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U-Haft I: Beschleunigungsgrundsatz, oder: Warum ein Jahr nach Vernehmungen keine Anklage?

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Ich eröffne die 25. KW. dann heute mit zwei Entscheidungen zur U-Haft.

Zunächst hier der OLG Dresden, Beschl. v. 11.05.2020 – 1 Ws 123/20, der mir der Kollege Stephan aus Dresden geschickt hat; der hat den Beschluss von der Kollegin Jaskolski aus Sebnitz. Thematik: Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes.

Dem Beschuldigten wird/wurde mit dem auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehl des AG V. 18.01.2019 gewerbsmäßige Bandenhehlerei in sechs Fällen gemäß §§ 259 Abs. 1, 260 a Abs. 1, 25 Abs. 2, 53 StGB zur Last gelegt. Der Haftbefehl ist auf Wiederholungsgefahr gestützt. Seit dem 30.03.2020 befindet sich der Beschuldigte aufgrund dieses Haftbefehls in Untersuchungshaft, zuvor wurde der Haftbefehl nicht vollstreckt, sondern insoweit Überhaft notiert, weil sich der Beschuldigte seit dem 30.10.2018 in anderer Sache zunächst in U-Haft und dann in Strafhaft befand. der Beschuldigte hat Haftbeschwerde eingelegt. Das AG hat nicht abgeholfen, das LG hat umgestellt auf Fluchtgefahr und die Haftbeschwerde verworfen.

Das OLG sagt: So nicht:

„Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses und des Haftbefehls des Amtsgerichts Chemnitz vom 18. Januar 2019. Dahingestellt bleiben kann, ob dringender Tatverdacht bezogen auf die dem Beschuldigten mit vorgenanntem Haft-befehl zur Last gelegten Taten und Fluchtgefahr besteht. Denn Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft sind jedenfalls wegen einer Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebotes unverhältnismäßig, nachdem das vorliegende Ermittlungsverfahren seitens der Staatsanwaltschaft Chemnitz nicht in notwendigem Maße gefördert worden ist.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 2014, Az.: 2 BvR 2248113 – juris) setzt das verfassungsrechtliche Erfordernis der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs der Dauer der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung in dem zu sichernden Verfahren eine weitere Grenze, die mit dem verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerten Beschleunigungsgrundsatz im Zusammenhang steht (vgl. BVerfGE 20, 45, 49; 53, 152, 158).

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfG, Be-schluss vom 22. Januar 2014, a.a.O.).

Das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK sowie Art. 6 Abs. 3 1 Satz 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Obergerichte auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil sich der Beschwerdeführer in anderer Sache in Strafhaft befindet und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist (vgl. BVerfG, a.a.O.; OLG Hamm, Beschluss vom 01. März 2012, Az. 111 -3 Ws 37/12 – juris; KG, NStZ-RR 2009,188 ). Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren nachhaltig zu fördern und es so schnell wie möglich abzuschließen (OLG Hamm, a.a.O.; KG, Beschluss vom 20. Oktober 2006 – 5 Ws 569/06 – juris). Denn zum einen unterliegt der Gefangene in Strafhaft bei Notierung von Überhaft regelmäßig weiteren Beschränkungen, die der Zweck der Untersuchungshaft (z. B. Post-, Telekommunikations- und Besuchsüberwachung) erfordert. Zum anderen bedarf es der (weiteren) Vollstreckung von Untersuchungshaft im Anschluss an die Strafvollstreckung dann nicht mehr, wenn das Verfahren bereits während der Dauer der Strafhaft in anderer Sache abgeschlossen werden kann; jeden-falls bedarf es der Vollstreckung von Untersuchungshaft für solche Verfahrensabschnitte nicht mehr, die während der Vollstreckung der Strafhaft in anderer Sache durchgeführt werden konnten (vgl. OLG Hamm, a.a.O.).

2. Unter Berücksichtigung der dargestellten Maßstäbe liegt hier eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes vor.

Die dem Senat vorliegenden Akten lassen nicht erkennen, aus welchem sachlichen Grund bis-lang eine Anklageerhebung im Hinblick auf die haftbefehlsgegenständlichen Taten unterblieben ist, nachdem der Beschuldigte bereits im Rahmen seiner Vernehmungen am 22. sowie 27. Mai 2019 eine Beteiligung jedenfalls an vier der sechs ihm mit dem Haftbefehl zur Last gelegten Taten eingeräumt hat und die Auswertung der WhatsApp- bzw. SMS-Kommunikation des Beschuldigten offensichtlich im Juni 2019 abgeschlossen worden ist (vgl. BI. 362 ff. d. A.). Soweit unter dem 21. Juni 2019 seitens der Staatsanwaltschaft Chemnitz ausweislich des Vermerks vom 03. Juli 2019 (BI. 419 d. A.) umfangreiche Durchsuchungsmaßnahmen in Polen zur weiteren Aufklärung der haftbefehlsgegenständlichen, aber auch weiterer Taten bzw. der Bandenstruktur für erforderlich angesehen worden sind, sind diese in der Folge nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung erfolgt, nachdem die Durchsuchungsmaßnahmen im Wege der Rechtshilfe seitens der Staatsanwaltschaft Chemnitz erst im Oktober 2019 veranlasst (BI. 431 ff. d. A.) und die Durchsuchungen der Objekte erst am 12. Dezember 2019 durchgeführt worden sind. Aber auch nach Vorliegen der Erkenntnisse aus den Durchsuchungen zum Wohnobjekt des Beschuldigten (BI. 508 ff. d. A.) hat in der Folge keine beschleunigte Förderung des Verfahrens und ein zeitnaher Abschluss der Ermittlungen stattgefunden. Entsprechendes gilt, soweit am 10. Februar 2020 bzw. 08. April 2020 ein weiteres Bandenmitglied – der gesondert Verfolgte pp. – vernommen worden ist.

Vor dem dargestellten Hintergrund ist die weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls daher unverhältnismäßig. Sowohl die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts Chemnitz vom 06. April 2020 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Chemnitz vom 18. Januar 2020 waren dementsprechend aufzuheben.“

U-Haft II: Ermittlungen „aufs Geratewohl“ rechtfertigen keine längere U-Haft

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Die zweite Haftentscheidung kommt vom KG. Es handelt sich um den KG, Beschl. v. 20.8.2018 – (4) 161 HEs 28/18 (31/18). Auch in ihm geht es um den Beschleunigungsgrundsatz, allerdings im Verfahrensstadium Ermittlungsverfahren. Ergangen ist die Entscheidung in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs. Das KG moniert Ermittlungen „aufs Geratewohl“, die die Erledigung der Sache erheblich verzögert haben und daher nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO anerkannt worden sind. Das KG hat den Haftbefehl aufgehoben: Begründung:

„bb) Den sich aus diesen Grundsätzen ergebenden Anforderungen genügt die Sachbehandlung durch die Staatsanwaltschaft Berlin nicht. Das Ermittlungsverfahren ist ab dem Zeitpunkt der Inhaftierung des Angeklagten nicht in einer Weise (weiter-) geführt worden, die dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen gerecht wird.

Nach Aktenlage war die Sache nach der Vernehmung des Zeugen H am 5. März 2018 anklagereif, sodass unter Berücksichtigung des haftrechtlichen Beschleunigungsgebotes eine zeitnahe Anklageerhebung geboten und bis Mitte März 2018 auch ohne weiteres möglich gewesen wäre.

Die für die Fertigung der (knapp zehn Seiten umfassenden) Anklageschrift erforderliche Zeit hatte offensichtlich keinen maßgeblichen Einfluss auf die Verzögerung der Anklageerhebung. Die Akte lag nach ihrer Rückkehr von der Polizei (mit dem Ergebnis, dass die langwierigen Auswertungsversuche unergiebig geblieben waren) am 29. Mai 2018 der Staatsanwaltschaft wieder vor. Der sachbearbeitende Dezernent verfügte an diesem Tag die Vervollständigung eines Aktendoppels zwecks Akteneinsicht für den Verteidiger und die Aktenwiedervorlage mit einer Genaufrist von zehn Tagen. Letzteres spricht dafür, dass ihm die Fertigung der auf den 9. Juni 2018 datierten Anklageschrift innerhalb kurzer Zeit möglich war, was angesichts dessen, dass die Anklage in weiten Teilen dem Haftbefehlsantrag vom 1. Februar 2018 und den seinerzeit vorliegenden Ermittlungsergebnissen entspricht, nicht überraschend erscheint.

Das Ergebnis der Untersuchung des Angeklagten durch den Sachverständigen Dr. F war für die Anklageerhebung nicht erforderlich, sodass es nicht abgewartet werden musste; dass hier etwas anderes gelten sollte, ist von keiner Seite geltend gemacht worden. Nach den von den Zeugen geschilderten Verhaltensweisen des Angeklagten und seiner Delinquenzgeschichte bestand auch kein Anlass anzunehmen, dass der Angeklagte im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt haben könnte. Das Ergebnis der Untersuchung hätte nach Anklageerhebung nachberichtet werden können, und diese Möglichkeit hätte, weil es sich um eine Haftsache handelte, genutzt werden müssen. Da der Sachverständige für die Fertigung des vorläufigen schriftlichen Gutachtens etwa zwei Monate benötigt hat, hätte das Gutachten bei einer Befassung des Sachverständigen mit der Sache unmittelbar nach der telefonischen Absprache vom 15. Februar 2018 jedenfalls noch im April 2018 vorliegen können.

Dem Landgericht wäre es im Falle rechtzeitiger Anklageerhebung spätestens Mitte März auch bei Nachreichen des vorläufigen Sachverständigengutachtens möglich gewesen, in dem bis dahin mindestens bis zur Eröffnungsreife (unter Einschluss der Hauptverhandlungsplanung) geförderten Verfahren noch in der ersten Jahreshälfte mit der Hauptverhandlung zu beginnen und die Sache binnen sechs Monaten nach der Festnahme des Angeklagten mit einem Urteil abzuschließen, selbst wenn man den für die ergänzende Begutachtung erforderlichen Zeitaufwand in Rechnung stellt. Der Durchführung des besonderen Haftprüfungsverfahrens nach den §§ 121, 122 StPO hätte es fraglos nicht bedurft.

Tatsächlich sind allein durch die späte Anklageerhebung am 15. Juni 2018 gut zwei Drittel der Frist, die den Strafverfolgungsbehörden und dem Gericht bis zum Erlass eines Urteils zur Verfügung stand, verbraucht worden. Dies hatte nach Aktenlage seinen tragenden Grund in den Ermittlungen hinsichtlich der sichergestellten Handys und der sonstigen bei der Durchsuchung aufgefundenen Datenträger, deren Auswertung für die Anklageerhebung nicht erforderlich, sondern offensichtlich in erster Linie von der Hoffnung getragen war, weitere Taten des Angeklagten, auch gegen mögliche andere Geschädigte, aufdecken zu können. Solche über die haftbefehlsgegenständlichen Taten hinausgehenden Ermittlungen sind zwar, selbst wenn es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gibt, dass weitere Taten aufgeklärt werden können, zulässig und werden insbesondere bei Tatvorwürfen aus dem vorliegenden Deliktsfeld im Regelfall auch sachgerecht sein. In Fällen vollzogener Untersuchungshaft dürfen derartige Ermittlungen aber, jedenfalls wenn sie wie hier eher „aufs Geratewohl“ erfolgen, keinesfalls die Anklageerhebung in einer anklagereifen Sache maßgeblich verzögern. Denn ebenso, wie das in Haftsachen zu beachtende Beschleunigungsgebot im Zwischenverfahren Geltung beansprucht und die unverzügliche Eröffnung des Hauptverfahrens gebietet (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2761/10 – [juris] mwN), so verlangt dieses Prinzip nach Bejahung dringenden Tatverdachts bei im Wesentlichen unverändert gebliebener, jedenfalls nicht zugunsten des Beschuldigten geänderter Sach- und Rechtslage – auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Notwendigkeit einzelner Ermittlungen ein gewisser Beurteilungsspielraum einzuräumen ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rn. 21a mwN) – im Regelfall unverzüglich die (lediglich hinreichenden Tatverdacht erfordernde) Anklage der haftbefehlsgegenständlichen Taten (vgl. dazu Senat, Beschlüsse vom 24. Mai 2018 – [4] 121 HEs 22/18 [20/18] –, 16. Februar 2018 – [4] 121 HEs 7/18 [5/18] –, 13. Februar 2018 – [4] 121 HEs 8/18 [6/18] –, 15. Januar 2018 – [4] 161 HEs 62/17 [37-38/17] –, 5. Dezember 2017 – [4 HEs 28-30/17] – und 18. August 2017 – [4] 161 HEs 33/17 [15/17] –). Sollten die weiteren, parallel zur Anklageerhebung vorgenommenen bzw. fortgeführten Ermittlungen zur Aufdeckung weiterer Straftaten führen, können und müssen diese Taten nachträglich angeklagt werden.   

Nur der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Weigerung des Angeklagten, an der Auswertung der beschlagnahmten Gerätschaften durch Angabe von Entsperrcodes mitzuwirken, ihm nach dem strafprozessualen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit weder im Allgemeinen noch gar mit der Folge längerer Untersuchungshaft zur Last fallen darf; für diese Bewertung kommt es auch nicht darauf an, ob ein Beschuldigter – anders als offenbar vorliegend – in Bezug auf den Inhalt der Datenträger „etwas zu verbergen“ hatte.  „

U-Haft I: Wenn die Fertigstellung des HV-Protokolls 4 1/2 Monate dauert, oder: Haftentlassung

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Die erste Haftentscheidung kommt heute vom OLG Brandenburg. Es handelt sich um den OLG Brandenburg, Beschl. v. 06.12.2018 – 1 Ws 184/18. Ergangen ist er auf eine Haftbeschwerde des Kollegen Milke aus Potsdam, der mir den Beschluss auch zugeleitet hat.

Thematik: Dauerbrenner „Beschleunigungsgrundsatz“ in Haftsachen, und zwar mal wieder nach Erlass des Urteils. Das Schwurgericht hatte den Angeklagten am 05.02.2018 wegen Mordes in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, die inzwischen beim BGH liegt. Das unterschriebene Urteil gelangte am 22. März 2018 zu den Akten und wurde an die Verteidiger des Angeklagten am 8. August 2018 zugestellt. Grund für die verzögerte Fertigstellung des Protokolls: Außerordentliche Belastung der Kammer spätestens seit Beginn des Jahres 2018 mit zahlreichen Schwurgerichtssachen.

Dem OLG reicht das als „Entschuldigung“ nicht. Es hat den Haftbefehl gegen den Angeklagten wegen der Verzögerung – das OLG geht von rund vier einhalb Monaten aus – aufgehoben. Konkret zur Sache führt es aus:

„b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Verfahren nicht in einer Weise gefördert worden, die den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht wird. Die nach Urteilserlass entstandenen Verfahrensverzögerungen verstoßen gegen das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen.

Mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot ist es vorliegend unvereinbar, dass das Hauptverhandlungsprotokoll erst am 27. Juli 2018 fertiggestellt wurde und Urteil und Protokoll erst am 8. August 2018 an die Verteidiger zugestellt wurden.

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen, verlangt nämlich auch, dass die Erstellung eines kompletten Hauptverhandlungsprotokolls im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, StV 2006, 81, bei juris Rn 70; OLG Nürnberg, Beschluss vorn 28.09.2018, Az,: 2 Ws 645/18, BeckRS 2018, 25539).

Bei Beachtung dieser Vorgaben und des Umstandes, dass sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung seit elf Monaten und zwischenzeitlich seit einem Jahr und neun Monaten in Untersuchungshaft befindet, ist das Verfahren vor dem Landgericht Potsdam nach Urteilsverkündung dadurch erheblich verzögert worden, dass eine Fertigstellung des Protokolls nicht zeitnah zur Urteilserstellung erfolgt ist. Vom Tag der Urteilsverkündung am 5. Februar 2018 bis zur Fertigstellung des Protokolls am 27. Juli 2018 vergingen dreieinhalb Monate. Selbst ab dem 22. März 2018, dem Zeitpunkt an dem das Urteil zur Geschäftsstelle gelangt ist, dauerte die Fertigstellung des Protokolls, die gemäß § 273 Abs. 4 StPO Voraussetzung für die ‚Wirksamkeit der Urteilszustellung ist, noch mehr als vier Monate. Vom Tag der Fertigstellung des Urteils bis zur Zustellung des Urteils und des Protokolls an die Verteidiger vergingen insgesamt vier Monate und 17 Tage. Der Fortgang des Revisionsverfahrens hat sich durch die verspätete Fertigstellung des Protokolls mithin erheblich verzögert. Die Revisionsbegründungsfrist hat nämlich gemäß § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO erst mit der Zustellung des Urteils an die Verteidiger zu laufen begonnen.

Die verspätete Fertigstellung des Protokolls war sachlich nicht gerechtfertigt und vermeidbar. Die Hauptverhandlung erstreckte sich über einen Zeitraum von eineinhalb Monaten mit acht Hauptverhandlungstagen, wobei das Protokoll der Hauptverhandlung keinen außergewöhnlichen Umfang erreichte. Es besteht lediglich aus einem Band mit etwa 200 Seiten. Bei diesem Umfang stand für die Prüfung und Korrektur des Protokolls mit dem sechswöchigen Zeitraum vom 5. Februar 2018 bis zum 22. März 2018 ausreichend Zeit zur Verfügung. Die Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls hätte somit durchaus im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgen, können. Durch die gebotene zügige Vorgehensweise wäre eine Verfahrensverzögerung von etwa viereinhalb Monaten vermieden worden.

Die eingetretene Verzögerung kann nicht mit der auch dem Senat bekannten außerordentlichen Belastung der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Potsdam gerechtfertigt werden. Die Überlastung des Schwurgerichts ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen (vgl. OLG Nürnberg, a.a.O.). Der hohe Geschäftsanfall ist nicht unvorhersehbar kurzfristig eingetreten und nur von vorübergehender Dauer. Darauf lässt bereits die Tatsache, dass im ersten Halbjahr 2018 acht Schwurgerichtssachen aus dem Jahr 2017 verhandelt wurden, schließen. Die Sicherstellung einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen hätte rechtzeitig durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz erfolgen müssen.“

U-Haft II: Wenn das OLG verhandelt, oder: Durchschnittliche Dauer der Hauptverhandlungstage

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Und die zweite Entscheidung der Woche betrifft ebenfalls eine Entscheidung, in der es um die Dauer der U-Haft geht. Es ist der BGH, Beschl. v. 05.10.2018 – StB 45/18. Ergangen in einem Haftbeschwerdeverfahren in einem beim OLG Stuttgart Verfahren. Gegenstand dieses Verfahrens und des Haftbefehls ist der Vorwurf, der heranwachsende Angeklagte habe sich in dem Zeitraum von Herbst 2012 bis zum Anfang des Jahres 2014 in Syrien in drei Fällen als Mitglied an der Organisation „Jabhat al-Nusra“ beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeiten darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 und 12 VStGB) sowie Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen der §§ 239a, 239b StGB zu begehen, und habe in zwei dieser Fälle tateinheitlich die tatsächliche Gewalt über Kriegswaffen ausgeübt, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, §§ 52, 53 StGB, § 22a Abs. 1 Nr. 6 KWKG, §§ 1, 105 JGG.

Das OLG verhandelt in der Sache seit dem 25.09.2017 begonnen. Mit Schriftsatz seiner Verteidiger vom 22.08.2018 hat der Angeklagte Beschwerde gegen den Haftbefehl des Oberlandesgerichts vom 12.06.2017 eingelegt und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Er beanstandet im Wesentlichen, dass die Hauptverhandlung nicht mit der erforderlichen Beschleunigung geführt worden sei. Während der insgesamt 49 Kalenderwochen bis zum 21.08. 2018 sei lediglich an 53 Tagen verhandelt worden, mithin nur an 1,08 Sitzungstagen pro Woche. Außerdem sei die Dauer der Hauptverhandlung an einzelnen Sitzungstagen zu kurz gewesen; die Verhandlungszeit pro Sitzungstag habe durchschnittlich etwa 350 Minuten betragen, wovon noch Unterbrechungszeiten aufgrund von Sitzungspausen abzuziehen seien. Überdies sei versäumt worden, eine etwa zweimonatige Unterbrechung der Hauptverhandlung infolge der Erkrankung einer erkennenden Richterin durch eine gestraffte Verhandlungsführung, insbesondere durch Anberaumung zusätzlicher Sitzungstage auszugleichen. Im Übrigen macht der Beschwerdeführer geltend, dass inzwischen keine Fluchtgefahr mehr bestehe, weil auf ihn im Zweifel Jugendstrafrecht anzuwenden sei und im Falle seiner Verurteilung bereits jetzt eine zu vollstreckende Strafe von allenfalls noch wenigen Monaten verbliebe.

Der BGH hat das anders gesehen und die Haftbeschwerde verworfen:

„…. Das damit angesprochene Beschleunigungsgebot in Haftsachen erfordert, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn deren Fortdauer auf vermeidbaren Verfahrensverzögerungen beruht. Bei absehbar umfangreichen Verfahren ist – was auch der Beschwerdeführer im Ausgangspunkt zutreffend anführt – daher stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit im Grundsatz durchschnittlich mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig. Insgesamt ist eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs notwendig. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12 mwN, juris Rn 39 ff.; BGH, aaO).

b) An diesen Anforderungen gemessen ist das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Das gilt zunächst im Hinblick auf die Anzahl der wöchentlichen Sitzungstage. Wie sich aus dem Nichtabhilfebeschluss des Oberlandesgerichts ergibt, hat der Senatsvorsitzende bei der Terminierung von Anfang an eine straffe und effiziente Verhandlungsführung angestrebt, so dass das Gericht regelmäßig an zwei Tagen pro Woche (Montag und Mittwoch) verhandelt. Den Ausführungen des Oberlandesgerichts lässt sich entnehmen, dass eine Terminierung auf mehr als zwei Tage pro Woche aufgrund der Besonderheiten, die sich aus dem Auslandsbezug des Verfahrens ergeben, nicht umsetzbar war. Im Hinblick auf die Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Verhandlungstage haben das Oberlandesgericht und der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt, dass der Zeitraum der Erkrankung einer erkennenden Richterin insoweit nicht berücksichtigt werden darf. Da zunächst nicht absehbar war, ob die Hauptverhandlung, die bereits an mindestens zehn Tagen stattgefunden hatte (§ 229 Abs. 3 Satz 1 StPO), unter Mitwirkung der erkrankten Richterin fortgeführt werden konnte, war es mit Rücksicht auf den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz des gesetzlichen Richters geboten, die Hauptverhandlung bis zum Ablauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Fristen zu unterbrechen, bevor der Verhinderungsfall festgestellt und der Ergänzungsrichter eintreten konnte (BGH, Beschluss vom 8. März 2016 – 3 StR 544/15, BGHSt 61, 160, 163 ff.). Überdies hat – worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hingewiesen hat – die etwa einmonatige Unterbrechung der Hauptverhandlung während der Sommerferienzeit bei der Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Verhandlungstage außer Betracht zu bleiben (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07, juris Rn. 53), so dass sich bei zutreffender Berechnung ergibt, dass die Hauptverhandlung bislang durchschnittlich an deutlich mehr als einem Tag pro Woche durchgeführt worden ist.

Den eingehenden Ausführungen des Oberlandesgerichts lässt sich entnehmen, dass ein Ausgleich der etwa zweimonatigen Unterbrechung der Hauptverhandlung infolge der Erkrankung einer erkennenden Richterin durch Anberaumung von mehr als zwei Sitzungstagen pro Woche ungeachtet der sich aus dem Auslandsbezug des Verfahrens ergebenden Besonderheiten letztlich auch wegen Verhinderung der Verteidiger nicht möglich war.

Auch die durchschnittliche Dauer der Verhandlungstage gibt im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz keinen Anlass zu Beanstandungen. So lässt bereits die vom Beschwerdeführer berechnete durchschnittliche Verhandlungszeit pro Sitzungstag von etwa 350 Minuten nicht erkennen, dass das Oberlandesgericht die anberaumten Verhandlungstage nicht hinreichend ausgeschöpft habe. Überdies hat das Oberlandesgericht im Einzelnen dargelegt, dass sich die Unterbrechungen der Hauptverhandlung an den einzelnen Sitzungstagen im Rahmen des Üblichen hielten und insbesondere geboten waren, um den extrem belasteten Dolmetschern eine Erholungspause zu gewähren bzw. den Angeklagten einen Toilettengang zu ermöglichen. Letztlich resultierte die verhältnismäßig kurze Verhandlungsdauer an einzelnen Sitzungstagen den eingehenden Ausführungen des Oberlandesgerichts zufolge im Wesentlichen daraus, dass Zeugen früher als erwartet entlassen werden konnten. Auch dies ist, insbesondere bei schwierigen Umfangsverfahren, nicht ungewöhnlich und stößt unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots in Haftsachen auf keine durchgreifenden Bedenken.

Schließlich kam, wie das Oberlandesgericht und der Generalbundesanwalt im Einzelnen dargelegt haben, eine Abtrennung des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer zum Zwecke der Beschleunigung bislang nicht in Betracht.“

U-Haft I: Wenn das OLG dauerhaft warnt, oder: Wer nicht hören will, muss fühlen

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Ich eröffne die Woche mit zwei Entscheidungen des OLG Stuttgart, und zwar mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.10.2018 – H 1 Ws 105/18 und dem OLG Stutgart, Beschl. v. 19.10.2018 – H 4 Ws 242/18. Beide sind in Haftsachen ergangen und zwar beide im sog. Haftprüfungsverfahren nach § 121 StPO – also Prüfung der Frage, ob die Untersuchungshaft länger als sechs Monate dauern darf. Und in beiden Beschlüssen hat das OLG die Frage verneint und die Haftbefehle aufgehoben und Freilassung der beiden Angeklagten, denen jeweils versuchter Totschlag vorgeworfen worden ist, angeordnet. Und in beiden Beschlüssen mit Formulierungen, die man im Präsidium des LG Stuttgart wahrscheinlich nicht so gerne lesen wird und wahrscheinlich auch nicht im Baden-Württembergischen Justizministerium.

Ich stelle dann hier die Ausführungen des OLG im OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.10.2018 – H 1 Ws 105/18 – ein. Die in dem Beschluss vom 19.10.2018 sind ähnlich. Die im Beschluss vom 12.10.2018 machen m.E. aber noch deutlicher, dass es so nicht geht und dass die zuständige Strafkammer des LG schon seit längerem an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen war, das aber offenabr niemand so richtig zur Kenntnis genommen hat bzw. nehmen wollte. Das OLG schildert minutiös, wann und wie es gewarnt hat und dass dann im Grunde nichts passiert ist – außer die Zuweisung einer halben Richterstelle:

„bb) Eine Fortdauer der Untersuchungshaft wegen eines anderen wichtigen Grundes nach § 121 Abs. 1 Var. 3 StPO kommt ebenso wenig in Betracht, da die bereits eingetretene sowie die gegenwärtig abzusehende weitere Verzögerung bis zum Beginn der Hauptverhandlung auf einer vorhersehbaren und vermeidbaren Überlastung des Gerichts beruht.

Ein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 Var. 3 StPO, der die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte, läge nur dann vor, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert würde, denen die Strafverfolgungsbehörden durch geeignete Maßnahmen nicht hätten entgegenwirken können (Schmitt, a.a.O. § 121 Rn. 21 m.w.N.). Die Überlastung des Gerichts käme dabei als wichtiger Grund nur in Betracht, wenn sie kurzfristig und weder voraussehbar noch vermeidbar wäre (OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. April 2011 – Aktenzeichen: 2 HEs 37/11; 2 HEs 38/11; 2 HEs 39/11, jurion Rn. 18; Schultheis, a.a.O., § 121 Rn. 18).

Dies ist nicht der Fall:

(1) Das Verfahren und damit die Dauer der Untersuchungshaft des Angeklagten wurden durch die Überlastung des Gerichts verzögert:

Die Kammer hat zur ihrer Termins- und Belastungssituation mitgeteilt, dass sie sich „aufgrund einer außergewöhnlichen Ballung von Faktoren“ nicht imstande sehe, das Verfahren innerhalb des Zeitraumes nach § 121 StPO zu verhandeln. Die mit einer Vielzahl von teilweise umfangreichen Schwurgerichtsverfahren befasste Kammer habe bereits vor Eingang des gegenständlichen Verfahrens zahlreiche Hauptverhandlungstermine in insgesamt sieben Haftsachen an-beraumt bzw. verbindlich abgesprochen und die Terminbelastung teilweise nur dadurch bewerkstelligen können, dass halbe Verhandlungstage die Durchführung von zwei gesonderten Verhandlungen an einem Tag ermöglicht haben. Überdies haben Kammermitglieder in der zweiten Jahreshälfte Urlaubstage zurückgeben müssen, um Verhandlungen fortsetzen zu können.

Ihre konkrete Terminbelastung teilte die Kammer wie folgt mit:

Kalender-     Montag         Dienstag       Mittwoch       Donnerstag   Freitag

woche 2018

36                Verf. 1          Verf. 1                    Verf. 3

                    Verf. 2                    Verf. 2                   

37                Verf. 4                                        Verf. 3                                        Verf. 4

38                Verf. 3                                        Verf. 3                   

39                Verf. 4                                        Verf. 4                    Verf. 2         

40                Verf. 5                    Verf. 2                                        Verf. 5         

41                Verf. 5                                        Verf. 5                    Verf. 5         

42                Verf. 5                                                            Verf. 5         

43                Verf. 6                                                            Verf. 6         

44                Verf. 7                                      

45                Verf. 7                                        Verf. 7                                        Verf. 7

46                Verf. 8                    Verf. 6                                        Verf. 6         

47                Verf. 8                    Verf. 6                                        Verf. 6         

48                Verf. 6                    Verf. 8                    Verf. 6                    Verf. 7       

49                Verf. 6                                        Verf. 6                                        Verf. 8

50                Verf. 7                                        vorliegendes Verf.             vorliegendes Verf.

51                Verf. 8                                        vorliegendes Verf.             vorliegendes Verf.

Es liegt für den Senat auf der Hand, dass vor allem die Befassung der Kammermitglieder mit anderen Dienstgeschäften wie dem Vorbe-reiten von Verfahrensakten und Hauptverhandlungen sowie der Ab-setzung von Urteilen eine höhere Verhandlungsdichte bei den ohne-hin bereits mehrfach parallel geführten Hauptverhandlungen nicht zulässt. Die terminliche Auslastung der 9. Strafkammer macht deutlich, dass der Zeitverzug zwischen der Eröffnungsreife des Verfahrens am 7. August 2018 (Kalenderwoche 32) und dem voraussichtlichen Be-ginn der Hauptverhandlung am 11. Dezember 2018 (Kalenderwoche 50), mithin einem Zeitraum von mehr als 18 Wochen (bzw. mehr als vier Monaten), ausschließlich auf die Belastung der Kammer mit an-deren Haftsachen zurückzuführen ist.

Angesichts des ohnehin nicht früher durchführbaren Hauptverhandlungstermins kommt es deshalb nicht mehr darauf an, dass die Eröffnungsentscheidung erst sieben Wochen nach der Eröffnungsreife erfolgte, ohne dass das Verfahren in der Zwischenzeit – entgegen dem auch im Zwischenverfahren geltenden Beschleunigungsgrund-satz (BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2011 – Aktenzeichen: 2 BvR 2781/10, juris, Rn. 15; Beschluss vom 11 Juni 2018 – Aktenzeichen: 2 BvR 819/18, juris, Rn. 37; Beschluss vom 1. August 2018 – Akten-zeichen 2 BvR 1258/18, juris Rn. 25) – nennenswert gefördert worden wäre.

(2) Diese nicht nur vorübergehende Überlastung der 9. Strafkammer war für die Verwaltung des Landgerichts Stuttgart vorhersehbar.

Die Gerichtsverwaltung wurde durch insgesamt vier Haftprüfungsentscheidungen des Oberlandesgerichts seit April 2018 immer wieder auf die hohe Belastung der 9. Strafkammer hingewiesen. So hat der Senat bereits in dem 6-Monats-Haftprüfungsverfahren H 1 Ws 33/18 (9 Ks 111 Js 103326/17 Landgericht Stuttgart) im Beschluss vom 24. April 2018 festgestellt, dass die Kammer austerminiert war, den Verfahrensgang aber als „noch“ (!) dem Beschleunigungsgrundsatz genügend angesehen. Schon damals hat der Senat darauf hin-gewiesen, dass Engpässe in der Geschäftslage eine Haftfortdauer in der Regel nur dann rechtfertigen können, wenn sie kurzfristig sind und nicht oder kaum vorhersehbar sowie unvermeidbar.

In dem 6-Monats-Haftprüfungsverfahren H 4 Ws 125/18 (9 Ks 111 Js 108940/17 LG Stuttgart) hat der Vorsitzende der 9. Strafkammer die Terminslage und Belastung als derart kritisch beschrieben, dass sich das Oberlandesgericht Stuttgart dazu veranlasst sah, im Beschluss vom 13. Juni 2018 bei der Kammer eine Überprüfung anzuregen, ob es sich noch um eine momentane starke Belastung handle oder schon von einer dauerhaften Überlastung auszugehen sei, die dann eine Überlastungsanzeige bedinge.

Weiter hat das Oberlandesgericht in dem 6-Monats-Haftprüfungsverfahren H 4 Ws 162/18 (9 Ks 116 Js 4057/18 Landgericht Stuttgart) im Beschluss vom 12. Juli 2018 erneut darauf hingewiesen, dass die 9. Strafkammer im Blick zu behalten habe, ob sich ihre Belastung angesichts der weiteren Verfahren und der derzeit allgemeinen Belastungssituation zu einer dauerhaften Überlastung auswachse.

Seinen Hinweis, dass personelle und organisatorische Schwierigkeiten sich nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken dürfen, hat der Senat schließlich in dem 6-Monats-Haftprüfungsverfahren H 1 Ws 68/18 (9 Ks 115 Js 5724/18 LG Stuttgart) im Beschluss vom 18. Juli 2018 im Hinblick auf die Belastung der 9. Strafkammer wiederholt. Überdies hat der Senat durch die erneute Formulierung, wonach die Haftfortdauer „noch“ gerechtfertigt sei, deutlich betont, dass sich das Landgericht Stuttgart in einem Grenzbereich bewegt hat.

Die besondere Belastungssituation der 9. Strafkammer, die seit April 2018 zu nunmehr vier Haftprüfungen gemäß § 121 Abs. 2 StPO geführt hat, ist dem Landgericht Stuttgart damit seit fast einem halben Jahr bekannt, sodass bereits aus diesem Grund weder von einem kurzfristigen noch von einem nicht voraussehbaren Engpass ausgegangen werden kann.

Die sich bereits seit April 2018 abzeichnende Überlastung sowie die damit einhergehende Entlastungspflicht wurden dem Präsidium des Landgerichts zudem durch die Überlastungsanzeige des Vorsitzenden der 9. Strafkammer vom 19. Juli 2018 – unmittelbar nach Eingang der verfahrensgegenständlichen Anklageschrift – ein weiteres Mal deutlich gemacht.

Schließlich wurde die Belastung für die Gerichtsverwaltung auch dadurch offenkundig, dass Mitglieder der 9. Strafkammer aus dienstlichen Gründen Urlaubstage zurückgeben mussten.

Es war deshalb seit längerer Zeit absehbar, dass das Landgericht angesichts seiner Belastung mit Haftsachen nicht in der Lage sein wird, entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts dem Beschleunigungsgedanken folgend mit der Hauptverhandlung innerhalb von drei Monaten ab Eintritt der Eröffnungsreife zu begin-nen (BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 2007 – Aktenzeichen: 2 BvR 2563/06, juris Rn. 26). Vielmehr würde sich der Angeklagte bei einem Beginn der Hauptverhandlung am 11. Dezember 2018 bereits rund acht Monate in Untersuchungshaft befinden, davon mehr als vier Monate – länger als die Dauer des gesamten Vorverfahrens – nach Eintritt der Eröffnungsreife.

(3) Die Überlastung war für das Landgericht Stuttgart auch vermeidbar.

Die Kammer hat anlässlich der Vorlage an den Senat darauf hingewiesen, dass ihr auf die Überlastungsanzeige hin vom Präsidium zum 1. Oktober 2018 eine weitere Richterin mit einem Arbeitskraftanteil von 0,5 zugeteilt worden sei, was der Kammer eine Nachverdichtung der Verhandlungstermine mit dem oben genannten Verfahren 8 ermöglicht habe. Allerdings wies die Kammer ebenso darauf hin, dass der Vorsitzende Mitte September erkrankt sei und nicht vor Ende Oktober 2018 in den Dienst zurückkehren würde, was eine Umverteilung der Geschäfte notwendig gemacht und damit einen weiteren Aufwand nach sich gezogen habe. Das Potential für Straffungen in der Terminierung und für kurzfristig mögliche personelle Verstärkungen sei deshalb ausgeschöpft.

Im Ergebnis ist die Kammer durch den krankheitsbedingten Ausfall des Vorsitzenden seit Mitte September 2018 damit ungeachtet der Hinweise des Oberlandesgerichts und der Überlastungsanzeige aktuell noch schlechter besetzt und dem zu bewältigenden Arbeitsanfall damit noch weniger gewachsen, als vor der zum 1. Oktober 2018 erfolgten Personalzuweisung.

Diese mangelhafte Personalausstattung beziehungsweise Überlastung und die dadurch bedingten Verzögerungen bei der Behandlung der Strafverfahren und damit einhergehend verlängerter Haftzeiten werden der besonderen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, das bei der Entscheidung über die Haftfortdauer gegen die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung abzuwägen ist (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018 – Akten-zeichen: 2 BvR 819/18, jurion Rn. 27), nicht mehr gerecht. Denn wegen der im Grundgesetz und der EMRK verankerten Unschuldsvermutung ist der Freiheitsentzug bei einem Angeklagten nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheits-beschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Angeklagten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018, a.a.O., Rn. 27).

Erforderlich ist die Freiheitsbeschränkung allerdings deshalb nicht, weil die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden kann, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Angeklagten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind (BVerfG, Be-schluss vom 11. Juni 2018, a.a.O. Rn. 29).

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann deshalb niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018, a.a.O. Rn. 30 m.w.N.).

Aus diesen Gründen kann die sich seit April 2018 abzeichnende Überlastung der 9. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart im Ergebnis die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht als anderer wichtiger Grund nach § 121 Abs. 1 Var. 3 StPO rechtfertigen.

(4) Der Senat verkennt dabei weder, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache (erst) mit der Dauer der Unter-suchungshaft zunehmen, noch, dass es vorliegend um die erste Haftprüfung durch das Oberlandesgericht nach sechs Monaten geht. Der Beschleunigungsgrundsatz gebietet in Haftsachen allerdings auch schon vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 121 Abs. 1 StPO die Aufhebung eines Haftbefehls, wenn es aufgrund vermeid-barer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung gekommen ist (BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 2007 – Aktenzeichen 2 BvR 2563/06, juris Rn. 25). Ein Haftbefehl ist deshalb auch dann unverzüglich aufzuheben, wenn – wie vorliegend mit einem Hauptverhandlungsbeginn von mehr als vier Monaten nach Eröffnungsreife – hinreichend deutlich absehbar ist, dass erhebliche Ver-fahrensverzögerungen bevorstehen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. April 2011 – Aktenzeichen: 2 HEs 37/11; 2 HEs 38/11; 2 HEs 39/11, jurion Rn. 15), die vor dem Sechsmonatstermin nicht mehr zu beseitigen sind.

Die Zuweisung einer Richterin mit einem Arbeitskraftanteil von nur 50 Prozent zum 1. Oktober 2018 war angesichts der sich seit Monaten abzeichnenden Überlastung der Kammer und des seit Mitte September bekannten längeren Ausfalls des Vorsitzenden einerseits und der in Schwurgerichtsverfahren nach § 76 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GVG nicht möglichen Besetzungsreduktion, die mit einem über die normalen Verhältnisse gesteigerten zusätzlichen Personalbedarf verbunden ist, andererseits, schlicht nicht ausreichend, um der bei der 9. Straf-kammer eingetretenen Überlastung wirksam zu begegnen und dadurch den in Form des Beschleunigungsgebots konkretisierten Rechten des inhaftierten Angeklagten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gerecht zu werden.

Die Hauptlast ruht in erster Linie auf dem derzeit erkrankten Vorsitzenden, der die anstehenden Hauptverhandlungen vorzubereiten, zu leiten, die Hauptverhandlungsprotokolle zu prüfen und an der Absetzung der Urteile mitzuwirken hat. Der Senat merkt in diesem Zusammenhang an, dass es der Strafrechtspflege nicht förderlich sein kann, wenn Kammern unter Leitung ein und desselben Vorsitzenden zum Teil drei und mehr Hauptverhandlungstage in der Woche absolvieren. Eine solchermaßen überobligationsmäßige Verhandlungs-dichte mag zum Abbau von Belastungsspitzen vorübergehend hinnehmbar sein, die Regel kann sie aber nicht sein, da eine sorgfältige Sitzungsvorbereitung und ein ebensolches Absetzen von angefochtenen Urteilen ansonsten in die Abend- und Nachtstunden oder auf das Wochenende gelegt oder schlicht vernachlässigt werden müssen.

Das zeitlich begrenzte Abfangen von Überlastungsspitzen mag von Strafrichtern ausnahmsweise verlangt werden können, es kann aber nicht – wie hier – zur Regel werden, da sonst die Qualität der Rechtsprechung nicht dauerhaft zu gewährleisten ist.

Die Überlastung der 9. Strafkammer hätte deshalb nur durch essentielle Maßnahmen des Präsidiums behoben werden können. Dieses Versäumnis fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Angeklagten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Ge-richte zu genügen (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018, a.a.O. Rn. 30; BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 – Aktenzeichen: 2 BvR 1737/05, beck-online). Es ist deshalb die Aufgabe des Staates, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, a.a.O.).

Lassen sich Strafverfahren, in denen ein Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist, nicht in angemessener Zeit durchführen, weil der Staat diese Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte – aus welchen Gründen auch immer – nicht nachkommt, so hat das unabweisbar die Aufhebung von Haftentscheidungen zur Folge (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 – Aktenzeichen: 2 BvR 1737/05, Rn. 46, juris). Da selbst die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen kann (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018, a.a.O., Rn. 29), darf die Haftfortdauer nicht mehr angeordnet werden.

Hilft der Staat der Überlastung der Gerichte nicht ab, so muss er es hinnehmen und gegebenenfalls auch seinen Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass mutmaßliche Straftäter auf freien Fuß kommen, sich der Strafverfolgung und Aburteilung entziehen oder erneut Straftaten von erheblichem Gewicht begehen (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, a.a.O.).“

Die beiden für mich unfassbaren Beschlüsse gehören in die Kategorie, wie man es nicht macht, oder: Wer nicht hören will, muss fühlen.

War eine Menge zu lesen. Ist aber auch eine wichtige Frage, denn immerhin geht es um das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG.