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StPO I: Beleidigung, oder: Wenn der Strafantrag fehlt

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Heute mal wieder ein Tag der StPO-Entscheidungen, den ich mit dem BGH, Beschl. v. 06.10.2020 – 4 StR 168/20 – eröffne. Gegenstand des Revisionsverfahrens war ein Urteil des LG Bielefeld. Das hatte den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Körperverletzung und in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung, Beleidigung und mit Bedrohung sowie wegen Körperverletzung und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Es hatte zudem die Unterbringunge des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug der Strafe von einem Jahr angeordnet. Ferner hatte das LG eine Adhäsionsentscheidung getroffen.

Dagegen die Revision des Angeklagten, die beim BGH Erfolg hatte: Der BGH beanstandet zwar die Verurteilung wegen Totschlags u.a. nicht, aber wegen der übrigen Delikte passt dem BGH so einiges nicht:

„1. Während der Schuld- und Strafausspruch im Übrigen keinen sachlichrechtlichen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, hält seine Verurteilung im Fall II. 2. g) wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung sowie wegen Beleidigung rechtlicher Prüfung nicht stand.

Nach den insoweit getroffenen Feststellungen des Landgerichts geriet der Angeklagte auf einem Platz in B. in eine Auseinandersetzung und wurde daraufhin von Polizeibeamten zur Verhinderung von Straftaten dem Zentralen Polizeigewahrsam des Polizeipräsidiums zugeführt. Dort kam er der Aufforderung, sein Mobiltelefon auszuhändigen, nicht nach und beschimpfte einen der Polizeibeamten u.a. als „Nazi“. Im Anschluss daran wehrte sich der Angeklagte gegen den Versuch, ihn vom Aufnahmeraum in die Gewahrsamszelle zu verbringen, und trat kräftig und gezielt gegen die Beine der Polizeibeamten, wodurch einer von diesen Verletzungen erlitt.

a) Der (tatmehrheitlichen) Verurteilung wegen Beleidigung steht ein Verfahrenshindernis entgegen. Das Verfahren ist deshalb insoweit einzustellen.

Es fehlt an dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB, § 158 Abs. 2 StPO erforderlichen schriftlichen Strafantrag des Verletzten. Das Schriftformerfordernis des § 158 Abs. 2 StPO verlangt grundsätzlich die Unterschrift des Antragstellers (vgl. BGH, Beschluss vom 6. November 2019 – 4 StR 392/19, Rn. 2 mwN). In der von PHK R. am 13. Januar 2019 aufgenommenen Strafanzeige findet sich zwar unterhalb der Angabe der Personalien des geschädigten Polizeibeamten der formularmäßige Vermerk „Ich stelle Strafantrag“; eine Unterschrift des Verletzten ist indes nicht beigefügt. Ein Fall, in dem eine Lockerung des Erfordernisses einer eigenhändigen Unterzeichnung des Strafantrags in Betracht kommt (vgl. RGSt 71, 358; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 158 Rn. 11 mwN; MüKo-StPO/Kölbel, 1. Aufl., § 158 Rn. 44), liegt nicht vor.

b) Soweit das Landgericht den Angeklagten in diesem Fall wegen tateinheitlich mit einer Körperverletzung begangenen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) verurteilt hat, liegt ein Darlegungsmangel vor, weil die Strafkammer keine Feststellungen zur Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme des Angeklagten getroffen hat.

Eine Ingewahrsamnahme nach polizeirechtlichen Vorschriften ist eine Vollstreckungshandlung im Sinne des § 114 Abs. 3 StGB. Hierunter fällt jede Handlung einer dazu berufenen Person, welche die notfalls zwangsweise durchsetzbare Verwirklichung des im Einzelfall bereits konkretisierten Staatswillens bezweckt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juni 2020 – 5 StR 157/20, NJW 2020, 2347; Urteil vom 6. Mai 1982 – 4 StR 127/82, NStZ 1982, 328, jeweils mwN). Dies ist bei dem Vollzug eines polizeirechtlichen Gewahrsams der Fall. Infolgedessen ist nach § 114 Abs. 3 StGB die Vorschrift des § 113 Abs. 3 StGB entsprechend anwendbar, wonach die Tat nicht als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte strafbar ist, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist.

Das Landgericht hat nur festgestellt, dass der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des Tattages „in eine Auseinandersetzung“ geraten war und „infolgedessen“ durch Polizeibeamte zur Verhinderung von Straftaten dem Zentralen Polizeigewahrsam des Polizeipräsidiums Bielefeld zugeführt wurde. Feststellungen zu den Hintergründen, die eine Prüfung ermöglichen, ob die Voraussetzungen des Gewahrsams nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW vorgelegen haben, hat das Landgericht nicht getroffen. Mit der Frage hat es sich auch an anderer Stelle des Urteils nicht befasst.

Damit unterliegt auch die für sich genommen rechtsfehlerfreie tateinheitliche Verurteilung wegen Körperverletzung der Aufhebung (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juli 2019 – 1 StR 265/18, Rn. 25; Urteil vom 29. August 2007 – 5 StR 103/07, Rn. 51).“

Tja, man sollte bei einer Verurteilung wegen Beleidigung dann vielleicht doch mal prüfen, ob der erforderliche Strafantrag vorliegt; immerhin sollten sich der Vorsitzende und der Berichterstatter die Akte ja „angesehen“ haben.

Und: Bei solchen Entscheidungen frage ich mich immer, warum man eigentlich nicht von der segensreichen Vorschrift des § 154 StPO Gebrauch macht. Das würde manches vereinfachen. Aber nein: Die Verurteilung wegen Beleidigung muss dann auch noch sein.

StGB II: Beleidigung?. oder: Beleidigungsfreie Sphäre

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In der zweiten Entscheidung des Tages geht es auch noch einmal um eine Verurteilung wegen Beleidigung.

Das KG hat in dem Zusammenhang im KG, Beschl. v. 14.07.2020 – (4) 161 Ss 33/20 (43/20) noch einmal zum Begriff der sog. „beleidigungsfreie Sphäre“ Stellung genommen.

Zur Tathandlung der Beleidigung hatte das LG  im Wesentlichen Folgendes festgestellt:

„Der Angeklagte und der mit ihm befreundete Zeuge K waren im April 2018 Polizeimeisteranwärter in der Klasse xx der Polizeiakademie Berlin; die kollegial miteinander befreundeten Zeugen Z, R, S und L waren dort Polizeimeisteranwärter in der Parallelklasse yy. Als am Freitag, dem 6. April 2018, der Unterricht an der Polizeiakademie […] um etwa 15 Uhr endete, wollten die Anwärter, die sich nach dem Sportunterricht in ihren Zimmern im „Haus 3“ umgezogen hatten, das Akademiegelände verlassen und den Heimweg antreten. Die „Männerstuben“ der genannten Klassen befanden sich im ersten Stockwerk des Gebäudes, jene der Anwärterinnen im zweiten Stockwerk.

Die Polizeimeisteranwärterinnen Z und R liefen aus dem zweiten Stockwerk kommend gemeinsam die Treppe in dem Gebäude in Richtung des Ausgangs hinunter. Ihnen folgten etwa einen Treppenabsatz dahinter aus dem ersten Stockwerk kommend der Angeklagte und dessen Kollege und Freund, der Zeuge K. In einer Entfernung von etwa einem Meter hinter dem Angeklagten und dem Zeugen K ging – wie dem Angeklagten bewusst war – der Polizeimeisteranwärter und Zeuge S, ein befreundeter Klassenkollege der beiden Zeuginnen, die Treppe hinunter; er war hinter dem Angeklagten und seinem Begleiter aus dem Bereich der „Männerstuben“ zur Treppe gegangen. Ein Stück hinter ihm folgte der Zeuge L. S und L hatten mit der Zeugin R vereinbart, dass diese beide mit ihrem Auto ein Stück des Heimwegs mitnehmen würde.

Der Angeklagte äußerte in dieser Situation gegenüber dem Zeugen K in normaler Sprechlautstärke mit Blick auf eine der beiden vor ihnen laufenden Zeuginnen: „Der würd’ ich geben, der Kahba“. Damit brachte er in jugendlicher Vulgärsprache zum Ausdruck, er würde gerne mit „der Kahba“ geschlechtlich verkehren. Das Wort „Kahba“ ist arabisch und bedeutet „Schlampe“ oder „Prostituierte“ und wird mit dieser Bedeutung in der deutschen Jugendsprache – insbesondere in der Rap-Musik – verwendet; in diesem abwertenden Sinne und mit der Zielrichtung, seine Missachtung gegenüber der von ihm gemeinten Frau auszudrücken, verwendete der Angeklagte das Wort „Kahba“. Zusätzlich wies er mit einem Nicken und einer Armbewegung in Richtung der beiden Zeuginnen. Der Zeuge S hörte die an den Zeugen K gerichtete Bemerkung des Angeklagten, wie dieser billigend in Kauf genommen hatte, und sah die Gesten in Richtung der Zeuginnen…“

Das hatte das LG wie folgt gewürdigt.

„In Bezug auf die – für die Strafzumessung möglicherweise relevante und vom Revisionsführer ausdrücklich angegriffene – Feststellung, dem Angeklagten sei bewusst gewesen, dass der Zeuge S zum Zeitpunkt der Tat etwa einen Meter hinter ihm ging, er habe billigend in Kauf genommen, dass der Zeuge S die hier verfahrensgegenständliche Beleidigung hören werde, begegnet die Beweiswürdigung nach den maßgeblichen Rechtsgrundsätzen (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2016 – 4 StR 289/16 – [juris] m.w.N.; Senat, Beschluss vom 29. November 2019 – [4] 161 Ss 115/19 [203/19] – m.w.N.) durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat sich insoweit im Wesentlichen von folgenden Erwägungen leiten lassen:

„Die Feststellungen der Strafkammer, dass dem Angeklagten bewusst war, dass der Zeuge S direkt hinter ihm ging, und dass er billigend in Kauf nahm, dass auch der Zeuge S seine Äußerung gegenüber dem Zeugen K hören konnte, fußt insbesondere auf einer Würdigung der festgestellten Personenanordnung auf der Treppe im Zeitpunkt des Ausspruchs durch den Angeklagten in Zusammenschau mit der festgestellten Sprechlautstärke.

aa) Zwar ging der Zeuge S hinter dem Angeklagten und war dessen Augenmerk nach den Feststellungen auf die vor ihm gehenden Zeuginnen Z und R gerichtet, dennoch schließt die Strafkammer es mit Blick insbesondere auf die Wahrnehmungen der Zeuginnen Z und R, die die Personenanordnung auf der Treppe übereinstimmend mit den Zeugen S und L übereinstimmend derart beschrieben haben, dass sie beide vor dem Angeklagten und dem Zeugen K die Treppe hinunter liefen und diesen in geringem Abstand der Zeuge S und diesem der Zeuge L folgten, aus, dass dem Angeklagten nicht bewusst war, dass S nur etwa einen Meter hinter ihm lief, als er die Äußerung gegenüber K tätigte. In der Situation des Dienstschlusses an der Polizeiakademie für jedenfalls zwei Anwärterklassen war die Anwesenheit weiterer Polizeischüler auf dem Weg von den Stuben zum Ausgang selbstverständlich; es kann dem Angeklagten hier mit Blick auf den geringen Abstand, in dem S hinter ihm lief, nicht verborgen geblieben sein, dass unmittelbar hinter ihm eine weitere Person – der Zeuge S – die Treppe hinabging.

bb) Aus dem Umstand, dass sich der Angeklagte in normaler Sprechlautstärke wie festgestellt äußerte, schließt die Strafkammer, dass er billigend in Kauf nahm, dass S den Ausspruch hören würde. Denn die Hauptverhandlung hat keinen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür ergeben, dass der Angeklagte darauf hätte vertrauen können, der unmittelbar hinter ihm gehende S höre das in normaler Sprechlautstärke Gesagte nicht. Es blieb in der festgestellten Konstellation – wie dem Angeklagten mit Blick auf die Personenanordnung und insbesondere den geringen Abstand zum Zeugen S bewusst war – dem Zufall überlassen, ob S die Äußerung hören oder aber nicht wahrnehmen würde.“

Und das KG meint:

„Der Revisionsführer beanstandet zu Recht, dass die Schlussfolgerung des Landgerichts in Bezug auf den bedingten Vorsatz hinsichtlich der Wahrnehmung seiner Äußerung durch den Zeugen S auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage beruhte.

Die Tatsache, dass sich der Zeuge S zum Zeitpunkt der beleidigenden Äußerung etwa einen Meter hinter dem Angeklagten befand, rechtfertigt nicht den von der Strafkammer gezogenen Schluss, dass dem Angeklagten die Anwesenheit des Zeugen S „nicht verborgen geblieben sein kann“. Es gibt keinen Erfahrungssatz, der besagt, dass man eine Person, die im Abstand von einem Meter auf einer Treppe folgt, immer wahrnimmt. Zutreffend beanstandet der Revisionsführer, dass die Feststellungen keine Anhaltspunkte dafür bieten, dass der Angeklagte den Zeugen S auf andere Weise als optisch hätte wahrnehmen können, etwa durch lautes Trampeln, vom Zeugen S geführte Gespräche oder andere sensorische Wahrnehmungen. Eine optische Wahrnehmung ließ sich jedoch gerade nicht nachweisen, weil der Blick und die Aufmerksamkeit des Angeklagten nach vorn gerichtet waren.

Soweit die Strafkammer „insbesondere mit Blick auf die Wahrnehmungen der Zeuginnen Z. und R“ ausschließt, dass dem Angeklagten nicht bewusst gewesen sei, dass der Zeuge S nur etwa einen Meter hinter ihm ging, teilt sie lediglich das Ergebnis der Wahrnehmungen der Zeuginnen (nämlich die Personenanordnung auf der Treppe) mit, ohne darzulegen, auf welche Weise die Zeuginnen ihre Wahrnehmungen gemacht haben. Nach den Feststellungen liefen die Zeuginnen etwa einen Treppenabsatz vor dem Angeklagten nach unten. Naheliegend ist, dass sich die Zeuginnen umdrehten und die Treppe nach oben blickten, weil sie Ausschau nach den Zeugen S und L hielten, mit denen sie verabredet waren. Anhaltspunkte dafür, dass die Zeuginnen die Personenanordnung auf der Treppe auf andere Weise als durch einen Blick nach oben wahrnahmen, bieten die Urteilsgründe jedenfalls nicht. Wenn jedoch die Zeuginnen die Personenanordnung auf der Treppe durch einen Blick nach oben wahrnahmen, erklärt dies nicht, weshalb der nach vorn schauende und seine Aufmerksamkeit nach vorn richtende Angeklagte gewusst haben muss, dass der Zeuge S hinter ihm lief.

Auch die Tatsache, dass der Angeklagte sich in „normaler Sprechlautstärke“ (somit keineswegs besonders laut) äußerte, trägt die Schlussfolgerung auf einen bedingten Vorsatz nicht. Denn auch insoweit argumentiert die Strafkammer damit, dass der Angeklagte schließlich wusste, dass sich der Zeuge S nur einen Meter hinter ihm befand. Dieses Wissen ist jedoch nicht rechtsfehlerfrei festgestellt.

Die Argumentation, in Anbetracht des Dienstschlusses zweier Anwärterklassen sei die Anwesenheit weiterer Polizeischüler im Treppenhaus selbstverständlich gewesen, greift zu kurz. Die Feststellungen belegen nicht, dass sich zur Tatzeit so viele Personen im Treppenhaus aufhielten, dass es selbstverständlich war, dass sich andere Personen nicht nur ebenfalls im Treppenhaus aufhielten, sondern sich darüber hinaus auch in unmittelbarer Hörweite befanden. Der ebenfalls im Treppenhaus in der Nähe des Angeklagten befindliche Zeuge L hat die Äußerung gerade nicht gehört. Die Anwesenheit weiterer Personen in Treppenhaus belegt somit noch nicht, dass die Äußerung zwangsläufig für andere Personen im Treppenhaus zu hören war.

Den Feststellungen lässt sich nicht – auch nicht näherungsweise – entnehmen, wie viele Personen sich zur Tatzeit im Treppenhaus aufhielten. Die Größe der Anwärterklassen wird nicht mitgeteilt. Zudem weisen die Feststellungen gerade nicht aus, dass sich nach Beendigung der letzten Unterrichtseinheit alle Anwärter sofort ins Treppenhaus begaben, was eine gleichzeitige Anwesenheit aller Anwärter im Treppenhaus nahe legt. Vielmehr begaben sich die Anwärter nach dem Sportunterricht zurück in ihre Stuben und zogen sich um. Hierfür dürften sie nicht exakt dieselbe Zeit benötigt haben. Eher dürfte es zu einer gewissen zeitlichen Dehnung beim Verlassen der Stuben gekommen sein, so dass sich die gleichzeitige Anwesenheit aller Anwärter im Treppenhaus – und damit eine zwangsläufige Anwesenheit weiterer Personen in unmittelbarer Hörweite – nach den Feststellungen jedenfalls nicht aufdrängt.“

Der Senat hebt daher die Feststellungen zur subjektiven Tatseite in Bezug auf den Zeugen S auf. Die übrigen Feststellungen sind hingegen rechtsfehlerfrei getroffen, sie können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Die neue Strafkammer ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen dürfen.“

 

StGB I: Meinungsfreiheit versus Schmähkritik, oder: BVerfG stellt klar

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Heute stelle ich dann drei Postings zu StGB-Fragen ein, und zwar zunächst:

Wer sich mit Beleidigungsdelikten (§§ 185 ff. StGB) befasst, muss sich zwangsläufig auch mit der Rechtsprechung des BBerfG zur Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) befassen. Und das Zusammenspiel dieser beiden Regelungen ist nicht einfach. Letztlich geht es immer um die Frage: Noch straffrei oder schon Beleidigung? Und in dem Zusammenhnag spielt die Rechtsprechung des BVerfG eine große Rolle.

Dazu hat das BVerfG vor einiger Zeit noch einmal vier Entscheidungen veröffentlicht, die die verfassungsrechtlichen Maßgaben für strafrechtliche Verurteilungen wegen ehrbeeinträchtigender Äußerungen noch einmal zusammen stellen. Es sind die BVerfG, Beschl. v.  19.05.2020 – 1 BvR 2459/19, 1 BvR 2397/19, 1 BvR 1094/19 und 1 BvR 362/18.

Die stelle ich hier heute aber nicht im Einzelnen vor, sondern ich zitiere aus der dazu vorliegenden PM Nr. 49/2020 vom 19.06..2020 des BVerfG. Darin heißt es u.a.:

„…..Die Kammer hat diese Verfahren zum Anlass genommen, um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen klarstellend zusammenzufassen. Dabei hat sie bekräftigt, dass die Beurteilung, ob eine ehrbeeinträchtigende Äußerung rechtswidrig und unter den Voraussetzungen der §§ 185, 193 StGB strafbar ist, in aller Regel von einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen abhängig ist, die eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen einer Äußerung und ihrer Bedeutung erfordert. Dabei hat sie wesentliche Kriterien zusammengefasst, die bei dieser Abwägung von Bedeutung sein können. In Abgrenzung dazu hat die Kammer wiederholt, dass eine Abwägung nur in besonderen Ausnahmefällen und nur unter engen Voraussetzungen entbehrlich sein kann, nämlich in den – verfassungsrechtlich spezifisch definierten – Fällen einer Schmähkritik, einer Formalbeleidigung oder einer Verletzung der Menschenwürde. Sie hat die speziellen Voraussetzungen solcher Fallkonstellationen klargestellt und hervorgehoben, dass deren Bejahung von den Fachgerichten klar kenntlich zu machen und in gehaltvoller Weise zu begründen ist. Umgekehrt hat die Kammer betont, dass die Ablehnung eines solchen Sonderfalls, insbesondere das Nichtvorliegen einer Schmähung, das Ergebnis der Abwägung nicht präjudiziert.

Unter Anwendung dieser Maßstäbe hat die Kammer entschieden, dass in zwei Verfahren die von den Fachgerichten vorgenommene Abwägung, wonach die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts die Meinungsfreiheit überwiege, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Demgegenüber genügt die Abwägung in den anderen beiden Verfahren auch unter Berücksichtigung des fachgerichtlichen Wertungsrahmens den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, weil jeweils keine hinreichende Auseinandersetzung mit den konkreten Situationen erkennbar ist, in denen die Äußerungen gefallen sind.

Sachverhalte:

  1. Dem Verfahren 1 BvR 2397/19, in dem die Kammer die auch für die anderen Verfahren maßgeblichen Maßstäbe übergreifend zusammenfasst, liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einem von ihm geführten Internetblog zugrunde. Der Beschwerdeführer hatte sich 2002 von seiner damaligen Partnerin getrennt und führte anschließend vor verschiedenen bayerischen Gerichten zahlreiche rechtliche Auseinandersetzungen um das Umgangsrecht mit der gemeinsamen Tochter, das ihm ab 2012 ganz verwehrt wurde. 2016 verfasste er in seinem Internetblog aus Anlass einer für ihn nachteiligen Berufungsentscheidung drei weitere Einträge. Darin nannte er unter anderem die an der Entscheidung beteiligten Richter sowie diverse andere Personen namentlich, stellte Fotos von ihnen ins Netz und bezeichnete sie mehrfach als „asoziale Justizverbrecher“, „Provinzverbrecher“ und „Kindesentfremder“, die Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien. Sie hätten auf Geheiß des namentlich genannten „rechtsradikalen“ Präsidenten des Oberlandesgerichts offenkundig massiv rechtsbeugend agiert. Der Beschwerdeführer wurde deshalb von den Strafgerichten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Zwar handele es sich wegen des sachlichen Bezugs und der verständlichen schweren emotionalen Situation des Beschwerdeführers nicht um Schmähkritik. Bei einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen überwiege jedoch der Ehrschutz. Die Kammer beurteilte das als verfassungsgemäß.
  2. Dem Verfahren 1 BvR 2459/19 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einer verwaltungsgerichtlichen Klageschrift zugrunde. Die Stadtbibliothek hatte – nach Rücksprache mit dem dortigen Rechtsamt – bei der Bestellung eines Buchs von ihm verlangt, das Bestellformular selbst auszufüllen. Hintergrund war, dass der Beschwerdeführer vorher eine Fernleihgebühr für ein Buch nicht entrichtet hatte, weil er der Ansicht gewesen war, ein anderes Buch bestellt zu haben. Schon zuvor hatte die Leiterin des Rechtsamtes in einer anderen Angelegenheit Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer gestellt, aufgrund derer ein Strafverfahren wegen Urkundenfälschung gegen ihn eingeleitet worden war. In diesem Verfahren hatte er die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens über deren Geisteszustand beantragt. Noch ehe über diesen Antrag entschieden wurde, erhob der Beschwerdeführer wegen des Streits mit der Stadtbibliothek Klage vor dem Verwaltungsgericht. In der Klageschrift äußerte er, „unter Berücksichtigung, … dass in der Sache die Leiterin des Rechtsamtes R., eine in stabiler und persönlichkeitsgebundener Bereitschaft zur Begehung von erheblichen Straftaten befindlichen Persönlichkeit, deren geistig seelische Absonderlichkeiten und ein Gutachten zu deren Geisteskrankheit Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen sind, involviert ist“, behalte er sich vor, „ein Ordnungsgeld in angemessener Höhe zu beantragen“. Aufgrund dieser Äußerung verurteilten die Strafgerichte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Zwar handele es sich nicht um einen Fall der Schmähkritik, da ein Sachbezug nicht völlig fehle. Die gebotene Abwägung falle jedoch zugunsten des Persönlichkeitsrechts aus. Auch dies beurteilte die Kammer als verfassungsgemäß.
  3. Dem Verfahren 1 BvR 362/18 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers im Rahmen einer Dienstaufsichtsbeschwerde zugrunde. Der als Rechtsanwalt tätige Beschwerdeführer vertrat 2015 einen Tierschutzverein, für den er vor einem Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt ein Erlaubnisverfahren führte, an dessen Ende die vom Verein beantragte Erlaubnis erteilt wurde. Anschließend erhob der Beschwerdeführer eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den zuständigen Abteilungsleiter, in der er die Ansicht vertrat, das Amt habe eine unglaubliche materielle Unkenntnis, langsame Bearbeitungszeiten und eine offensichtlich vorsätzliche Hinhaltetaktik in der Sache gezeigt. Nach Schilderung von aus Sicht des Beschwerdeführers kritikwürdigen Vorfällen äußerte er, nunmehr gehe es noch um die Verfahrenskosten des Vereins. Diese habe die Behörde zwar bereits formell anerkannt, es scheine aber so, als ob der zuständige Abteilungsleiter durch immer wieder neue Vorgaben letztlich die Kosten nicht erstatten möchte. Weiter hieß es, dessen Verhalten „sehen wir mittlerweile nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber an“. Die Strafgerichte verurteilten den Beschwerdeführer daraufhin wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Durch die verwendete Formulierung „persönlich“, „hinterhältig“ und „asozial“ sei es nur noch um eine konkrete Diffamierung des von ihm namentlich ausdrücklich benannten Abteilungsleiters gegangen, ohne dass dabei noch ein konkreter Bezug zur Sache erkennbar sei. Die Kammer beurteilte dies als eine Verletzung der Meinungsfreiheit.
  4. Dem Verfahren 1 BvR 1094/19 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einem einkommensteuerrechtlichen Festsetzungsverfahren zugrunde. Im Rahmen des Verfahrens, in dem insbesondere die Abzugsfähigkeit der Kosten für ein gerichtliches Vorgehen gegen den Rundfunkbeitrag strittig war, erhielt der Beschwerdeführer ein beigelegtes Rundschreiben des nordrhein-westfälischen Finanzministers. Dort hieß es unter anderem, Steuern machten „keinen Spaß, aber Sinn. Die Leistungen des Staates, die wir alle erwarten und gern nutzen, gibt es nicht zum Nulltarif“. Daraufhin verfasste der Beschwerdeführer ein weiteres Schreiben an die Finanzbehörden, das hauptsächlich die Frage der Absetzbarkeit der Kosten des rechtlichen Vorgehens gegen den Rundfunkbeitrag zum Gegenstand hatte. Am Ende erklärte er, weitere Dienstaufsichtsbeschwerden jetzt zu erheben, dürfte sinnlos sein: „Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen, normalerweise aber als Redaktionsirrtum des Gesetzgebers behandelt.“ Wegen dieser Äußerung verurteilten die Strafgerichte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Der Beschwerdeführer überschreite die Grenze eines Angriffs auf die Ehre des Finanzministers, den er als Person herabwürdige. Zwar werde nicht verkannt, dass die freie Meinungsäußerung ein hohes Rechtsgut sei und dass in der Öffentlichkeit stehende Personen deutliche Kritik auszuhalten hätten. Doch seien auch diese Personen wie andere Bürger geschützt, wenn die Grenze eines persönlichen Angriffs überschritten werde. Auch dies beurteilte die Kammer als Verletzung der Meinungsfreiheit.

Also eine Quote von 2 : 2. Wegen der Einzelheiten der Erwägungen des BVerfG verweise ich auf die Beschlüsse und die PM.

Pflichti II: „Sozialnazi“ – Schmähkritik?, oder- Jedenfalls rechtlich schwierig.

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, kommt mit dem LG Münster, Beschl. v. 06.08.2020 – 11 Qs-82 Js 6977/18-42/20 – auch aus dem OLG Hamm-Bezirk. Im Verfahren wird dem Angeklagten eine Beleidigung vorgeworfen. Der Kollege Urbanzyk, der mir den Beschluss geschickt hat, teilt zum Sachverhalt, der sich aus dem LG-Beschluss ergibt, mit:

„Streit in einer Obdachlosenunterkunft. Mitarbeiter der Stadt fordert Person auf, Zimmer dort zu beziehen. Später will Freund der Person mit Beamtem den Vorfall diskutieren. Der Beamte verweigert Gespräch. Der Freund ist verärgert, nennt den Beamten im Weggehen einen “Sozialnazi“.

Das LG sagt: In diesem Fall braucht der Angeklagte einen Pflichtverteidiger:

„DerBeschluss beruht auf § 140 Abs. 2 StPO. Danach liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung u.a. dann vor, wenn wegen der Schwierigkeit der Rechtslage ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Eine schwierige Rechtslage besteht u.a. dann, wenn solche Rechtsfragen zu entscheiden sind, deren Beantwortung selbst unter Strafverfolgungsbehörden umstritten ist (vgl. Julius/Schiemann in GerckefJulius/Temming/Zöller, StPO, 6. Auflage 2019, Rn. 18 zu § 140). Eine solche Rechtslage ist hier gegeben.

Zur Beantwortung der Frage, ob es sich im Falle unsachlicher und ehrverletzender Äußerungen gegenüber staatlichen Bediensteten noch um zulässige Formen der Meinungsfreiheit oder um herabsetzende Formalbeleidigungen bzw. Schmähkritik handelt, bedarf es einer sorgfältigen Prüfung von Anlass und Kontext einer Äußerung und der anschließenden Wertung, inwieweit ein sachliches Anliegen bzw. die persönliche Kränkung im Vordergrund steht (vgl. BVerfG, BeckRS 2020, 12825). Dass auch Juristen die zutreffende Einordnung und Wertung erhebliche Schwierigkeiten bereitet, ergibt sich bereits aus den zahlreichen auch in letzter Zeit zu dieser Frage ergangenen Entscheidungen des BVerfG (vgl. u.a. BVerfG a.a.O.; BeckRS 2020, 12819; BeckRs 2020, 12823; BeckRs 2020, 12825; NJW 2019, 2600): Vor diesem Hintergrund ist die Beiordnung eines Verteidigers zur Ermöglichung einer sachgerechten Verteidigung unter dem Gesichtspunkt des „fairen Verfahrens“ geboten. „

„unter dem Gesichtspunkt des „fairen Verfahrens“ geboten“? – ich würd eher sagen: Rechtlich schwierig.

Beleidigung II: „solange …. die rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert“, oder: Strafbar?

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Bei dem zweiten Beschluss des Tages handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 19.05.2020 – 1 BvR 1094/19. In ihm geht es um die Verfassungsbeschwerde gegen die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung des ehemaligen Finanzministers des Landes NRW in einem Schreiben an die Finanzbehörden.

Folgender Sachverhalt: Im Rahmen eines einkommensteuerrechtlichen Festsetzungsverfahrens, in dem insbesondere die Abzugsfähigkeit der Kosten für ein gerichtliches Vorgehen gegen den Rundfunkbeitrag strittig war, erhielt der Beschwerdeführer neben dem sonstigen behördlichen Schriftverkehr ein an ihn persönlich gerichtetes, mit dessen abgedruckter Unterschrift versehenes Rundschreiben des nordrhein-westfälischen Finanzministers. Dort heißt es unter anderem: „Steuern machenkeinen Spaß, aber Sinn. Die Leistungen des Staates, die wir alle erwarten und gern nutzen, gibt es nicht zum Nulltarif“. Daraufhin äußerte sich der Beschwerdeführer im März 2017 am Ende eines weiteren Schreibens an die Finanzbehörden, das hauptsächlich die Frage der Absetzbarkeit der Kosten des rechtlichen Vorgehens gegen den Rundfunkbeitrag, die angebliche Rechtswidrigkeit dieses Beitrags sowie die vermeintlich rechtswidrige Vorauszahlungsverpflichtung für das nächste Steuerjahr betraf und das auch allgemein eine „Drangsalierung“ und „Tyrannisierung“ der Bürger seitens des Fiskus geltend machte, wie folgt: