegende, grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung, die sich vor einer Durchsuchung durchzuführen aufgedrängt hätten.

(aa) Naheliegend und jedenfalls grundrechtsschonender wäre es vorliegend gewesen, zunächst nicht nur das störungsfreie Funktionieren, sondern auch die exakte Handhabung des Nachtbriefkastens und die Besetzung der Wachtmeisterei durch Befragung der Leitung und des diensthabenden Personals der Wachtmeisterei zu erhellen. Diese Befragung hätte ergeben, dass die Wachtmeisterei am 6. Januar 2021 nicht besetzt gewesen war und dass – im Ergebnis – der Nachtbriefkasten keinen Aufschluss darüber geben konnte, ob ein Schreiben am 6. Januar 2021 oder am 7. Januar 2021 einging. Dies ist in der Regel wegen § 193 BGB beziehungsweise § 222 Abs. 2 ZPO unerheblich, da Fristen üblicherweise nicht an Feiertagen enden. Der vorliegende Fall weist aber die Besonderheit auf, dass das Familiengericht der Auffassung war, dass die einzuhaltende Frist ausnahmsweise an einem Feiertag, 24:00 Uhr, endete. Diese Besonderheit drängt sich vorliegend auf und hätte die Ermittlungsbehörden dazu auffordern müssen, die Besetzung der Wachtmeisterei und die Handhabung des Nachtbriefkastens genau nachzuvollziehen.

(bb) Daneben hätte es sich aufgedrängt, zunächst einmal die von dem Beschwerdeführer dem Familiengericht vorgelegte Videodatei darauf zu überprüfen, ob Hinweise für eine Manipulation vorlagen. Die Datei war bereits aktenkundig. Eine Analyse wäre ohne großen Zeitverlust möglich gewesen. Die Auswertung hätte die Ermittlungen nicht in den Ermittlungszweck gefährdender Weise verzögert. Hätte sich bei der Analyse ergeben, dass, um eine sichere Aussage zu treffen, auch die Aufnahmegeräte hätten ausgelesen werden müssen, so wäre eine Durchsuchung immer noch möglich gewesen.“

Vollzug I: Verfassungswidrige Gefangenenvergütung, oder: Bis zum 30. Juni 2025 muss etwas passieren

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Und heute dann ein Vollzugstag.

Den beginne ich zu dem Theman (natürlich) mit dem BVerfG, Urt. v. 20.06. 2023 – 2 BvR 166/16 u. 1683/17 – zur Gefangenenvergütung.  Mit dem Urteil hat das BVerfG zwei Strafgefangenen Recht gegeben, die Freiheitsstrafen in der JVA Straubing in Bayern und in der JVA Werl in Nordrhein-Westfalen verbüßen. Der eine arbeitete in einer anstaltseigenen Druckerei, der andere als Kabelzerleger in einem entsprechenden Betrieb. Beide hatten jeweils eine Erhöhung ihres Arbeitsentgelts beantragt. Sowohl die JVA Straubing und als auch die JVA Werl lehnten die Anträge ab. Die von den beiden Gefangenen dagegen vor den Fachgerichten eingelegten Rechtsbehelfe blieben erfolglos. Ihre Verfassungsbeschwerden waren hingegen erfolgreich..

Hier die Leitsätze zu der Entscheidung des BVerfG: