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StPO II: Augenscheinseinnahme ohne Beteiligte, oder: Besorgnis der Befangenheit

Und als zweite Entscheidung dann der AG Schwerin, Beschl. v. 25.10.2023 – 259 Js 17643/23 OWi. Er stammt zwar aus dem Bußgeldverfahren, aber in der Entscheidung geht es um eine StPO-Frage. Nämlich. Besorgnis der Befangenheit (§ 24 StPO).

Das AG geht von Befangenheit des entscheidenden Richters aus – der Sachverhalt ergibt sich aus den Beschlussgründen:

„Der Befangenheitsantrag gegen den abgelehnten Richter vom 11.10.2023 ist zulässig, insbesondere unverzüglich gem. §§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. 25 Abs. 2 StPO gestellt.

Zwar hat der Verteidiger des Betroffenen das Ablehnungsgesuch nicht unmittelbar nach dem Hinweis des abgelehnten Richters im Hauptverhandlungstermin am 11.10.2023, dass er sich am Vortag zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung zur Messstelle begeben, ein Foto von der Messstelle gefertigt und von den zufällig dort anwesenden Messbeamten pp. und pp. den genauen Aufstellungsort des Messgerätes erfahren habe, sondern erst nach Durchführung der zeugenschaftlichen Vernehmung der Zeugen pp. und sowie Inaugenscheinsnahme des vom abgelehnten Richter am Vorabend von der Messstelle gefertigten Fotos gestellt. Gleichwohl geht das Gericht von der Rechtzeitigkeit des Antrags aus, da dieser noch innerhalb des Hauptverhandlungstermins am 11.10.2023 unmittelbar nach Erörterung der Sach- und Rechtslage gestellt worden ist, zu einem Zeitpunkt als, wie sich aus der Erklärung des Verteidigers vom 17.10.2023 zur Stellungnahme des abgelehnten Richters vorn 11.10.2023 ergibt, gerade mit Blick auf die Erklärungen des Zeugen pp.. zur Messskizze und den „neuen“ örtlichen Gegebenheiten – jedenfalls für diesen Zweifel an einem Tatnachweis ergeben hatten.

Der Ablehnungsantrag ist auch begründet.

Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes gem. § 24 Abs. 1 und 2 StPO ist grundsätzlich vom Standpunkt eines vernünftigen bzw. verständigen Ablehnenden aus zu beurteilen, ohne dass es darauf ankommt, ob der Richter tatsächlich parteiisch oder befangen ist. Solcherlei ist anzunehmen, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Dass dies vorliegend anzunehmen ist, ergibt sich aus Folgendem:

Der abgelehnte Richter hat hier zwischen zwei Sitzungstagen die Örtlichkeit einer Geschwindigkeitsmessung in Augenschein genommen und die zufällig dort anwesenden Zeugen des Verfahrens pp. und pp. 1 (jedenfalls) zum Standort des Messgerätes befragt. Diese Verhaltensweise lässt den Schluss zu, der abgelehnte Richter halte eine solche Ortsbesichtigung/ Befragung von Zeugen im Rahmen seiner Aufklärungspflicht für seine Entscheidungsfindung für erforderlich. In einem solchen Fall, gleich ob innerhalb oder außerhalb der Hauptverhandlung wäre es strafprozessual jedoch erforderlich gewesen, die lnaugenscheinsnahme/ Ortsbesichtigung und Vernehmung/Befragung von Zeugen vorab sämtlichen Prozessbeteiligten mitzuteilen (vgl. da-zu die Regelungen der §§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. 86, 162, 165, 168 d Abs. 1 i.V.m § 168 c Abs. 5 S. 1, 225, 224 StPO). Im konkreten Fall hat der abgelehnte Richter ohne Rücksicht auf die vorgenannten strafprozessualen Regelungen allein für sich die Möglichkeit eröffnet, unter Ausschluss des Betroffenen und seines Verteidigers die Messörtlichkeit in Augenschein zu nehmen und die Vernehmung/Befragung von Zeugen des Verfahrens durchzuführen. Dieses prozessuale Vorgehen kann für eine Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung den Eindruck einseitiger Verfahrensführung erzeugen und begründen.

Die nachträgliche dienstliche Stellungnahme des abgelehnten Richters entkräftet nach Wertung des Gerichts den Anschein der Voreingenommenheit nicht. Diese lässt nicht erkennen, dass sich der abgelehnte Richter mit der zentralen Frage der Anwesenheitsrechte von Prozessbeteiligten bei richterlichen „Ermittlungshandlungen“ inhaltlich auseinandergesetzt hat. Die Äußerung, er habe – auch ohne Mitteilung an die Prozessbeteiligten – ein „Recht“… „ im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes die Örtlichkeit einer Messung vor Durchführung einer Hauptverhandlung anzuschauen“, und der (erneute) Hinweis darauf, dass er die Zeugen zufällig dort angetroffen habe, wodurch offensichtlich die Befragung der Messbeamten gerechtfertigt werden soll, geben vielmehr auch weiterhin für eine Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung ausreichend Anlass, an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu zweifeln.

OWi III: Parken auf „Schwerbehindertenparkplatz“, oder: Parkausweis auf der Mittelkonsole „gut lesbar“?

entnommen wikimedai.org
Urheber 4028mdk09

Und dann habe ich hier noch das AG Schwerin, Urt. v. 08.05.2023 – 35 OWi 83/23 – zum unberechtigten Abstellen eines PKW auf einem Schwerbehinderten-Parkplatz. Der Betroffene hatte seinen pkw auf einer Fläche abgestellt, die als Parkplatz versehen mit dem Zusatzzeichen Rollstuhlfahrersinnbild ausgeschildert war, ohne einen Parkausweis, der ihm das Abstellen in dem Bereich erlaubt hätte, gut lesbar auszulegen.

Der Betroffene hatte sich dahin eingelassen, dass er seinen PKW am Tattag kurz vor der Tatfeststellung an der genannten Stelle abgestellt und das Fahrzeug für einige Zeit verlassen habe. Er habe einen Bekannten, der im Rollstuhl sitzt, an dem Tag befördert. Der Bekannte sei im Besitz einer unbefristeten Parkerlaubnis, mit der er auf dem Parkplatz hätte stehen dürfen. Dieser Parkausweis habe sich auch im Inneren des Fahrzeuges auf der Mittelkonsole auf Höhe der Sitzflächen befunden.

Das AG ist von einem Parkverstoß ausgegangen:

„Durch sein Verhalten hat sich der Betroffene wegen fahrlässigen Parkens auf einem Sonderparkplatz für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, beidseitiger Amelie oder Phokomelie, mit vergleichbaren Funktionseinschränkungen sowie für blinde Menschen (Zeichen 314 und Zusatzzeichen Rollstuhlfahrersinnbild) schuldig gemacht.

Nach § 42 Abs. 3 StVO hat, wer am Verkehr teilnimmt, die durch Richtzeichen nach Anlage 3 angeordneten Ge- oder Verbote zu befolgen. In Anlage 3 befindet sich in „Abschnitt 3 Parken“ unter der Nr. 7 das Zeichen 314 „Parken“. In den Erläuterungen zu Nr. 7 wird unter 1. der Geltungsbereich dahingehend konkretisiert, dass wer ein Fahrzeug führt, hier parken darf. Unter 2. lit. d) der Erläuterungen heißt es, dass die Parkerlaubnis durch ein Zusatzzeichen mit Rollstuhlfahrersinnbild beschränkt sein kann auf schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung, beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder mit vergleichbaren Funktionseinschränkungen sowie auf blinde Menschen. Unter 2. lit. e) der Erläuterungen wird konkretisiert, dass die Parkerlaubnis nur gilt, wenn der Parkschein, die Parkscheibe oder der Parkausweis gut lesbar ausgelegt oder angebracht ist. Lesbar bedeutet „für die Augen zu entziffern und sich lesen lassend“ (Duden Online, abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/lesbar Stand 22.05.2023). „Gut“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Lesen „leicht, mühelos geschehend“ (Duden Online, abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/gut Stand 22.05.2023) respektive einfach und ohne Schwierigkeiten möglich sein muss. Dem Überwachungspersonal muss eine Kontrolle der vollständigen Parkerlaubnis ohne erhebliche Schwierigkeiten, ohne Hilfsmittelverwendung und insbesondere ohne großen Zeitaufwand durch einen Blick in das Innere eines Fahrzeuges möglich sein. Erfüllt wird diese Anforderung durch ein Auslegen bzw. Anbringen in unmittelbarem Abstand zu den von außen einsehbaren Flächen (Fenstern) etwa hinter der Windschutzscheibe, an einer Seitenscheibe oder auf der Abdeckplatte des Gepäckraumes (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 31.07.1995 – 2 ObOWi 425/95 –, Rn. 10, juris; OLG Naumburg, Beschluss vom 04.08.1997 – 1 Ss (Bz) 132/97 -, BeckRS 1997, 11728 –, beck-online; OLG Köln Entscheidung v. 28.4.1992 – Ss 119/92Z –, BeckRS 1992, 122081, beck-online). Das Auslegen bzw. Anbringen etwa im Kofferraum, selbst wenn dieser von außen teilweise einsehbar sein sollte, entspricht nicht den Anforderungen an eine gute Lesbarkeit (vgl. AG Brandenburg Urteil vom 23.10.2020 – 31 C 200/19 –, BeckRS 2020, 27865 Rn. 15, beck-online). Nach § 12 Abs. 2 StVO parkt, wer sein Fahrzeug verlässt oder länger als drei Minuten hält.

Nach dem Vorstehenden hat der Betroffene den Verstoß begangen.

Ein Parkausweis, der ihm das Parken auf dem besagten Parkplatz erlaubt hätte, hat der Betroffene nicht gut lesbar ausgelegt, obwohl er das Fahrzeug für einen längeren Zeitraum – mindestens eine halbe Stunde – abgestellt und verlassen hat. Denn selbst im Falle, dass der Vortrag des Betroffenen, dass der Parkausweis wie auf dem in Augenschein genommenen Lichtbild (Bl. 6 d. A.) gelegen haben soll, als wahr unterstellt wird, wären die Anforderungen an eine gute Lesbarkeit nicht erfüllt. Zum einen ist der Ort der Mittelkonsole auf Höhe der Sitzflächen nicht geeignet, um die Anforderungen an eine gute Lesbarkeit zur erfüllen, denn aufgrund des Abstandes zu den Fenstern, ist eine Lesbarkeit, wenn überhaupt nur mit erheblichem Aufwand und ggf. unter zu Hilfenahme von Hilfsmitteln verbunden und daher in jedem Fall nicht „gut“ im Sinne der genannten Definition. Zum anderen ist auf dem vorgelegten Lichtbild der vermeintliche Ausweis selbst zur Hälfte verdeckt und entsprechend in Teilen überhaupt nicht lesbar. Erkennbar ist auf dem Foto lediglich eine blaue Karte, auf der im linken oberen Bildbereich ein Rollstuhlsymbol abgebildet ist und sich darunter weitere Felder mit Text befinden, die auf dem Foto selbst jedoch ebenfalls nicht lesbar sind. Die rechte Hälfte des Dokuments ist fast vollständig von einer Abdeckklappe der Mittelkonsole verdeckt und überhaupt nicht erkennbar, was darauf abgebildet ist.“

Pflichti I: Rückwirkende Bestellung des Verteidigers, oder: Auf das die Sammlung voll werde

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So, heute dann mal wieder ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich beginne die Berichterstattung mit Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, auf das meine Sammlung von Entscheidungen zu dieser Problemati voll(er) wird. Bei der Gelegenheit danke ich allen Kollegen, die mir in der letzten Zeit wieder Entscheidungen zu den §§ 140 ff. StPO geschickt haben.

Neu in der Sammlung sind folgende Entscheidungen, in denen die Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung bejaht worden ist:

Und mit in die Thematik passt dann noch der AG Schwerin, Beschl. v. 25.08.2021 – 36 Gs 1449/21 – zur Niederlegung des Wahlmandats durch den Wahlanwalt:

Beantragt der Wahlverteidiger die Bestellung zum Pflichtverteidiger, ohne anzukündigen, dass er das Mandat im Falle der Pflichtverteidigerbestellung niederlegen werde, kann die Nierdelegung jedoch unterstellt werden.

Erstattung von Kopiekosten, oder: Erstattung (natürlich) auch im Rahmen der Beratungshilfe

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Die zweite „Kopienentscheidung“ kommt mit dem AG Schwerin, Beschl. v. 16.09.2019 – 18 UR Il 221I18 B – aus dem Nordosten der Republik.

Entschieden hat das AG im Rahmen der Beratungshilfe über die Erstattung(sfähigkeit) von Fotokopiekosten. Das ist in dem Bereich ein wenig ein gebührenrechtlicher Dauerbrenner, der immer wieder mal entschieden werden muss. Das AG hat die vom Rechtsanwalt geltend gemachten Fotokopiekosten – der Rechtsanwalt hatt die Akte im Rahmen der Akteneinsicht kopiert – als erstattungsfähig angesehen:

„Die gemäß § 56 RVG, § 573 ZPO zulässige Erinnerung ist begründet.

Der Anspruch auf Festsetzung der Kopierkosten folgt aus § 1 RVG in Verbindung mit Nr. 7000 VV RVG. Gemäß Nr. 7000 Nr. 1 a W RVG sind Kosten für Ablichtungen aus Behörden- und Gerichtsakten zu ersetzen, soweit deren Herstellung zur sachgerechten Bearbeitung der Rechtssache geboten war.

Vorliegend ist daher darüber zu entscheiden, ob die Anfertigung von 193 Kopien aus der Verfahrensakte geboten war. Unter Bezugnahme auf das vorstehende verbleibt bei dem Erinnerungsführer als Beratungsperson ein Ermessen hinsichtlich der Erforderlichkeit von Kopien aus einer Gerichtsakte, welche durch ihn auch auszuüben ist. Ein vollständiges Kopieren ohne vorherige Einsicht unter Gesichtspunkten der Zeitersparnis würde diesem Grundsatz nicht genügen und daher eine Erstattung ausschließen.

Dass unter dem Gesichtspunkt der Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten auch bei der Beratungshilfe grundsätzlich Kopierkosten zu ersetzen sind, ergibt sich daraus, dass Bemittelte und Unbemittelte auch bei der Beratungshilfe grundsätzlich gleich zu behandeln sind (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.10.2008, 1 BvR 2310/06). Ein Rechtsanwalt, der seinen Mandanten berät, um die Reaktion in einem Strafverfahren zu besprechen, benötigt dazu Ablichtungen aus der Ermittlungsakte. Zwar bestünde auch die Möglichkeit, dass der Rechtsanwalt seinen Mandanten zu dem Zeitpunkt in sein Büro bestellt, zu dem die Akte sich bei ihm befindet. Dies würde jedoch dazu führen, dass die aktenführende Stelle durch die Setzung der Akteneinsichtsfrist über die Möglichkeit einer sachgerechten Beratung entscheiden würde. Das daraus eine Schlechterstellung des unbemittelten Rechtssuchenden entsteht, ergibt sich daraus, dass der Rechtsanwalt gegenüber dem Mandanten Ladungen nicht zwangsweise durchsetzen kann und die aktenführende Stelle in der Regel keine Kenntnis von den terminlichen Verpflichtungen des Mandanten hat, und auf die Kenntnis dieser in diesem Verfahrensabschnitt auch kein Anspruch besteht. Verdeutlicht wird dieses Dilemma an folgendem Beispiel: Würde die aktenführende Stelle dem Rechtsanwalt Akteneinsicht von drei Tagen gewähren, befände sich der Mandant jedoch im Urlaub, im Krankenhaus oder wäre er aus anderen Gründen nicht erreichbar, wäre eine spätere Beratung nur noch aufgrund von Notizen möglich (vgl. AG Halle, Beschluss vom 08.02.2010 Az.: 103 Il 3103/09).

Nach dem Vortrag des Erinnerungsführers belief sich der Umfang der Akte auf weit über 200 Seiten, sodass durch die Anfertigung von 193 Kopien keinesfalls die gesamte Akte kopiert worden ist.

Weiterhin ist nicht auszuschließen, dass auf Grund der Mandantenbesprechung, der Akteninhalt noch einmal unter einen erneuten Blickwinkel betrachtet werden muss. Ein weiterer Grund für das Erfordernis der Aktenkopie ist, dass der Rechtsanwalt gemäß § 50 Abs. 1 BRAO durch Handakten ein geordnetes Bild über die von ihm entfaltete Tätigkeit muss geben können (vgl. AG Riesa, Beschluss vom 27. Juni 2012 – 002 UR Il 00885/10).“

M.E. zutreffend. Wie will der Rechtsanwalt sonst richtig beraten.