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Freispruch vom Vergewaltigungsvorwurf, oder: Aussage-gegen-Aussage

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In einem beim LG Zweibrücken anhängigen Verfahren ist der Angeklagte vom Vorwurf der Vergewaltigung frei gesprochen worden. Ihm war zur Last gelegt worden, „die 17-jährige Nebenklägerin im Stadtgebiet von P. am Genick gepackt, ihr den Mund zugehalten und sie unter ihrer erfolglosen körperlichen Gegenwehr in einen nahe gelegenen Park gezerrt. Dort habe er sich, nachdem die Nebenklägerin auf den Boden gefallen und auf dem Rücken zu liegen gekommen war, auf deren Hände gekniet, ihre Leggings zerrissen und habe mit der sich fortdauernd wehrenden Nebenklägerin den vaginalen Geschlechtsverkehr ausgeübt, wobei er ihr seinen Unterarm auf den Mund hielt, um Hilfeschreie zu unterbinden. Danach habe er sie an den Haaren gepackt und sie für den Fall einer Offenbarung der Tat mit dem Tode bedroht, woraufhin sie habe flüchten können.“

Das LG hatte aus tatsächlichen Gründen frei gesprochen. Der BGH hat den Freispruch mit dem BGH, Urt. v. 04.9.2017 – 4 StR 45/17 – aufgehoben:

„1. Es ist schon zweifelhaft, ob das Urteil den formellen Anforderungen genügt, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an eine Freispruchsbegründung zu stellen sind (vgl. dazu BGH, Urteile vom 25. September 1990 – 1 StR 448/90, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 5; vom 10. August 1994 – 3 StR 705/93, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 10). Die danach regelmäßig erforderlichen zusammenhängenden Feststellungen zu den für erwiesen erachteten Tatsachen enthalten die Urteilsgründe nicht. Ob dies hier einen sachlich-rechtlichen Mangel darstellt oder ob tatsächlich keine Feststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen möglich waren (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. November 1996 – 1 StR 405/96, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 12), kann aber letztlich dahinstehen. Denn jedenfalls die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

2. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn der Tatrichter einen Angeklagten freispricht, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO), weshalb es ihm obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 12. Februar 2015 – 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 mwN). Das Urteil muss aber erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (BGH, Urteil vom 1. Februar 2017 – 2 StR 78/16). Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung schließlich dann, wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind. Dabei ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (BGH aaO).

3. Gemessen daran begegnet die Beweiswürdigung des Landgerichts in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Zum einen weist sie Lücken auf, weil die Strafkammer nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise dargelegt hat, warum sie dem Gutachten der aussagepsychologischen Sachverständigen Dipl.-Psych. B. nicht gefolgt ist, wonach die Angaben der Nebenklägerin zur Tat und zum Täter mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ erlebnisfundiert seien.

aa) Zwar ist der Tatrichter nicht gehalten, einem Sachverständigen zu folgen. Kommt er aber zu einem anderen Ergebnis, so muss er sich konkret mit den Ausführungen des jeweiligen Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen, dass er über das bessere Fachwissen verfügt (BGH, Beschluss vom 19. Juni 2012 – 5 StR 181/12, NStZ 2013, 55, 56). Vor allem muss er die Stellungnahme des Sachverständigen zu den Gesichtspunkten wiedergeben, auf die er seine abweichende Auffassung stützt (BGH, Urteil vom 20. Juni 2000 – 5 StR 173/00, NStZ 2000, 550, 551) und unter Auseinandersetzung mit diesen seine Gegenansicht begründen, damit dem Revisionsgericht eine Nachprüfung möglich ist (BGH, Urteile vom 11. Januar 2017 – 2 StR 323/16, NStZ-RR 2017, 222 f.; vom 14. Juni 1994 – 1 StR 190/94, NStZ 1994, 503).

bb) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Zwar referiert die Strafkammer die gutachterliche Stellungnahme der aussagepsychologischen Sachverständigen, die sich ihrerseits erkennbar an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten methodischen Anforderungen orientiert (vgl. dazu BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164), in aller Breite in den Urteilsgründen. Sie versäumt es aber, eine eigene Bewertung der Ergebnisse des Gutachtens vorzunehmen und im Einzelnen zu erläutern, aus welchem Grund sie sich der Gutachterin nicht anzuschließen vermocht hat. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als im Hinblick auf das wesentliche Glaubhaftigkeitskriterium der Aussagekonstanz die Beurteilung der Sachverständigen von der Strafkammer, „das Kerngeschehen betreffend“, ausdrücklich geteilt wird (UA 44). Der allgemeine Hinweis darauf, die Bewertung der Angaben der Nebenklägerin durch die Gutachterin (mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ erlebnisfundiert) reiche zur Überführung des Angeklagten nicht aus und deren Bekundungen stünden der Einlassung des Angeklagten auch vor dem Hintergrund des Gutachtens „unvereinbar gegenüber“, kennzeichnet letztlich nur das abstrakte Problem der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, ohne dieses nach den konkreten Umständen des Falles unter Einschluss des psychologischen Gutachtens zu erörtern. Der Senat kann danach auch nicht überprüfen, ob der Einschätzung der Strafkammer in Bezug auf die Ausführungen der psychologischen Sachverständigen die erforderliche Sachkunde zugrunde liegt.“

Drogenkurier, oder: Grundkurs zum Vorsatz und zur Einlassung

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Urheber H. Zell

Die zweite Entscheidung des heutigen Tages stammt dann auch aus dem Bereich der BtM-Verfahren. Und zwar geht es im BGH, Urt. v.05.07.2017 – 2 StR 110/17 – auch um unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln u.a. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Nach den Feststellungen transportierte der Angeklagte am 17.02.2016 im Auftrag unbekannt gebliebener Dritter für einen Kurierlohn von 1.000 € insgesamt 62,5 Kilogramm Haschisch mit einem Wirkstoffgehalt von 15,5 Prozent aus den Niederlanden nach Deutschland. Er wusste, dass das Rauschgift gewinnbringend weiterveräußert werden sollte. Der Angeklagte stellte sein Fahrzeug auftragsgemäß in einem Industriegebiet ab und ging spazieren. Während seiner Abwesenheit wurde das Rauschgift von Dritten in seinem Fahrzeug deponiert. Bei einer Polizeikontrolle in Deutschland wurde das Rauschgift entdeckt und sichergestellt. Der Angeklagte hatte sich über Verteidigererklärungen in der Hauptverhandlung dahin eingelassen, dass er „nur“ vom Transport von 10 Kilogramm Haschisch ausgegangen sei; ihm sei von seinen Auftraggebern gesagt worden, dass er sein Fahrzeug in einem Industriegebiet abstellen und spazieren gehen solle; während seiner Abwesenheit würden 10 Kilogramm Haschisch in dem Fahrzeug deponiert. Das Landgericht vermochte sich ungeachtet einer auf einem der Rauschgiftpakete gesicherten daktyloskopischen Spur des rechten Daumens des Angeklagten nicht davon zu überzeugen, dass der Angeklagte hinsichtlich der Gesamtmenge mit jedenfalls bedingtem Vorsatz handelte.Die Revision der StA hatte Erfolg.

Der BGH beanstandet die Beweiswürdigung des LG als lückenhaft. Sie lasse besorgen, dass das LG überspannte Anforderungen an die Annahme bedingten Vorsatzes bezogen auf die Menge des transportierten Rauschgifts gestellt habe. Insoweit gilt:

„a) Die tatrichterlichen Beweiserwägungen sind lückenhaft, weil der Tatrichter die allein über Verteidigererklärungen erfolgte Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht auf ihre Plausibilität überprüft und in Bezug zu seinen früheren Bekundungen gesetzt hat. Das Landgericht ist insoweit davon ausgegangen, dass „die Einlassung des Angeklagten unterstellt“ werden müsse und nur dann widerlegt werden könne, wenn gegenteilige Anhaltspunkte vorliegen. Dies greift zu kurz. An die Bewertung der Einlassung des Angeklagten sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel (vgl. Senat, Urteil vom 1. Februar 2017 – 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183, 184). Der Tatrichter hat sich aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden (BGH, Urteil vom 6. November 2003 – 4 StR 270/03, NStZ-RR 2004, 88; Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 48/86, BGHSt 34, 29, 34). Dabei kann ein Wechsel der Angaben im Verlaufe des Verfahrens ein Indiz für die Unrichtigkeit der Einlassung in der Hauptverhandlung sein und ihre Bedeutung für die Beweiswürdigung verringern oder unter Umständen ganz entfallen lassen (Senat, Urteil vom 16. August 1995 – 2 StR 94/95, BGHR StPO § 261 Einlassung 6). Im Hinblick auf die Möglichkeit einer Anpassung der Einlassung an die Ergebnisse der Beweisaufnahme kann auch der Zeitpunkt, zu dem sich ein Angeklagter zur Sache einlässt, ein Umstand sein, der im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung gegen die Glaubhaftigkeit der Einlassung sprechen kann (Senat, Urteil vom 1. Februar 2017 – 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183, 184).

b) Das Landgericht hat zwar erkannt, dass die über Verteidigererklärungen erfolgte Einlassung des Angeklagten in einem zentralen Punkt mit den übrigen Beweisergebnissen nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen war; seine Erklärung, während des Verladens des Rauschgifts in sein Fahrzeug spazieren gegangen zu sein, lässt sich jedenfalls nicht ohne Weiteres damit in Einklang bringen, dass auf dem Verpackungsmaterial eines der Betäubungsmittelpakete unterhalb des Klebebands eine Fingerspur – der Abdruck des rechten Daumens – des Angeklagten gesichert worden ist. Soweit die Strafkammer die Beweisbedeutung dieses Indizes mit der Begründung rela-tivierte, die festgestellte einzelne Fingerspur deute nicht darauf hin, dass der Angeklagte die – sehr große, aus 56 Blöcken und 208 Platten bestehende – Rauschgiftmenge selbst in das Fahrzeug gelegt oder sonst „bei einem Verbringen der Betäubungsmittel in das Fahrzeug in irgendeiner Weise mitgewirkt“ habe, da anderenfalls mehr als nur eine einzelne Fingerabdruckspur hätte aufgefunden werden müssen, sind diese Erwägungen lückenhaft. Das Landgericht hat die Lage der Fingerspur unterhalb der Verpackung nicht erkennbar in den Blick genommen. Darüber hinaus hat es sich nicht mit der nahe liegenden Geschehensvariante auseinander gesetzt, dass der Angeklagte bei der Verbringung der Betäubungsmittel in das professionelle Schmuggelversteck seines Fahrzeuges anwesend gewesen sein könnte und dabei eines der Pakete berührt hat. Eine solche Geschehensvariante wäre zwanglos mit der Spurenlage vereinbar und könnte zugleich dafür sprechen, dass der Angeklagte Kenntnis von der ungefähren Gesamtmenge der von ihm tatsächlich transportierten Betäubungsmittel hatte.

c) Schließlich fehlt es an der erforderlichen Gesamtwürdigung aller für und gegen die Annahme eines auf die tatsächlich transportierte Gesamtmenge bezogenen bedingten Vorsatzes des Angeklagten. In diesem Zusammenhang wäre auch in die Erwägungen einzustellen gewesen, dass der Angeklagte „das Versteck und vor allem dessen Größe kannte“ (vgl. UA S. 11).“

Schöne Anleitung zur Gesamtwürdigung der Einlassung des Angeklagten…………

Lücke in der Beweiswürdigung, oder: Wenn die Strafkammer die Einlassung des Angeklagten übersieht

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Und zum Abschluss des Tages dann noch der Hinweis auf den BGH, Beschl. v. 22.06.2017 – 1 StR 242/17 -, mit dem eine Verfahrensrüge Erfolg hatte. Gerügt worden ist eine Verletzung des § 261 StPO – nämlich m.E. eine Lücke in der Beweiswürdigung betreffend die Einlassung des Angeklagten. Es handelt sich aber nicht etwa um den „alten Hut“/Klassiker, dass die Strafkammer nicht mitgeteilt hat, dass der Angeklagte sich eingelassen und sie (auch) zum Inhalt der Einlassung des Angeklagten nicht Stellung genommen hat, sondern um eine Abwandlung:

„Die Rüge der Verletzung des § 261 StPO führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Das Landgericht hat zum Einlassungsverhalten des Angeklagten ausgeführt, dass er sich lediglich bei der Eröffnung des Haftbefehls nach seiner Festnahme „nicht geständig“ eingelassen habe, ohne den Inhalt seiner Erklärung darzulegen. Ausdrücklich wird festgestellt, dass er sich in der Hauptverhandlung zur Sache nicht eingelassen habe (UA S. 24).

Demgegenüber macht die Revision – bestätigt durch das Hauptverhandlungsprotokoll vom 19. Januar 2017 – geltend, dass der Verteidiger am vierten Hauptverhandlungstag eine schriftlich vorbereitete Erklärung abgegeben habe, wobei sich der Angeklagte diese Erklärung ausdrücklich zu Eigen gemacht habe.

Mit dieser Sachdarstellung hat die Verfahrensrüge Erfolg. Dem Senat ist es verwehrt, Überlegungen darüber anzustellen, ob der Inhalt der als Anlage zum Protokoll genommenen und von der Revision mitgeteilten Erklärung des Angeklagten sich auf die Feststellungen des Urteils ausgewirkt hätte, wenn diese von der Strafkammer in ihre Erwägungen einbezogen worden wäre, weil die Beweiswürdigung allein dem Tatgericht obliegt.“

Also: Zweiter Durchgang.

Aussage-gegen-Aussage beim sexuellen Missbrauch, oder: Beweiswürdigung beim/mit einem SV-Gutachten

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Der BGH, Beschl. v. 13.06.2017 – 2 StR 94/16 – befasst sich (noch einmal) in einem Verfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. mit der Beweiswürdigungin den Fällen der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation und einem eingeholten Glaubwürdigkeitsgutachten-

Angeklagt war ein Lehrer an einer Grundschule für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Er war Klassenlehrer der am 23. Juni 2002 geborenen Nebenklägerin L. . Diese litt an Entwicklungsverzögerungen und besuchte als „Integrations-kind mit besonderem Förderbedarf“ die Grundschule. Er nutzte sich bietende Gelegenheiten zu sexuellen Handlungen mit der Nebenklägerin.

Bei einem Aufenthalt der Schulklasse in einer Jugendherberge veranlasste der Angeklagte die Nebenklägerin dazu, in sein Zimmer zu kommen. Er zog Hose und Unterhose aus und legte sich auf das Bett. Er wies die Nebenklägerin an, ihren Badeanzug auszuziehen, dann fasste er sie an der Hüfte, setzte sie auf seinen Penis und hob sie auf und ab. Als ein Schüler an der Zimmertür klopfte, hob der Angeklagte sie herunter und befahl ihr schnell ins Bad zu gehen, sich dort anzuziehen und leise zu verhalten (Fall II.1. der Urteilsgründe).

Am 7. Mai 2013 sollte die Nebenklägerin eine weiterführende Schule kennen lernen. Sie fuhr mit dem Schulbus dorthin, während ihre Mutter K. L. mit dem Angeklagten in dessen Auto folgte. Nach Ende der Vorstel-lung fuhr der Angeklagte mit der Nebenklägerin und ihrer Mutter zurück, setzte die Mutter an deren Wohnung ab und nahm die Nebenklägerin mit. Weil noch Zeit bis zum Unterrichtsbeginn war, hielt der Angeklagte an seinem Haus und ging mit ihr in das Schlafzimmer. Dort entkleidete er sich und die Nebenkläge-rin, legte sich auf das Bett und hob sie auf seinen Schoß. Er setzte sie auf sei-nen Penis und hob sie hoch und herunter. Währenddessen sah er immer wie-der auf die Uhr, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Nach den sexuellen Handlungen frühstückten beide, gingen mit dem Hund des Angeklagten spazieren und fuhren dann zur Grundschule (Fall II.2. der Urteilsgründe).

An einem Tag im vierten Schuljahr der Nebenklägerin unterrichtete der Angeklagte sie im „Differenzierungsraum“, während die weitere Klassenlehrerin die anderen Schüler im Klassenraum unterrichtete. Der Angeklagte zog die Ho-se der vor ihm stehenden Nebenklägerin herunter, schob die Unterhose beisei-te und führte einen Finger in die Scheide ein. Als die Lehrerkollegin an der Tür klopfte, um zu signalisieren, dass das Ende der Schulstunde nahe, rief der An-geklagte mit Verzögerung „komm rein“. In der Zwischenzeit zog er den Finger aus der Scheide der Nebenklägerin und diese zog ihre Hose hoch. Der Ange-klagte befahl der Nebenklägerin, sich wieder an den Tisch zu setzen und ihre Stifte einzuräumen, damit die Lehrerin keinen Verdacht schöpfe (Fall II.3. der Urteilsgründe).“

Das LG hat sein Urteil, der aussagepsychologischen Sachverständigen folgend, auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt.Dem BGh gefällt das nicht. Denn:

2. Diesen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden.

a) Die Erwägungen zur Aussageentstehung sind lückenhaft.

Die Beschuldigung des Angeklagten ist erstmals geäußert worden, nachdem die Freundin der Nebenklägerin beim Aufrufen von Sexfilmen im Internet angetroffen worden war und ihrer Mutter erklärt hatte, sie sei von der Nebenklägerin darüber instruiert worden, worauf die Nebenklägerin von beiden Müttern zur Rede gestellt wurde. Sie befand sich dabei unter dem erheblichen Druck einer nachhaltigen Befragung über ein sonst als Tabu behandeltes The-ma. Insbesondere die Mutter der Nebenklägerin habe „nicht locker gelassen“.

Dazu hat die vom Landgericht vernommene aussagepsychologische Sachverständige erläutert, die Nebenklägerin besitze „keine erhöhte Anfälligkeit dafür, Suggestiveinflüssen zu folgen. Sie habe sowohl bei der gutachterlichen Exploration als auch bei den anderen Vernehmungen Suggestivfragen oftmals nicht gemäß der Suggestion beantwortet.“ Ihre Angaben sprächen auch nicht dafür, dass sie „durch den Druck im Gespräch mit ihrer Mutter und der Zeugin A. dazu motiviert gewesen sein könne, eine bewusste Falschaussa-ge gegen den Angeklagten vorzubringen, um dadurch ihre eigene Schuld zu vermindern und ihre Mutter in der Diskussion wegen des Aufrufens der Sexsei-ten im Internet milde zu stimmen. Aus aussagepsychologischer Sicht sei es äu-ßerst unwahrscheinlich, insbesondere auch aufgrund der vorhandenen Entwicklungsverzögerungen der Zeugin, dass L. eine qualitativ so hochwertige Lüge hätte spontan vorbringen können.“

Das Landgericht hat sich insgesamt dem Ergebnis der Sachverständigen angeschlossen, dass die Angaben der Nebenklägerin „mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisbasiert und glaubhaft“ seien. Es hat aber nicht selbst überprüft, ob die Nebenklägerin unter dem Druck der intensiven Befragung und mit Blick auf ihr Anschauungsmaterial aus Filmdarstellungen im Internet das Bild von sexuellen Handlungen mit Erlebnissen aus dem Alltag in der Grund-schule verknüpft haben könnte, um dem Druck zu entweichen.

Bei weiteren Befragungen der Nebenklägerin sind nach der Bemerkung der Sachverständigen auch Suggestivfragen vorgekommen, deren Art und Be-deutung im Urteil nicht näher erläutert werden. Der Hinweis der Sachverständigen darauf, dass die Nebenklägerin auf Suggestivfragen oft nicht im Sinne der Erwartungshaltung der Fragesteller geantwortet habe, reicht nicht aus, um nachvollziehbar zu begründen, dass es sich bei den tatbezogenen Aussagen der Nebenklägerin um nicht aufgrund von suggestiven Einflüssen entstandene Schilderungen gehandelt hat.

b) Es fehlt auch die bei dieser Lage notwendige besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte. ………“

Lichtbilder nicht in der Hauptverhandlung, oder: Wie „bescheuert“ muss man eigentlich sein….

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Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bei der Überschrift zu diesem Posting (wieder) Kommentare bekomme betreffend „RiAG-Bashing“. Nein, ich bin nicht – aus welchen Gründen auch immer – gefrustet, wie neulich ein Kommentator vermutet hat. Aber manche Dinge, die man in OLG-Urteile zu AG-Urteilen liest, kann man m.E. nur mit deutlichen Worten beschreiben und kommentieren. Und dazu gehört für mich jetzt das Verhalten des Amtsrichters beim AG Tiergarten, das das KG im KG, Beschl. v. 14.09.2017 – 3 Ws 282/17 – 122 Ss 144/17 – zu beurteilen hatte. Da fragt man – zumindest ich mich – wirklich: Wie „bescheuert“ muss man eigentlich sein, wenn man die Beweiswürdigung – hier die Identifizierung des Betroffenen als Fahrerin – auf Beweismittel stützt, die erst nach der Hauptverhandlung zur Akte gelangt sind.

Ja, richtig gelesen. Das AG-Urteil stammt vom 22.06.2017, in der Akte befindet sich bis dahin ein Bild der Betroffenen auf Blatt 4 d.A. Es wird dann mit Verfügung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 26.06.2017 – eingegangen beim AG Tiergarten am 27.06.2017 einw eiteres Lichtbild übersandt. Das AG stellt bei der Beweiswürdigung auch auf dieses Lichtbild der Betroffenen ab. Die „Inbegriffsrüge“ der Betroffenen hatte dann natürlich Erfolg:

„Das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft der Betroffenen ausdrücklich sowohl auf einen Vergleich der Betroffenen mit dem Lichtbild Bl. 4 d. A. als auch mit dem Lichtbild Bl. 110 d. A. gestützt (UA S. 3):

Aus der Übersendungsverfügung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 26. Juni 2017 und dem Eingangsstempel des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juni 2017 (Bl. 100 d. A.) ergibt sich jedoch, dass das Lichtbild Bl. 110 d. A. erst nach der Hauptverhandlung zu den Akten gelangt ist und damit in die Hauptverhandlung nicht eingeführt worden sein kann.

Grundlage der Überzeugungsbildung des Richters und der Urteilsfindung darf nur das sein, was innerhalb der Hauptverhandlung, d.h. vom Aufruf der Sache bis zum letzten Wort des Angeklagten mündlich so erörtert worden ist, dass alle Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.; BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 47; Ott in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl., § 261 Rdnr. 6). Gründet das Gericht seine Überzeugung auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern könnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.).

Eine Verletzung des § 261 StPO kann auch nicht bereits, an der Erwägung scheitern; das Urteil könne nicht auf einem Vorgang beruhen, der sich erst. nach Verkündung des Urteils ereignet hat, weil dieser Vorgang bei der vorangegangen Überzeugungsbildung und Urteilsfindung keine Rolle gespielt haben könne,

Dem steht entgegen, dass das Revisionsgericht das angefochtene Urteil nur „in der untrennbaren Einheit“ nachprüfen kann, die der Urteilstenor und die schriftlichen Urteilsgründe miteinander bilden (vgl. bereits RGSt 71, 326, 327; vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.). Andernfalls bestünde die Gefahr, dass eine nachträglich erkannte Lücke in der Beweiswürdigung durch Erkenntnisse, die nach Abschluss der Hauptverhandlung gewonnen werden, noch geschlossen werden kannte. Die schriftlichen Urteilsgründe sollen indes die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des. Urteils wiedergeben, wie sie nach der Hauptverhandlung in der Beratung gewonnen worden sind, und dadurch dem Revisionsgericht die Nachprüfung der getroffenen Entscheidungen auf ihre Richtigkeit ermöglichen. Daher darf auch das schriftliche Urteil nur auf Erkenntnisse gestützt werden, die im Verfahren nach § 261 StPO gewonnen worden sind und zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (vgl. BGH a.a.O.). Es dürfen mithin weder Erkenntnisse, die während (vgl. BGH NStZ 2001, 595, 596; 9) noch solche, die erst nach der Urteilsverkündung erlangt wurden, zur schriftlichen Begründung der gewonnenen Überzeugung herangezogen werden.

Es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht; denn das Amtsgericht hat seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft der Betroffenen ausdrücklich auf beide Lichtbilder gestützt, die auch unterschiedliche Perspektiven des Gesichts der Betroffenen aufweisen.

Die Bezugnahme auch auf dieses Lichtbild in den schriftlichen Urteilsgründen könnte zwar dann unschädlich sein, wenn zweifelsfrei feststünde, dass das – rechtlich fehlerfrei – gewonnene Ergebnis lediglich durch Umstände bestätigt wurde, die nach Verkündung des Urteils entstanden sind (vgl. BGH NStZ 2017, 375 f.). So verhält es sich hier aber nicht. Der Tatrichter ist nicht von einer nur späteren Bestätigung seiner – unabhängig von dem zweiten Lichtbild – gewonnenen Überzeugung ausgegangen, sondern hat bereits verschwiegen, dass es sich um ein erst nachträglich zu den Akten gelangtes Lichtbild handelt.

„Schön“ auch die weiteren Bestandungen des KG:

„Im Übrigen beanstandet die Rechtsbeschwerde mit der Sachrüge zu Recht, dass das Amtsgericht den Ausschluss der älteren Schwester der Betroffenen als Fahrerin durch einen Vergleich zwischen dem in der Hauptverhandlung überreichten Lichtbild der Schwester der Betroffenen und der Betroffenen selbst vorgenommen hat (UA S. 4) und nicht durch einen Vergleich des Lichtbildes der Schwester mit dem Lichtbild der Fahrerin; denn der Vergleich der beiden Schwestern wäre nur dann von Bedeutung, wenn bereits feststünde, dass die Betroffene die Fahrerin war. Dies sollte jedoch erst bewiesen werden.

Ferner begegnet Bedenken, dass der Tatrichter Zweifel an der Einlassung der Betroffenen, Ihre ältere Schwester könne gefahren sein, auch darauf gestützt hat, dass diese im Vorverfahren nicht benannt würde (UA 3). Denn ein belastendes Indiz darf nicht aus dem Zeitpunkt des Antritts eines Entlastungsbeweises hergeleitet werden. Selbst wenn der Zeitpunkteines Vorbringens ausnahmsweise als solcher einer Beweiswürdigung zugänglich sein sollte, ist eine darauf abstellende Beweiswürdigung nur dann lückenlos und tragfähig, wenn naheliegende Erklärungsmöglichkeiten für ein verspätetes Vorbringen erörtert und ausgeräumt werden (vgl. BGH NStZ 2002, 161).“