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StGB III: Passloser Aufenthalt in der Bundesrepublik, oder: Vorsatz, da echtes Unterlassungsdelikt

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Und dann zum Tagesschluss noch das – schon etwas ältere – AG Stralsund, Urt. v. 30.08.2021 – 342 Cs 32/19. Ich habe es aber auch erst vor kurzem übersandt bekommen. Es geht um einen Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthaltsG, also passloser Aufenthalt eines Ausländers in der Bundesrepublik. Das AG hat den Angeklagten von diesem Vorwurf – aus tatsächlichen Gründen – frei gesprochen.

„Der Angeklagte bestreitet durch seinen mit Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger die Tatbegehung und lässt sich dahingehend ein, dass ihm weder die Abschiebungsandrohung noch der Bescheid des Landkreises Vorpommern-Rügen vom 11.07.2016 und die Erinnerung der Aufforderung zur Passbeschaffung vom 08.08.2018 zugegangen sei.

Demgemäß ergibt sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme folgender Sachverhalt:

Der Angeklagte ist ghanaischer Staatsangehöriger und hielt sich seit dem 13.10.2014 in Deutschland auf. Der Verteidiger hat dies für den Betroffenen so eingeräumt.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Angeklagten mit ausweislich des im Hauptverhandlungstermin verlesenen Bescheides vom 24.02.2016 ab und bestimmte, dass der Angeklagte innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung das Bundesgebiet zu verlassen habe, andernfalls werde er ausgewiesen.

Ein Hinweis auf die Strafbarkeit passlosen Aufenthalts im Bundesgebiet findet sich in dem Bescheid nicht.

Darüber hinaus hat das Gericht durch Verlesung des Bescheides zur Passbeschaffung vom 11.07.2016 und die Erinnerung der Passbeschaffung vom 08.08.2018 festgestellt, dass der Be-schuldigte aufgefordert wurde, bis zum 15.08.2016 einen gültigen Pass/Passersatz auszuhändigen und zu diesem Zwecke bis spätestens dem 15.08.2016 bei der Botschaft Ghanas vorzu-sprechen. Eine Ersatzvornahme wurde angedroht. Der Bescheid enthält am Ende einen Hinweis auf die Strafbarkeit passlosen Aufenthalts im Bundesgebiet.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war indes nicht feststellbar, dass dem Angeklagten Bescheid und Erinnerung zugegangen sind.

So hat der Zeuge und Sachbearbeiter der Ausländerbehörde pp, ausgesagt, dass die Schreiben jeweils formlos an den Angeklagten versendet wurden. Beide Postsendungen gingen an die Adressen in Marlow bzw. in Barth. Dies sind jeweils Asylbewerberunterkünfte in denen sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Übersendung aufgehalten hat.

Der Zugang bleibt daher nicht aufklärbar.

Selbst wenn dem Angeklagten die Schriftstücke zugegangen wären, so bleibt zweifelhaft, ob er diese hätte zur Kenntnis nehmen können. Der Angeklagte ist ghanaischer Staatsangehöriger. Hinweise darauf, dass er der deutschen Sprache mächtig ist, finden sich nach Aktenlage nicht.

Der Zeuge pp. hat ausgesagt, Bescheide und Erinnerungen werden an die Asylbewerber stets in deutscher Sprache(!) versendet. Man gehe davon aus, dass der Asylbewerber, wenn er Post erhalte, sich diese durch Sozialarbeiter, Wachleute oder sprachkundige Freunde und Be-kannte übersetzen lasse.

Da dieses Prozedere durchaus auch in der Ausländerbehörde als mangelhaft erkannt wurde, werden zwar auch heute entsprechende Bescheide nach wie vor in deutscher Sprache an die der deutschen Sprache nicht mächtigen Verfahrensbeteiligten versandt. Allerdings seien zwischenzeitlich Merkblätter gefertigt worden, die den deutschsprachigen Bescheiden beigefügt wer-den und in denen kurz erklärt werde, welchen Inhalt und welche Rechtsfolgen die für die Asylbewerber unverständlichen Bescheide enthalten.

Ungeachtet der Kuriosität dieser Verwaltungspraxis bleibt nach der Aussage des Zeugen pp. für das vorliegende Verfahren jedoch festgestellt, dass entsprechende Belehrungen an den Angeklagten nicht versandt wurden.

Ob und inwieweit der Angeklagte von der Verpflichtung zur Passersatzbeschaffung Kenntnis nahm, bleibt daher unaufklärbar.

Der Zeuge pp. hat zudem ausgesagt, dass sich in der Ausländerakte des Angeklagten, die er im Hauptverhandlungstermin mit sich führte und in welche er Einsicht nahm, keinerlei Hinweise darauf finden, dass beispielsweise durch die vormalige Sachbearbeiterin der Inhalt von Bescheid und Erinnerung zur Passersatzbeschaffung anlässlich einer persönlichen Vorsprache des Angeklagten im Ausländeramt übersetzt wurden.

§ 95 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz ist als echtes Unterlassungsdelikt ausgestaltet. Der Ange-klagte muss daher um normgerechtes Verhalten wissen und zur Tatbestandserfüllung das norm-gerechte Verhalten vorsätzlich unterlassen. Eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit sieht § 95 Aufenthaltsgesetz nicht vor.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bleibt unbekannt, ob der ausreisepflichtige Angeklagte um das Erfordernis der Passbeschaffung wusste und gegen diese Verpflichtung verstieß, um seine Abschiebung zu erschweren.

Nach Aussage des Zeugen pp. ist der Angeklagte nach wie vor nicht ausgereist.

Nach Aussage des Zeugen pp. wurden nach der Erinnerung zur Passersatzbeschaffung auch keinerlei Maßnahmen der Verwaltungsbehörde mehr getroffen, insbesondere wurde keine Ersatzvornahme versucht.

Nach den vorliegenden Feststellungen finden sich nicht einmal Hinweise auf einen fahrlässigen passlosen Aufenthalt, so dass auch die Ahndung als Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz nicht in Betracht kommt.

Der Angeklagte war daher mangels Verschuldensnachweises aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.“

Nebenklage I: Die Akteneinsicht des Verletzten, oder: Nebenklage wegen falscher Verdächtigung?

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In die neue Woche starte ich mit zwei Entscheidungen zur Nebenklage, und zwar u.a. zur Akteneinsicht.

Zunächst zum Warmwerden der AG Stralsund, Beschl. v.03.02.2022 – 32 Cs 217/21. Das AG nimmt Stellung zur Zulassung der Nebenklage in den Fällen falscher Verdächtigung und zur Akteneinsicht des Verletzten. Beides wird verneint:

„Ein nebenklagefähiges Delikt nach § 395 Abs. 1 StPO wird der Angeklagten nicht vorgeworfen.

Eine in § 395 Abs. 3 StPO erwähnte rechtswidrige Tat ist ebenfalls nicht Gegenstand des Verfahrens. Eine im (nicht abschließenden) Katalog des § 395 Abs. 3 StPO enthaltene Tat liegt nicht vor. Besondere Gründe, die den Anschluss als Nebenkläger zur Wahrnehmung der Interessen des Antragstellers geboten erscheinen lassen – insbesondere körperliche oder seelische Schäden – sind nicht dargelegt worden.

Allein das wirtschaftliche Interesse eines Verletzten an der effektiven Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen den Angeklagten im Strafverfahren ist zur Bejahung eines besonderen Schutzbedürfnisses nicht geeignet, weil dafür die Zivilgerichtsbarkeit ausreichenden Schutz gewährt.

Die Akteneinsicht ist gemäß § 406e Abs. 2 StPO zu versagen, da eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt und die Akteneinsicht für den im Rahmen der Beweisaufnahme gegebenenfalls zu hörenden Zeugen (bzw. dessen Rechtsanwalt) den Untersuchungszweck gefährden könnte. Bei Kenntnis der vollständigen Ermittlungsakten durch den Zeugen ist die Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung zu besorgen. Das Gericht geht davon aus, dass durch die Kenntnis der Vernehmung der Angeklagten und weiterer Zeugen im Ermittlungsverfahren die Zuverlässigkeit und Unvoreingenommenheit der Aussage des einzigen Zeugen für das Geschehen im engeren Sinne leiden könnte. Nach der gesetzgeberischen Intention zu § 58 Abs. 1 StPO soll ein Zeuge grundsätzlich nicht wissen, was der Angeklagte und die anderen Zeugen kundgetan haben, um eine Anpassung des Aussageverhaltens zu vermeiden. Gibt es – wie hier – für den Kernbereich des Geschehens keine weiteren Zeugen, ist die Einschränkung des Akteneinsichtsrechts des Verletzten zugunsten der Sachaufklärung hinzunehmen.“

Zusätzliche Verfahrensgebühr im BTM-Verfahren, oder: In der Anklage Einziehungsantrag

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Den heutigen RVG-Tag eröffne ich mit einem (kleinen) Beschluss des AG Stralsund. Das hat im AG Stralsund, Beschl. v. 03.09.2021 – 34 Ls 5/21 – zum Entstehen der zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV RVG in einem BtM-Verfahren Stellung genommen. Entschieden hat das AG über die Höhe des Gegenstandswertes. Es führt in dem Zusammenhang aus:

„In der Anklageschrift vom 30.03.2021 hat die Staatsanwaltschaft angekündigt, die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 1.060,- € zu beantragen.

Zwar wurde in der Hauptverhandlung durch Beschluss vom 05.07.2021 von einer Einziehungsentscheidung nach § 421 StPO abgesehen, einer Wertfestsetzung bedarf es jedoch gleichwohl, da die Verteidigergebühr nach Nr. 4142 VV RVG bereits bei Tätigkeiten des Anwalts entsteht, wenn eine Einziehung möglicherweise droht, was angesichts der Ankündigung in der Anklageschrift gegeben war.

Die Höhe richtet sich nach dem in der Anklageschrift angekündigtem Antrag.“

Klein, aber fein.

Befangen I: Wenn der Richter in der Hauptverhandlung ein rechtskräftiges Urteil erwirken will, oder: Befangen

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Ich starte in die 38. KW. mit zwei amtsgerichtlichen Entscheidungen, von denen mich eine – die kommt dann noch – mit einem Kopfschütteln irritiert zurücklässt. Beide Entscheidungen betreffen Fragen der Besorgnis der Befangenheit.

Zunächst hier aber der AG Stralsund, Beschl. v. 01.07.2021 – 313 Cs 719/19.  Der Kollege Sürig aus Bremen, der mir den Beschluss geschickt hat, hatte dort den amtierenden Amtsrichter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zur Begründung hatte er ausgeführt, dass dessen Äußerungen in der Hauptverhandlung am 21.06.2021 zur Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Widerspruch zum Verhalten der Staatsanwaltschaft standen, Ablehnungen der Pflichtverteidigerbeiordnung zu beantragen bzw. nicht selbst die Beiordnung zu beantragen. Auch habe dieser wahrheitswidrig angegeben, dass nicht er sondern ein anderer Richter den Strafbefehl unterzeichnet habe. Eigentlicher Befangenheitsgrund sei jedoch, dass ein Strafmaß deutlich unter 60 Tagessätzen in Aussicht gestellt wurde und dies auf eine unwahrscheinliche Berufungszulassung hinausgelaufen hätte.

„Das Gesuch hatte Erfolg:

Bei Anwendung der oben genannten Grundsätze ist die berechtigte Besorgnis der Befangenheit vorliegend gegeben.

Aufgrund der getätigten Äußerung des Richters am Amtsgericht, das in Aussicht gestellte Strafmaß schränke die Möglichkeiten eines Rechtsmittels ein, hat der abgelehnte Richter den Eindruck vermittelt, dieser wolle in der I. Instanz eine rechtskräftige Verurteilung erwirken.

Der Beschuldigte durfte bei verständiger Würdigung dieses Sachverhalts Grund zu der Annahme haben, der Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die die gebotene Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann.“

Mal wieder TraffiStar S 350, oder: „Du bist nicht mehr standardisiert“.

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Heute ist Nikolaustag. Und für den Tag habe ich für die (verkehrs)anwaltliche Tüte eine Entscheidung, die sehr schön zum gestern vorgestellten AG Mannheim, Beschl. v. 29.11.2016 – 21 OWi 509 Js 35740/15 – passt (vgl. dazu: Mal wieder Poliscan Speed, oder: Verstoß gegen Bauartzulassung = keine Verurteilung/Einstellung). Es geht auch um eine Messung, dieses Mal aber mit TraffiStar S 350. Dazu hat sich das AG Stralsund im AG Stralsund, Urt. v. 07.11.2016 –  324 OWi 554/16 – geäußert. Es hat den Betroffenen frei gesprochen und führt aus, dass es dieses Messverfahren nicht (mehr) als standardisiertes Messverfahren ansieht:

„Es genügt gleichwohl nicht den gerichtlichen Anforderungen, die an eine Geschwindigkeitsmessung im standardisierten Messverfahren zu stellen sind.

So hat der DEKRA-Sachverständige, Dr. pp. im Rahmen der Hauptverhandlung ausgeführt, dass die bei der Messung mit dem Messgerät TrafftStar S 350 Nr. 509-000/60231 gewonnenen Messdaten eine unabhängige Geschwindigkeitskontrolle nicht annäherungsweise möglich machen, da der Hersteller den Zeitstempel bei der Messdatenerfassung bewusst gelöscht habe.

Zwar können mit dem vom Sachverständigen verwendeten Auswerteprogrammen Robot BiffProcess 2.3 verschiedenste Daten aus der Falldatei des Betroffenen ausgelesen werden. Über diese Zusatzdaten sei es – so der Sachverständige – allerdings nicht möglich, die gemessene Geschwindigkeit nachzuvollziehen. Damit gibt es bei dem hier verwendete Messgerät keine technische Möglichkeit, die quanitative Höhe des Messwertes im Einzelfall zu kontrollieren.

Im Ergebnis ist damit festzustellen, dass eine herstellerunabhängige Prüfung des Messergebnisses mit dem Messgerät TraffiStar S 350 in der vorliegenden Softwareversion unmöglich ist.

Bereits das Amtsgericht Kassel hat mit Entscheidung vom 24.08.2016 Messwerte einer Geschwindigkeitsmessung mit dem Messgerät TraffiStar S 350 als Beweismittel im standardisierten Messverfahren verworfen, weil die eingesetzte Technik die Weg-Zeit-Rechnung nicht nachvollziehbar mache.

Dem schließt sich das Gericht an.

Zwar erfüllt das Messgerät TraffiStar S 350 insoweit die Voraussetzungen eines standardisier-ten Messverfahrens, als hier ein einheitliches technisches Verfahren zur Anwendung kommt, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und seines Ablaufs so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind.

Die Anerkennung als standardisiertes Messverfahren führt zu einer Vereinheitlichung des Amtsermittlungsgrundsatzes, bei welcher das erkennende Gericht sich nur dann von der Zuverlässigkeit der Messung, beispielsweise durch Sachverständigenbeweis, überzeugen muss, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler gegeben sind.

Da das vorliegend verwendete Messgerät des Typs TraffiStar S 350 jedoch von vorneherein die Möglichkeit ausschließt, die Zuverlässigkeit der Messung etwa durch Sachverständigenbeweis zu überprüfen und somit die Amtsermittlungsmöglichkeit quasi standardisiert beschnitten ist, kommt eine Anerkennung als standardisiertes Messverfahren nach Ansicht des Gerichts nicht mehr in Betracht.

Mangels Anerkennung als standardisiertes Messverfahren genügt deshalb allein die Verlesung von Konformitätsbescheinigung, Konformitätserklärung und der Datenleisten des Messfotos nicht für die sichere gerichtliche Überzeugung der Zuverlässigkeit der Messwerterhebung aus.

Da die zur Messwertüberprüfung erforderlichen Daten durch das System nicht gespeichert werden, besteht im Nachgang zur Messung auch keine Möglichkeit, über die Zuverlässigkeit des Messwertes Beweis zu erheben.