In die heute beginnende 36. KW. starte ich mit zwei Entscheidungen zu einem etwas abgelegeneren Gebiet, das aber immer mehr an Bedeutung zunimmt, nämlich Auslieferungsrecht.
An der Spitze der Berichterstattung steht der BVerfG, Beschl. v. 18.08.2021 – 2 BvR 908/21, den mir der Kollege Marquort aus Kiel geschickt hat. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem um die Auslieferung eines Verfolgten nach Rumänien gestritten wird. und zwar wegen der Haftbedingungen in Rumänien. Da hatte das BVerfG das OLG Schleswig schon einmal gerügt und ihm mitgeteilt, dass es sein „Hausaufgaben nicht gemacht hat. So dann jetzt auch in diesem Beschluss:
„Die angegriffene Entscheidung vom 15. April 2021 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 4 GRCh.
a) Aus Art. 4 GRCh folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass die zu überstellende Person nach einer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 42 ff.).
b) Hat das Gericht im ersten Prüfungsschritt systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt, so ist es im zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Prüfungsschritt verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt ,sein wird. Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation, wie sie sich zum Entscheidungszeitpunkt darstellt. Da das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung absoluten Charakter hat, darf die vom Gericht vorzunehmende Prüfung der Haftbedingungen nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden, sondern muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 46 m.w.N.).
aa) Bei der von dem mitgliedstaatlichen Gericht vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m2, zwischen 3 m2 und 4 m2 oder über 4 m2 liegt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche in einer Gemeinschaftszelle ist die Fläche der Sanitärvorrichtungen nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 48 m.w.N.).
bb) In Anbetracht der Bedeutung des Raumfaktors bei der Gesamtbeurteilung der Haftbedingungen begründet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Umstand, dass der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 m2 liegt, eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK. Diese starke Vermutung kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich kumulativ erstens um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 m2 handelt, diese Reduzierung zweitens mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht sowie drittens die Haftanstalt allgemein angemessene Haftbedingungen bietet und die betroffene Person keinen anderen Bedingungen ausgesetzt ist, die als die Haftbedingungen erschwerende Umstände anzusehen sind. Verfügt ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle über einen persönlichen Raum, der zwischen 3 m2 und 4 m2 beträgt, kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK vorliegen, wenn zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zum Freistundenhof beziehungsweise zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, eine zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen. Bei mehr als 4 m2 persönlichem Raum in einer Gemeinschaftszelle bleiben die weiteren Aspekte der Haftbedingungen für die erforderliche Gesamtbeurteilung relevant (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 Rn. 49 ff. m.w.N.).
c) Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 52).
aa) Zunächst muss sich das Gericht auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel belegen können (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 60; und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, EU:C:2019:857, Rn. 52). Für die gründlich vorzunehmende Prüfung, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Übergabe aufgrund der Haftbedingungen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird, muss das Gericht innerhalb der nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: RbEuHb) zu beachtenden Fristen den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll.‘ Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, die ersuchten Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Frist zu übermitteln (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 64; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 53).
bb) Diese einzuholenden zusätzlichen Informationen sind Voraussetzung dafür, dass die Prüfung einer bestehenden Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung einer Person auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht. Das mit einem Übermittlungsersuchen befasste Gericht muss deshalb die Entscheidung über die Zulässigkeit der Übergabe so lange aufschieben, bis es die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihm gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht, innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss, das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 54 m.w.N.).
cc) Art. 15 Abs. 2 RbEuHb verpflichtet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht zur Einholung zusätzlicher, für die Übergabeentscheidung notwendiger Informationen. Als Ausnahmebestimmung kann diese Regelung nicht dazu herangezogen werden, die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats systematisch um allgemeine Auskünfte zu den Haftbedingungen in den dortigen Haftanstalten zu ersuchen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht bezieht sich nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der für den europäischen Rechtshilfeverkehr vorgesehenen Fristen beschränkt sich diese vielmehr auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen die gesuchte Person nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch pur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn> C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 84 bis 87 und Rn. 117; und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, EU:C:2019:857, Rn. 64 bis 66; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 55).
d) Hat der Ausstellungsmitgliedstaat eine Zusicherung abgegeben, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren werde, muss sich das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht auf eine solche konkrete Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht aber nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände darf das Gericht auf der Grundlage konkreter Anhaltspunkte feststellen, dass für die betroffene Person trotz der Zusicherung eine echte Gefahr besteht, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh unterworfen zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 56 m.w.N.).
2. Nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht ist seiner Verpflichtung nach Art. 4 GRCh, auf der zweiten Prüfungsstufe im konkreten Fall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung in einer rumänischen Haftanstalt einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, nicht hinreichend nachgekommen.
a) Die rumänischen Behörden haben mit Schreiben vom 1. Februar und vom 11. März 2021 neue Informationen zu den Haftbedingungen erteilt, die den Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung erwarten sollen. Mit Schreiben vom 1. Februar 2021 wurde ihm erstmals unabhängig von einer konkreten Haftanstalt ein persönlicher Raum von mindestens 3 m2 zugesichert. Diese Zusicherung unterscheidet sich von den zuvor abgegebenen Zusicherungen der rumänischen Behörden, die sich noch auf konkret benannte Haftanstalten bezogen und die ihm insbesondere im halboffenen Vollzug lediglich eine Mindestfläche von 2 m2 gewährleisteten. Das Oberlandesgericht hat in der angegriffenen Entscheidung nicht berücksichtigt, dass dem Gericht eigenständige Prüfungspflichten auch hinsichtlich der neu erteilten Zusicherung oblägen. So kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh auch dann vorliegen, wenn ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle zwar über einen persönlichen Raum, der zwischen 3 m2 und 4 m2 liegt, verfügt, zu diesem Raum aber weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 -2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 50/m.w.N.). Dem Schreiben vom 1. Februar 2021 lässt sich für den halboffenen Strafvollzug indes keine weitere Beschreibung der Haftbedingungen entnehmen, die unabhängig von der Haftanstalt gelten sollen, in der der Beschwerdeführer untergebracht werden soll. Ferner bleibt unklar, wie die rumänischen Behörden den persönlichen Mindestraum berechnen, insbesondere, ob die Berechnung die Fläche für den Sanitärbereich einbezieht.
b) Das Oberlandesgericht ist auch nicht darauf eingegangen, dass unklar bleibt, ob die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Quarantänezeit in einer Einzel- oder einer Gemeinschaftszelle erfolgen soll. Im Schreiben vom 11. März 2021 sprechen die rumänischen Behörden ohne weitere Konkretisierung von einer „getrennten Unterbringung der Gefangenen“. Dieser Umstand kann bei einer mitgeteilten Mindestfläche von lediglich 3 m2 nicht offenbleiben, da es ansonsten an einer hinreichenden Tatsachengrundlage für die vom Gericht vorzunehmende Gesamtwürdigung der Haftbedingungen fehlt.
c) Schließlich hat es das Oberlandesgericht versäumt, die von den rumänischen Behörden abgegebenen neuen Zusicherungen hinsichtlich ihrer Belastbarkeit zu überprüfen. Eine eigene Gefahrenprognose des Gerichts, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 56), lässt sich dem angegriffenen Beschluss nicht entnehmen.“
Wird man beim OLG Schleswig nicht so gerne lesen. Aber muss man durch. Und nach der „Anleitung“ wird es jetzt ja wohl klappen.