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Corona II: Ist das InfektionsschutzG verfassungsmäßig?, oder: Das AG Wuppertal fragt das BVerfG

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Und als zweite Entscheidung zu Corona dann der AG Wuppertal, Beschl. v. 05.07.2021 – 82 OWi-623 Js 547/21-12/21. Das AG hatte/hat über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:

„Am 12.12.2020 gegen 23:05 Uhr stieg die Betroffene gemeinsam mit dem Zeugen H an der Bushaltestelle „T-Straße“ in Y aus den Bus und lief mit dem genannten Zeugen die T-Straße in nördliche Richtung. Auf der T-Straße trafen die Betroffene und der Zeuge sodann gegen 23:10 Uhr vor dem Haus mit der Nr. 58 auf insgesamt fünf ehemalige Mitschüler der Betroffenen. Über das zufällige Zusammentreffen erfreut stellten sich die insgesamt sieben Personen zusammen und unterhielten sich für mindestens anderthalb Minuten, wahrscheinlich deutlich länger. Hierbei tauschte man insbesondere Erinnerungen über „alte Zeiten“ aus. Die an dem Treffen beteiligten Personen hatten alle das 18. Lebensjahr vollendet und entstammten zum Zeitpunkt des Treffens jeweils unterschiedlichen, also insgesamt sieben verschiedenen Hausständen. Keiner von den Beteiligten trug eine Maske, auch hielten die Beteiligten keinen Abstandstand von 1,5 Meter untereinander ein, sondern standen vielmehr bei ihren Unterhaltungen jeweils in Armlänge voneinander entfernt. Der Betroffenen war bewusst, dass derartige Zusammentreffen im öffentlichen Raum durch die in Nordrhein-Westfalen zum Tatzeitpunkt geltenden Coronaschutzverordnung vom 30.11.2020 in der ab dem 09.12.2020 gültigen Fassung (im Folgenden: CoronaSchVO) verboten waren und Verstöße mit Bußgeld sanktioniert wurden. Aufgrund der Freude über das unverhoffte Zusammentreffen mit ihren ehemaligen Mitschülern entschloss sie sich jedoch zu dem Verstoß gegen die CoronaSchVO.

Aufgrund des dargestellten Sachverhalts erließ das Ordnungsamt der Stadt Y unter dem 26.01.2021 einen Bußgeldbescheid gegen die Betroffene, in dem eine Geldbuße von 250 €

Das AG geht davon aus, dass „sich die Betroffene objektiv eines Verstoßes gegen § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1a CoronaSchVO schuldig gemacht. Ihr war das gegenständliche Verbot auch bekannt, sie entschied sich vorliegend bewusst für den Verstoß. Dementsprechend ist gemäß § 18 Abs. 1, 2 Nr. 1 CoronaSchVO ein Bußgeld gegen sie verhängt worden.

Aber: Das AG hält die Verordnungsermächtigung für verfassungswidrig und hat deshalb das BVerfG angerufen und ihm folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt:

Ist § 32 S. 1 Infektionsschutzgesetz (in der vor dem 23.04.2021 geltenden Fassung) i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 und 2 Infektionsschutzgesetz, § 28a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, 3, 5 und 6 Infektionsschutzgesetz (in der vor dem 31.03.2021 geltenden Fassung) mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar?

Corona I: AG Weimar und AG Wuppertal melden sich, oder: Zwei etwas „ungewöhnliche“ Entscheidungen

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Heute dann der Start in  die 15. KW.

Und ich beginne diese Woche dann mal wieder mit „Corona“, dem Monothema der letzten Monate. Zunächst werde/will ich eine AG-Entscheidung erwähnen.

Nein, es ist nicht der AG Weimar, Beschl. v. 08.04.2021 – 9 WF 148/21, der gestern durch das Netzt gegeistert ist und die Wogen hat hoch schlagen lassen. Der Beschluss – das sieht man als Kundiger gleich am Aktenzeichen – das „F“ steht beim AG für „Familiengericht“ – ist im familiengerichtlichen Verfahren in Form einer einstweiligen Anordnung (eA) nach §§ 49 ff. FamFG) ergangen, wohl auf einen Antrag nach § 1666 BGB. Jedenfalls habe ich das so verstanden, wobei ich einräume: Die 178 Seiten, die der Beschluss lang ist, habe ich nur überflogen.

Denn: Der Beschluss untersagt zwei Schulen in Weimar, die Maskenpflicht anzuordnen, weil damit das Kindeswohl von zwei Schülern gefährdet sei. Spätestens da merkt man, dass etwas nicht stimmen kann. Denn:

  • Das Familiengericht überprüft die Maskenpflicht, die auf den Regelungen der Corona-VO in Thüringen beruht? Dafür ist wohl kaum das AG im familiengerichtlichen Verfahren zuständig. M.E. hat hier jemand eine Bühne gesucht und, wenn man die Kommentare unter den den diversen Veröffetlichungen sieht, auch gefunden.
  • Dafür sprechen die 178 Seiten, dafür spricht der in meinen Augen unsinnige Tenor des Beschlussen, der m.E. nocht vollstreckbar ist.
  • Dafür sprechen die „gehörten“ (?) Sachverständigen, die alle – gelinde ausgedrückt – Corona, wenn nicht leugnen, dann aber zumindest relativieren.
  • Dafür spricht der Veröffentlichungszeitpunkt: Auf einem Samstag im Internet. Da dauern Reaktionen der Fachbehörden lange – m.E. haben sie zu lange gedauert.

Daher: Ich werde den Beschluss – es handelt sich nicht um ein „Urteil“, wie an einigen Stellen zu lesen war – hier nicht verlinken. Sondern ich warte mal ab, was passiert. Ob Rechtsmittel möglich sind, bin ich mir gar nicht so sicher, wenn ich den § 57 FamFG sehe – aber ich bin kein Familienrechtler. Und wer soll es  einlegen? Wer war am Verfahren beteiligt? Das Land Thüringen offenbar nicht, denn das ist laut Beschluss ja nur angehört worden. Also so einfach ist das vielleicht gar nicht, wie das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in seiner gestrigen PM meint.

Nun zur eigentlichen Sache – wobei: Dafür, dass ich zu dem AG Weimar-Beschluss nicht bloggen woltte, ist es nun doch ein wenig mehr geworden. Aber egal.

Vorstellen wollte ich hier eine andere amtsgerichtliche Entscheidung, nämlich das AG Wuppertal, Urt. v. 29.03.2021 – 82 OWi-923 Js 192/21-2/21. Mit dem Urteil hat das AG Wuppertal vier Betroffene von einem Verstoß gegen die Kontaktbeschränkungen des § 2 Abs. 1, 2 Nr. 1 CoronaschutzVO NRW vom 30.10.2020 in der ab dem 10.11.2020 gültigen Fassung frei gesprochen. Die vier Betroffenen sollen sich am 15.11.2020 gegen 0:22 Uhr mit Angehörigen von mehr als dem eigenen und einem weiteren Hausstand getroffen haben.

Das AG spricht frei mit der Begründung:

§ 2 Abs. 1, 2 CoronaSchVO vom 30.10.2020 in der ab dem 10.11.2020 gültigen Fassung scheidet als taugliche Rechtsgrundlage für die gegenständlichen Bußgeldbescheide aus, weil die Norm gegen höherrangiges Recht verstößt. Sie ist nicht mit Art. 20 Abs. 3 bzw. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar.

Die Begründung stelle ich nicht näher ein. Das hat man m.E. alles schon mal gelesen.

Was mich an dem Urteil erstaunt: Die Argumentation des AG ist nicht neu – das AG nimmt ja auch selbst auf „AG Dortmund, Urteil vom 02. November 2020, 733 OWi – 127 Js 75/20, 64/20, Rn. 29 ff.; AG Ludwigsburg, Urteil vom 29. Januar 2021, 7 OWi 170 Js 112950/20, Rn. 23 ff.; AG Reutlingen, Beschluss vom 09. Dezember 2020, 4 OWi 23 Js 16246/20, Rn. 4 ff.; AG Weimar, Urteil vom 11. Januar 2021, 6 OWi – 523 Js 202518/20, Rn.10 ff.“ – über die Entscheidungen habe ich hier zum Teil ja auch berichtet. Von der abweichenden obergerichtlichen Rechtsprechung werden nur das OVG Münster (Beschl. v. 30.11.2020 – 13 B 1675/20.NE) und das OLG Hamm (Beschl. v. 08.02.2021, 1 RBs 4-5/21)  erwähnt: Deren Argumentation kann aber “ nicht verfangen“ bzw. es wird die „zugrundeliegende Wertung …. nicht geteilt.“ Kann man so machen, ist aber in meinen Augen nicht ganz sauber, wenn man zuvor den Sachverständigen und deren Auffassung breiten Raum eingeräumt hat.

Was mich dann erstaunt hat, ist das „obiter Dictum“ des AG, in dem es heißt:

„8)  Obiter Dictum

Der Unterzeichner erlaubt sich das Urteil mit den folgenden Anmerkungen zu beschließen:

Gerichtliche Entscheidungen stellen keine rein mathematische Subsumtion unter einen Tatbestand dar, sondern werden im Kontext politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder auch pandemischer Entwicklungen getroffen. Sie lassen sich auch in der Entscheidungsfindung nicht von ihren – gegebenenfalls weitreichenden – Konsequenzen entkoppeln. Dies kenntlich zu machen kann zu einer ehrlichen Auseinandersetzung über die gegenständlichen Einschränkungen und die sie betreffenden gerichtlichen Entscheidungen beitragen.

Bei der Lektüre einer Vielzahl von gerichtlichen Entscheidungen das Regelungsregime in der Pandemie betreffend konnte sich der Unterzeichner nicht des Eindrucks erwehren, dass diese oft weniger von inhaltlicher Überzeugung als von dem Wunsch getragen zu sein schienen, die effektive Bekämpfung einer unbestritten gefährlichen Pandemie nicht zu erschweren. Auch die auffällige Diskrepanz in der verfassungsrechtlichen Bewertung zwischen Rechtsprechung und Lehre zeigt in diese Richtung.

Bei allem Verständnis für diese Beweggründe sei hier der Hinweis erlaubt, dass so das Bewusstsein für ein grundlegendes Problem getrübt werden könnte. Gerade in Krisenzeiten dürfen die demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes keine Aufweichung erfahren. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung selbst ist der wirksamste Schutz gegen autoritäre und antidemokratische Strömungen, welche oft in Krisenzeiten und den mit ihnen verbundenen Unsicherheiten an Einfluss gewinnen. Parlamentarische Entscheidungen tendieren dazu, differenzierter auszufallen und erreichen so ein höheres Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz, die einer krisenbedingten Polarisierung und Radikalisierung entgegenwirken kann. Auch die friedensstiftende Wirkung parlamentarisch-demokratischer Entscheidung streitet somit für den vorliegenden Versuch, von grundgesetzlichen Standards auch in Pandemiezeiten nicht abzuweichen.“

Da schießt das AG m.E. über das Ziel hinaus. Es hat in seinem Urteil die Frage zu beantworten, ob den Betroffenen ein Verstoß gegen die CoronaschutzVO NRW zur Last gelegt werden kann. Die hat es verneint. Und damit ist es dann m.E. auch gut (oder nicht). Über die Begründung kann man streiten und sie wird sicherlich vom OLG Düsseldorf überprüft werden. Alles andere/danach ist m.E. überflüssig.

Zum Schluss: Da ich heute andere Dinge zu tun habe, als ggf. Kommentare zu moderieren, habe ich die Kommentarfunktion geschlossen.

Pflichti III: Nachträgliche Bestellung, oder: Einmal hopp, einmal topp

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Und als letztes Posting dann noch einmal zwei Entscheidungen zum Dauerbrenner: Nachträgliche Bestellung.

Zunächst der AG Wuppertal, Beschl. v. 01.02.2021 – 20 Gs 12/21. Das AG hat beigeordnet:

„Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO lagen vor. Dabei ist es unerheblich, ob die Untersuchungshaft in einer anderen Sache vollstreckt wurde, da eine Einschränkungen der Verteidigungsmöglichkeiten, die eine Pflichtverteidigerbeiordnung erst erfordern, auch in diesem Falle gegeben ist (OLG Frankfurt, Beschluss vom 22.04.2010, – 3 Ws 351/10).

Die Bestellung ist nach § 141 Abs. 1 StPO unverzüglich durchzuführen. Der Umstand, dass dies vorliegend aufgrund der weiteren Aktenbearbeitung durch die Staatsanwaltschaft zunächst unterblieben ist, darf dem Angeschuldigten nicht zum Nachteil gereichen, auch wenn das Verfahren später am 18.12.2020 eingestellt wurde (vgl. auch LG Bonn, Beschluss vom 28.04.2020 -21 Qs 25/20).

Es handelt sich auch nicht um eine unzulässige rückwirkende nachträgliche Bestellung, da keine Pflichtverteidigerbeiordnung für eine bereits erfolgte Verteidigung vor Antragstellung erfolgen soll (insoweit abweichend von OLG Brandenburg, NStZ 2020, 625).

Und dann der LG Berlin, Beschl. v. 25.01.2021 – 511 Qs 3/21, das getreu dem Motto: Das haben wir schon immer so gemacht, eine nachträgliche Bestellung abgelehnt hat:

„Die Bestellung eines Pflichtverteidigers dient nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder seines Verteidigers, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und gewährleistet den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf (KG, BeckRS 2006, 3283 m.w.N.; KG, Beschluss vom 30. Dezember 2019 — 4 Ws 115/19; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 — 2 Ws 122/20 – juris).

Diese Interessenlage ist entfallen.

Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das abgeschlossene Verfahren ist schlechthin unzulässig und unwirksam und mithin grundsätzlich ausgeschlossen, und zwar auch dann, wenn der Wahlverteidiger bereits rechtzeitig seine Bestellung beantragt hatte (KG, BeckRS 2006, 3283 m.w.N.; KG, Beschluss vom 20. August 2019 — 4 Ws 81/19; KG, Beschluss vom 9. April 2020 —2 Ws 30/20, 2 Ws 31/20 — juris; OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 — 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20 — juris). Denn der Verteidiger hat seine Leistung bereits als Wahlverteidiger auf Grund eines Mandatsverhältnisses abschließend erbracht und die mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger einsetzende öffentlich-rechtliche Pflicht zum Tätigwerden kann er nach Abschluss des Verfahrens nicht mehr erfüllen (KG, BeckRS 2006, 3283 m.w.N.). Ein Verteidiger kann im Laufe eines Verfahrens daher nur so lange bestellt werden, wie er überhaupt noch eine Tätigkeit entfalten kann. Eine rückwirkende Bestellung für bereits abgeschlossene Verfahrensabschnitte scheidet hingegen aus (KG, Beschluss vom 20. August 2019 — 4 Ws 81/19; KG, Beschluss vom 13. Februar 2019 — 2 Ws 32/19; OLG Hamburg a.a.O.).

Auch das Gebot der fairen Verfahrensführung zwingt nicht zu einer anderen Entscheidung. Neben dem Umstand, dass vorliegend zwischen dem Antrag vom 14. Juli 2020 und der Mitteilung des Todes des Beschuldigten keine fehlerhafte Verzögerung durch die Justizbehörden stattfand, ist selbst bei einer solchen untunlichen Verzögerung nicht durch eine rückwirkende Bestellung zu reagieren, sondern durch eine Untätigkeitsbeschwerde nach § 304 StPO (KG, Beschluss vom 20. August 2019 — 4 Ws 81/19).

Eine Änderung der Rechtsprechung ist auch unter Berücksichtigung des Gesetzes vom 10. Dezember 2019 zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (Bundesgesetzblatt I Seite 2128  ff.) nicht veranlasst, welches insoweit keine Ausdehnung der Pflichtverteidigerbestellung enthält. Vielmehr gilt weiterhin, dass die Bestellung eines Verteidigers grundsätzlich nur für die Zukunft erfolgt (so ausdrücklich: KG, Beschluss vom 30. Dezember 2019 — 4 Ws 115/19; OLG Hamburg a.a.O.; vgl. auch OLG Brandenburg a.a.O.; KG, Beschluss vom 9. April 2020 — 2 Ws 30/20, 2 Ws 31/20 — juris).

Soweit vereinzelt im Hinblick auf die Gesetzesänderung eine rückwirkende Bestellung befürwortet wird, da die Intention des Gesetzgebers auch die Freistellung eines mittellosen Beschuldigten von den Kosten seiner Verteidigung sei (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 20; vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 — Ws 962/20, Ws 963/20 — juris), verkennt diese Ansicht, dass nach dem zugrundeliegenden Artikel 4 der PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 der „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ nur dann besteht, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist“, mithin für das weitere Verfahren von Bedeutung ist. Keineswegs sieht die Richtlinie vor, den Beschuldigten nachträglich in jedweder Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung frei zu halten (OLG Hamburg a.a.O.). So liegt der Fall auch hier. Eine Freistellung des Beschuldigten ist nicht im Interesse der Rechtspflege erforderlich. Aber selbst wenn die Freistellung des mittellosen Beschuldigten eine rückwirkende Bestellung rechtfertigen würde, kann dies nicht gleichermaßen die Freistellung des Nachlasses eines verstorbenen Beschuldigten rechtfertigen.“

Wenn ich schon „Kosteninteresse des Angeklagten“ lese und „vereinzelt“.

Pflichti II: Schwierigkeit der Sachlage, oder: Sichtung von kinderpornografischem Material

Die beiden nächsten Entscheidungen, die ich vorstelle, kommen aus dem Wuppertaler Bezirk. Das AG Wuppertal hatte im AG Wuppertal, Beschl. v. 05.11.2020 – 14 Gs 148/20 – einen Pflichtverteidiger bestellt, damit der Beschuldigte Bildmaterial sichten kann, es handelte sich um „kinderpornografische Schriften“. Dagegen dann die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die das LG Wuppertal im LG Wuppertal, Beschl. v. 16.12.2020 – 23 Qs 160/20 – verworfen hat:

Denn der Beschuldigte soll sich – freilich mit den in § 147 StPO vorgesehenen Einschränkungen – durch die Ausübung seines Akteneinsichtsrecht bereits im Ermittlungsverfahren in die Lage versetzen können, die gegen ihn im Raum stehenden Vorwürfe in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu prüfen, um sich hierzu gegebenenfalls schon frühzeitig sachgerecht erklären oder von seinem Beweisantragsrecht Gebrauch machen zu können. Hierzu gehört auch der Umstand, ob es sich bei den in Rede stehenden Abbildungen überhaupt um kinderpornographische Schriften im Sinne des § 184b StGB handelt. Aus der Ermittlungsakte erhält der Beschuldigte zum Inhalt des (seinem Einsichtsrecht richtigerweise entzogenen) Sonderbandes nur insoweit Auskunft, als dass die Polizei in Hannover feststellt, in der betreffenden Whatsapp-Gruppe seien nach der Bewertung der Sachbearbeiterin („aus hiesiger Sicht“) kinderpornographische Schriften hochgeladen worden. Auch wegen des Inhalts des geführten Chatverkehrs wird auf den Sonderband verwiesen. Auf dieser Grundlage ist dem Beschuldigten jedoch die Subsumtion unter die entscheidenden gesetzliche Tatbestandsmerkmale nicht möglich. Auf die Herstellung einer Beschreibung der Abbildungen durch die Ermittlungsbehörde oder das Abwarten des Ausgangs des Ermittlungsverfahrens muss sich der Beschuldigte nicht verweisen lassen, wenn es sich bei den Abbildungen – wie hier – um den Kern des gegen ihn erhobenen Tatvorwurfs handelt. Dass der Verteidiger bislang tatsächlich kein Interesse an der Einsichtnahme in den Sonderband gezeigt hat, spielt für die Frage, ob eine sachgerechte Verteidigung die Einsichtnahme erfordert, keine Rolle.“

Erstattung von privaten Sachverständigenkosten, oder: Gebt den Gerichten aktuelle Literatur!!

entnommen openclipart.org

Am Gebührenfreitag heute zwei Entscheidungen, die sich mit Erstattungsfragen befassen. Zunächst dazu der AG Wuppertal, Beschl. v. 16.01.2019 – 26 OWi 723 Js 208/18. Ergangen ist die Entscheidung in einem Bußgeldverfahren, in dem der Betroffene frei gesprochen worden ist. Die notwendigen Auslagen sind der Landeskasse auferlegt worden. Und die hat der Kollege Geißler aus Wuppertal, der mir die Entscheidung geschickt hat, geltend gemacht. Darunter waren auch die Kosten für ein privates Sachverstädnigengutachten. Das AG hat die festgesetzt:

„Ebenso wurden die geltend gemachten Gutachterkosten antragsgemäß berücksichtigt.

Es entspricht nahezu allgemeiner Meinung, dass private Ermittlungen — mögen sie auch die Verteidigung erleichtern — normalerweise nicht notwendig sind (Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 464a Rn 16 mzwN aus der kasuistischen LG Dresden: Erstattungsfähigkeit von Privatgutachten (NStZ-RR 2010, 61) Rspr. — auch zu dort angenommenen Ausnahmefällen). Denn die Interessen des Beschuldigten bzw. Betroffenen im Straf- bzw. Bußgeldverfahren sind durch die gesetzliche Verpflichtung der Ermittlungsbehörden und Gerichte zur umfassenden Sachaufklärung gewahrt, auf die die Verteidigung zudem durch die Stellung von Beweisanträgen und -anregungen in sich vom Ermittlungsverfahren bis zur Hauptverhandlung zunehmend steigerndem und formalisiertem Maße Einfluss nehmen kann (§§ 163a II, 219, 220, 244 111—VI StPO), wobei die Einflussmöglichkeiten des Betroffenen im Bußgeldverfahren zwar deutlich gemindert sind (§§ 55 II 2, 77 II OWiG), dies aber am Ausgangspunkt der Überlegungen, dass nämlich das Verfahren ein Amtsermittlungsverfahren ist, welches schon auf der Ebene der Ermittlungen auch auf alle dem Betr. günstigen Umstände zu erstrecken ist (§§ 160 II StPO, 46 11 OWiG), nichts ändert.

Allerdings werden hiervon Ausnahmen anerkannt.

Dabei kann im Einzelfall eine Beauftragung auch vor der Hauptverhandlung dann notwendig im Sinne des Kostenerstattungsrechts sein, wenn der Betroffene mit einer (im Bußgeldverfahren erleichterten) Ablehnung eines Beweisantrags nach § 77 11 OWiG rechnen muss, dass das Gericht einer Beweisanregung nicht nachkommt und auf Grund der Kompliziertheit der Beweisthematik ein mündliches Gutachten eines ggf. von ihm selbst zu ladenden Sachverständigen ohne schriftliches Vorgutachten oder jedenfalls vorherige Einarbeitung in dem Fall nicht sinnvoll zu erstatten ist.

So liegt der Fall hier.

Wenn allerdings ein Privatgutachten in diesem Sinne ex ante ausnahmsweise notwendig war, kann es auf eine Relevanz für den späteren Freispruch/die Einstellung ex post nicht mehr ankommen (so auch OLG Celle, StV 2006, 32f.: Privatgutachten nach Ablehnung des mit substantiierten Angriffen auf das Erstgutachten begründeten Antrags auf Einholung LG Dresden: Erstattungsfähigkeit von Privatgutachten (NStZ-RR 2010, 61) eines Zweitgutachtens; vgl. auch LG Hamburg, Beschl. v. 30. 1. 2008 — 603 Qs Owi 28/08 — juris).

Die Gutachterkosten sind daher nach Ansicht des Gerichts grundsätzlich erstattungsfähig.

Für die Höhe des erstattungsfähigen Stundensatzes des privaten Sachverständigen ist entsprechend der Grundsatzentscheidung des BGH vom 25. Januar 2007 — VII ZB 74/06 — (NJW 2007, 1532) das JVEG nicht direkt anwendbar. Die Stundensätze des JVEG sind jedoch als Richtlinie anzusehen, auf deren Grundlage der privatrechtlich vereinbarte Stundensatz einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen ist. Weicht der Stundensatz um 20% oder mehr vom Stundensatz der entsprechenden Honorargruppe des JVEG ab, bedarf es für die Plausibilitätsprüfung besonderer Darlegungen durch den Anspruchsteller. Diese Darlegungen sind mit Schriftsatz vom 19.12.2018 erfolgt. Das Gericht erachtet danach den in Ansatz gebrachten Stundensatz des privaten Sachverständigen als plausibel, mithin als erstattungsfähig. Auch der berechnete Auslagenersatz begegnet keinen Bedenken.“

Zwei Dinge:

  1. Ich bin davon überzeugt, dass die Staatskasse die Entscheidung nicht „schlucken“ wird. Sie wird Rechtsmittel einlegen. Wir werden davon also wahrscheinlich noch einmal hören.
  2. Aufruf an das Land NRW: Stellt doch Euren Justizbehörden aktuelle Literatur zur Verfügung. Dann müssen die nicht mit der 52. (!!) Auflage eines Kommentars arbeiten, von dme in diesem Jahr die 62. Auflage erscheinen wird. Unfassbar.