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(Angekündigte) Verspätung? Macht nichts, verwerfe trotzdem

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Eine der „klassischen Fragen“ des Berufungsverfahrens ist die nach der Länge der Wartezeit bevor die Berufung wegen Ausbleibens des Angeklagten verworfen werden kann. Dazu kann man m.E. feststellen, dass das Berufungsgericht mindestens 15 Minuten warten muss, bevor es die Berufung des ausgebliebenen Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO verwirft. Das kann man wohl als h.M. in Rechtsprechung und Literatur bezeichnen. Davon gibt es aber Ausnahmen im Fall der sog. „angekündigte Verspätung“. Dann muss das Gericht länger warten. Darauf hat jetzt das OLG Köln im OLG Köln, Beschl. v. 08.07.2013 – 2 Ws 354/13 – noch einmal hingewiesen.

Hauptverhandlungsbeginn sollte am 13.03.2013 um 09.00 Uhr sein. Am Terminstag herrschten – wie bereits einen Tag vorher – winterliche Straßenverhältnisse in B. (Bonn [?] und Umgebung. Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat der Vorsitzende der Strafkammer um 09.00 Uhr mit dem Verteidiger des Angeklagten telefoniert, welcher mitgeteilt hat, er sei mit dem Angeklagten um 08.00 Uhr in Lohmar abgefahren und man stehe nun wegen der winterlichen Witterungsbedingungen im Stau und werde sich voraussichtlich um 20 Minuten verspäten. Der Vorsitzende hat darauf dem Verteidiger mitgeteilt, dass bei Nichterscheinen bis 09.30 Uhr die Berufung verworfen werde. Nachdem der Angeklagte bis 09.35 Uhr nicht erschienen war, hat die Strafkammer die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs.1 StPO verworfen und die Sitzung um 09:38 Uhr geschlossen. Um 09.50 Uhr sind der Angeklagte und sein Verteidiger im Sitzungssaal erschienen, worauf ihnen mitgeteilt worden ist, dass die Berufung zwischenzeitlich verworfen worden sei.

„Aus alledem ergab sich hier für die Strafkammer eine Wartepflicht, die bei Verkündung des Verwerfungsurteils noch nicht abgelaufen war.

Dabei  kann es dahingestellt bleiben, ob der Angeklagte mit seinem Verteidiger angesichts der am 13.03.2013 nicht überraschend herrschenden winterlichen Witterungsverhältnisse eine ausreichende Zeit für die Anreise zum Landgericht B. eingeplant hat. Denn der Angeklagte hat über seinen Verteidiger im Rahmen des mit dem Vorsitzenden am Terminstag gegen 09.00 Uhr geführten Telefonats jedenfalls deutlich gemacht, dass er sich dem Verfahren nicht entziehen, sondern an der Hauptverhandlung auf jeden Fall teilnehmen wollte und sein Nichterscheinen lediglich auf einer Verzögerung beruhte, die in absehbarer Zeit behoben sein würde. Eine solche Mitteilung kann zwar nicht dazu führen, dass das Gericht auf unbestimmte Zeit mit dem Verhandlungsbeginn auf den Angeklagten warten muss, jedoch waren vorliegend erweiterte Anforderungen an die Wartepflicht der Strafkammer zu stellen, aufgrund derer diese nicht bereits zwischen 09:35 Uhr und 09:38 Uhr die Berufung nach  § 329 StPO hätte verwerfen dürfen. Das Gericht war durch das Telefonat gegen 09.00 Uhr darüber informiert, dass der Angeklagte sich verspäten würde, wobei es dahinstehen kann, ob dem Vorsitzenden eine voraussichtliche Verzögerung von 20 Minuten oder 30 bis 40 Minuten mitgeteilt wurde und ob der Angeklagte den Sitzungssaal um 09.38 Uhr oder erst um 09.50 Uhr erreicht hat. Jedenfalls war aufgrund der Kenntnis des Gerichts von dem  Verzögerungsgrund eine längere Wartezeit vor der Verwerfung der Berufung geboten, die zum Zeitpunkt der Verkündung des Verwerfungsurteils noch nicht abgelaufen war, da sich der Angeklagte offensichtlich auf dem Weg zum Gericht befand und zu dem Verwerfungszeitpunkt aufgrund der konkreten, auch dem Gericht bekannten Umstände noch mit einem zeitnahen Eintreffen des Angeklagten zu rechnen war.“

Mir leuchtet nicht ein, warum man so schnell mit der Verwerfung bei der Hand ist,w enn die Verspätung angekündigt ist. Und man könnte das Ganze ja auch praktisch lösen, in dem man dem nach Verwerfung erscheinenden Angeklagten, Wiedereinstzung gewährt – von Amts wegen – und dann verhandelt. Dann ist die Sache im Zweifel auch erledigt und man muss nicht erst den Weg über das OLG gehen.

Gibt es aber nicht bloß im Rheinland, sondern auch an anderen Orten (vgl. hier).

 

Auch du mein Sohn Brutus/OLG Bremen: Was schert uns der EGMR – oder kein Abgesang auf die Berufungsverwerfung

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Der EGMR hat im EGMR, Urt. v. 08.11.2012 in Sachen Neziraj gegen Deutschland (Nr. 30804/07 – die bundesdeutsche Rechtslage und Praxis der Verwerfung der Berufung des in der Hauptverhandlung ausgebliebenen Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO trotz Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers als mit der EMRK nicht vereinbar angesehen. Es war m.E. zu erwarten, dass die deutschen OLG die Entscheidung des EGMR nicht umsetzen würden. So hat das dann auch bereits das OLG München unter Hinweis auf den Wortlaut der Vorschrift des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO abgelehnt (OLG München: Was schert mich der EGMR – oder kein Abgesang auf die Berufungsverwerfung). Nun auch das OLG Bremen im OLG Bremen, Beschl. v. 10. 6. 2013 – 2 Ss 11/13 , zwar mit einer anderen Begründung als das OLG München, aber in der Sache ebenso „unnachgiebig“ :-(. Die Leitsätze:

„1. Auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 08.11.2012 (EGMR Nr. 30804/07) steht allein die Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers der Anwendung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht entgegen.

2. . § 329 Abs. 1 S. 1 StPO enthält eine Öffnungsklausel für sämtliche Fälle der gesetzlich vorgesehenen zulässigen Vertretung durch einen Verteidiger. Die der Entscheidung des EGMR zugrunde liegende Konstellation ist jedoch deshalb nicht als (weiterer) zulässiger Vertretungsfall i. S. der genannten Norm anzusehen, weil eine derartige Auslegung zwar nicht dem Wortlaut, aber dem sich aus dem Regelungszusammenhang der Vorschrift ergebenden eindeutig entgegenstehenden Willen des nationalen Gesetzgebers widerspricht.“

M.E. wird die Frage, ob und wie das EGMR-Urteil hier in der Bundesrepublik umzusetzen ist, letztlich nur vom Gesetzgeber entschieden werden können. Ggf. sogar erst nach einem weiteren Urteil des EGMR? Verteidiger sollten in der Hauptverhandlung, wenn die Verwerfung der Berufung des Mandanten droht, aber auf jeden Fall die Einhaltung  der Vorgaben des EGMR anmahnen und die Verwerfung mit der Revision (Verfahrensrüge!!!!!!!!) angreifen.

Anruf: „Komme in ein paar Minuten…“ – Verspätung interessiert Gericht aber nicht….

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Viele OLG-Entscheidungen befassen sich mit der Verwerfung der Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO wegen unentschuldiugten Ausbleibens, ein scharfes Schwert, zu dem die LG m.E. gern und manchmal auch ein wenig vorschnell greifen, Folge: Das Verwerfungsurteil wird vom Revisionsgericht aufgehoben.Mit einer solchen vorschnellen Entscheidung befasst sich der KG, Beschl. v. 30.04.2013 – (4) 161 Ss 89/13 (86/13). Da hatte der Angeklagte, der zu 09.00 Uhr geladen, aber nicht erschienen  war, seiner Verteidigerin um 09.10 Uhr telefonisch mitgeteilt, „er befinde sich „mit seinem Wagen an der Perleberger Brücke“ und werde „in ein paar Minuten kommen“,. Das hatte die um 09.12 Uhr an das Gericht weitergeleitet. Die Strafkammer hat das Vorbringen des Angeklagten als nicht hinreichend für eine Entschuldigung erachtet, weil ein Grund für die Verspätung nicht mitgeteilt worden sei. Ein weiteres Zuwarten über 15 Minuten hinaus hatte die Kammer weder aufgrund des Gebots eines fairen Verfahrens noch aufgrund der gerichtlichen Fürsorgepflicht als erforderlich angesehen. Sie hat die Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen und – und das ist jetzt ketzerisch – sich wahrscheinlich bis zum nächsten Termin in die Kantine oder ins Dienstzimmer begeben. Die Revision des Angeklagten hatte aber mit der Verfahrensrüge Erfolg.

„…2. Die Revision ist auch begründet. Zwar ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht allein die Mitteilung der Verspätung (verbunden mit der Ankündigung baldigen Erscheinens) nicht als genügende Entschuldigung im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO angesehen hat. Es hat aber bei seiner Entscheidung verkannt, dass es die aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens abzuleitende Fürsorgepflicht geboten hätte, vor Verwerfung der Berufung einen längeren Zeitraum zuzuwarten. Die Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Angeklagte noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt. Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten (vgl. KG, Beschlüsse vom 21. November 2012 – (3) 161 Ss 239/12 (171/12) – und vom 13. Januar 2012 – (3) 161 Ss 474/11 (2/12) – m. w. Nachw.), wobei das Zuwarten hier – angesichts des der Kammer von der Verteidigerin um 9.12 Uhr mitgeteilten Umstandes, dass sich der Angeklagte auf dem Weg zum Verhandlungsort mit seinem Pkw gegen 9.10 Uhr bereits an der Perleberger Brücke und damit in unmittelbarer Nähe des Gerichts befand – voraussichtlich nur wenige Minuten betragen hätte. Mit einem noch hinreichend zeitnahen Eintreffen des Angeklagten an Gerichtsstelle war danach zu rechnen. Der Angeklagte hat in dem Telefonat mit seiner Verteidigerin die Gründe für seine Verspätung zwar nicht dargelegt. Die über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht aber unabhängig davon, ob dem Angeklagten an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (KG a.a.O.). Umstände, die auf eine derartige Einstellung des Angeklagten schließen lassen, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen und ergeben sich auch aus der Revisionsbegründung nicht. Den Urteilsgründen ist auch nicht zu entnehmen, dass der Kammer ein weiteres Zuwarten wegen anstehender weiterer Termine – auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter – schlechterdings nicht zumutbar gewesen ist (vgl. KG a.a.O.; Senat, Beschlüsse vom 29. Dezember 2006 – (4) 1 Ss 500/06 (239/06) – und vom 5. Mai 1997 – (4) 1 Ss 94/97 (41/97) – [juris]; jeweils m.w.Nachw.). Angesichts des Umstandes, dass erstinstanzlich auf eine Freiheitsstrafe von vier Monaten gegen den unbestraften Angeklagten erkannt worden ist und die Wartezeit absehbar nur wenige Minuten über die ohnehin regelmäßig einzuhaltende hinaus gegangen wäre, hätte die Kammer dem Angeklagten aufgrund der ihr obliegenden Fürsorgepflicht die Möglichkeit einräumen müssen, durch sein – wenn auch unentschuldigt verspätetes – Erscheinen die Folgen einer Säumnis abzuwenden.

Reicht die Vorlage einer „Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ als Entschuldigung?

Die Verwerfung der Berufung des unentschuldigt in der Berufungshauptverhandlung ausgebliebenen Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO macht in der Praxis häufig Schwierigkeiten, vor allem, wenn der Angeklagte zur Entschuldigung eine ärztliche Bescheinigung vorlegt. Dann geht es für den Tatrichter um die Frage: Darf ich bzw. kann ich ggf. trotzdem verwerfen? und, wenn verworfen worden ist, für den Verteidiger darum, ob sich nicht ggf. insoweit Angriffspunkte ergeben, die mit der Revision (Verfahrensrüge!!!) geltend gemacht werden können. Zu den damit zusammenhängenden Fragen gibt es immer wieder obergerichtliche Rechtsprechung, aus der ich aus neuerer Zeit exemplarisch den OLG Bamberg, Beschl. v. 06.03. 2013 – 3 Ss 20/13 – herausgegriffen habe, in dem es um die Frage der Zulässigkeit der Berufungsverwerfung bei attestierten „medizinischen Gründen“ ging.

Hier die Leitsätze des Beschlusses, leider ein wenig – wie die Entscheidung aus Bamberg selbst auch – mit Zitaten überfrachtet:

1. Der Begriff der ‚genügenden Entschuldigung‘ darf nicht eng ausgelegt werden. Denn § 329 I 1 StPO enthält eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf. Die Regelung birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Angeklagten das ihm nach Art. 103 I GG verfassungsrechtlich verbürgte rechtliche Gehör entzogen wird (Festhaltung u.a. an OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29 und [für § 74 II OWiG] OLG Bamberg, Beschluss vom 28.11.2011 – 3 Ss OWi 1514/11 = OLGSt StPO § 329 Nr. 31).

 2. Die Entschuldigung ist ‚genügend‘, wenn die abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Erscheinenspflicht andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen. Entscheidend ist nicht, ob sich der Angeklagte genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist. Den Angeklagten trifft daher hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis. Vielmehr muss das Gericht, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachgehen. Bloße Zweifel an einer ‚genügenden Entschuldigung‘ dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen (Festhaltung u.a. an BGHSt 17, 391/396 f.; BGHR StPO § 329 Abs. 1 Satz 1 Ladung 1; BayObLGSt 2001, 14/16; 1998, 79/81; BayObLG, Beschluss vom 19.10.2004 – 1 Ob OWi 442/04; OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29 sowie [jeweils zu § 74 II OWiG] OLG Bamberg wistra 2007, 79 f. und NStZ-RR 2009, 150; OLG Braunschweig, Beschluss vom 25.03.2010 – 3 Ss (OWiZ) 37/10 [bei Juris]; KG DAR 2011, 146 f. und OLG Bamberg NZV 2011, 409 f.).

 3. Die Nachforschungsverpflichtung des Gerichts ist andererseits nicht grenzenlos. Ihre Auslösung setzt nach dem Gesetzeszweck (wenigstens) voraus, dass der Angeklagte vor der Hauptverhandlung (schlüssig) einen Sachverhalt vorträgt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen (Festhaltung u.a. an OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29 sowie [jeweils zu § 74 II OWiG] OLG Bamberg wistra 2007, 79 f. und NStZ-RR 2009, 150).

 4. Wird als Entschuldigungsgrund eine Erkrankung geltend gemacht, ist für seine Schlüssigkeit die Darlegung eines behandlungsbedürftigen und/oder Arbeitsunfähigkeit bewirkenden krankheitswertigen Zustandes erforderlich aber auch ausreichend. Geschieht dies durch die (gleichzeitige) Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, braucht aus dieser die Art der Erkrankung jedenfalls solange nicht zu entnehmen sein, als Gründe dafür, dass die Bescheinigung als erwiesen falsch oder sonst als offensichtlich unrichtig anzusehen sein könnte oder nicht von dem bezeichneten Aussteller herrührt, fehlen (Festhaltung u.a. an BayObLGSt 1998, 79 ff. und OLG Bamberg NStZ-RR 2009, 150).“

Zur Entscheidung zwei Anmerkungen:

  • Die Entscheidung gibt den aktuellen Stand der h.M. zur Auslegung des Begriffs der „genügenden Entschuldigung“ bei Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung wieder, wenn dieser vorbringt, erkrankt zu sein, und dies durch ein ärztliches Attest belegt (vgl. auch Kotz in: Burhoff/Kotz (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2013, Teil A: , Rn 174 ff.).
  • Neu ist – und darauf weist auch der Kollege Kotz in einer Anmerkung zu dieser Entscheidung im StRR hin – dass das OLG die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ärztlichen Attest ohne Einschränkung gleichsetzt. Zwar wurde der AU-Bescheinigung teilweise schon bisher ein hoher Beweiswert zuerkannt, die Arbeitsunfähigkeit wurde jedoch teilweise auch als Minus zur Verhandlungs- bzw. Reiseunfähigkeit angesehen mit der Folge, dass sich die Darlegungspflicht des Angeklagten konkret auf das Unvermögen, vor Gericht zu erscheinen, erstrecken musste.

Da sag noch mal einer, in der Rechtsprechung bewege sich nichts. 🙂

 

OLG München: Was schert mich der EGMR – oder kein Abgesang auf die Berufungsverwerfung

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Ich hatte im Dezember über das EGMR, Urt. v. 08.11.2012 in Sachen Neziraj gegen Deutschland (Nr. 30804/07 (vgl. hier und hier) betreffend die deutsche Rechtslage im Hinblick auf die Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO berichtet. M.E. der zumindest teilweise Abgesang der Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO, aber ich hatte schon damals so meine Zweifel, ob die deutschen Gerichte dem folgen würden (vgl. zur verneinten Konventionswidrigkeit auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27. 2. 2012 – III-2 RVs 11/12 und OLG Hamm, Beschl. v. 14. 6. 2012 – III 1 RVs 41/12).

Und siehe da: Ich habe mich nicht getäuscht. Da ist die erste OLG-Entscheidung, die dem EGMR nicht folgt (fast bin ich geneigt zu schreiben: natürlich aus Bayern). Das OLG München geht im OLG München, Beschl. v. 17.01.2013, 4 StRR (A) 18/12 – von folgenden Leitsätzen aus:

„1. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 8. November 2012, StraFo 2012, 490ff., wonach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht mit Art. 6 Abs. 1 und 3 MRK vereinbar sei, verkennt das Regelungsgefüge dieser Vorschrift und die Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht.

2. Selbst bei einer unterstellten Konventionswidrigkeit ist die Vorschrift angesichts ihres eindeutigen Wortlautes von deutschen Gerichten aufgrund ihrer Bindung an die geltenden Gesetze anzuwenden und eine auf die Konventionswidrigkeit der Vorschrift gestützte Revision offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).“

Begründet wird das vom OLG u.a. wie folgt:

„aa) Zwar hält der EGMR in seiner neuesten Rechtsprechung (vgl. die vom Angeklagten angeführte Entscheidung vom 08.11.2012, Application no. 30804/07, Neziraj v. Germany, dort insbesondere Rdn. 55ff. – auszugsweise veröffentlicht in StraFo 2012, 490ff.) tatsächlich die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO im Fall eines verteidigten Angeklagten für nicht mit Art. 6 Abs. 1, 3 MRK vereinbar. Begründet wird das mit dem Recht auf Verteidigung, welches zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens gehöre und welches der Angeklagte auch nicht allein dadurch verliere, dass er zur Verhandlung nicht erscheine.

 bb) Wie allerdings bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 27.12.2006, 2 BvR 535/04 (zitiert nach juris) ausgeführt hat, verkennt das alleinige Abstellen auf das Recht des Angeklagten zur effektiven Verteidigung das Regelungsgefüge des § 329 StPO. Auf die entsprechenden Ausführungen des BVerfG (aaO Rdn. 9ff.) wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Die durch § 329 Abs. 1 S. 1 StPO festgelegte Pflicht des Angeklagten zur persönlichen Anwesenheit (auf welche nebst den Folgen des Ausbleibens bereits in der Ladung hingewiesen wird) dient nämlich auch der Wahrheitsfindung und ist somit eine Ausprägung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, über die der Angeklagte nicht disponieren kann, wie bereits § 338 Nr. 5 StPO zeigt. Hiermit setzt sich die Entscheidung des EGMR nicht auseinander.

Darüber hinaus scheint der Entscheidung des EGMR ein unzutreffendes Verständnis der Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht zugrunde zu liegen. Anders als in vielen anderen europäischen Rechtsordnungen ist der Verteidiger gerade nicht ohne weiteres der Vertreter des Angeklagten, der dessen Anwesenheit in der Hauptverhandlung entbehrlich macht, wie bereits § 234 StPO zeigt; er bedarf etwa auch für die Rücknahme von Rechtsmitteln einer gesonderten Ermächtigung des Angeklagten (vgl. § 302 Abs. 2 StPO).“

Nun ja – „scheint der Entscheidung des EGMR ein unzutreffendes Verständnis der Stellung des Verteidigers im deutschen Strafprozessrecht zugrunde zu liegen“ – ganz schön mutig. Ich bin gespannt, wie es weiter geht und vor allem: was macht die Bundesregierung oder der Gesetzgeber?

Nachtrag: Die Überschrift lautete zunächst: „OLG München: Was schert mich der EuGH – oder kein Abgesang auf die Berufungsverwerfung“, was natürlich falsch war. Muss „EGMR“ heißen und ist so auch richtig gestellt.