Und die zweite Entscheidung aus dem Bereich der Pflichtverteidigung stammt aus dem schier unerschöpflichen Reservoir der „nachträglichen“ Beiordnung. Das AG Kempten hat in seinem schön begründeten AG Kempten, Beschl. v. 27.08.2019 – 12 Gs 1887/19, den mir die Kollegin Braun aus München geschickt hat, nachträglich die Kollegin als Pflichtverteidigerin beigeordnet:
„Gegen den Beschuldigten wurde vom 09.03.2019 bis 17.05.2019 ununterbrochen Untersuchungshaft nach § 112 StPO vollstreckt aufgrund Untersuchungshaftbefehl des AG Kaufbeuren vom 01.03.2019. Damit lag ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vor. Mit Antrag vom 21.03.2019 beantragte die Verteidigerin ihre Beiordnung zum Pflichtverteidiger; mit Verfügung vom 12.04.2019 wurde das Verfahren gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellt. Zum Zeitpunkt der Beantragung der Beiordnung lag ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.
Dementsprechend hat auch das LG Neubrandenburg eine rückwirkende Beiordnung überzeugend für geboten erachtet, wenn deren Voraussetzungen bei Antragstellung vorlagen (LG Neubrandenburg, Beschluss vom 12.10.2016, ,32 Os 58/16 jug): „Durch die Beiordnung eines Verteidigers soll der Beschuldigte nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich gleichen Rechtsschutz erhalten wie ein Beschuldigter, der sich auf eigene Kosten einen Verteidiger gewählt hat; dies gebietet bereits das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot.
Wenn ein Verteidiger, wie angesichts der bisher herrschenden Meinung in dieser Frage, befürchten muss, trotz Vorliegens der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gegebenenfalls für Tätigkeiten, die er vor Erhalt des formalen Bestellungsakts zur Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen eines Beschuldigten keine Vergütung zu erhalten, weil – objektiv rechtswidrig – trotz rechtzeitiger Beantragung seiner Beiordnung diese infolge eines Gerichtsversehens oder aus anderen Gründen, auf die er und der Beschuldigte keinen Einfluss haben, bis zum Abschluss des Verfahrens unterbleibt, führt dies in der Konsequenz zwangsläufig auch dazu, dass derartige, der formalen Bestellung vorgreifende Tätigkeiten als Pflichtverteidiger in spe tendenziell eher unterbleiben werden.
Dies aber wirkt sich strukturell zu Lasten des effektiven Rechtsschutzes für den Beschuldigten aus, denn die Erfahrung zeigt bekanntlich (siehe nur Peters, Fehlerquellen im Strafprozess II, 1972, S. 195), dass Verteidigung in ihrem für den Beschuldigten messbaren Erfolg zumeist umso effektiver ist, je frühzeitiger sie im Verfahrensverlauf einsetzt. Schon allein die zeitliche Verzögerung, die dadurch eintreten kann, dass eine beantragte Beiordnung im Ermittlungsverfahren von der Auffassung des StA abhängt (§ 141 Absatz Il StPO) und womöglich auch im gerichtlichen Verfahren entgegen § 141 Absatz III StPO nicht sofort, sondern erst mit vermeidbarem Zeitverzug oder – wie verschiedentlich praktiziert – erst mit der Eröffnungsentscheidung bzw. zu-Beginn der Hauptverhandlung vollzogen wird, bedeutet deswegen bereits eine deutliche qualitative Schlechterstellung des auf einen Pflichtverteidiger angewiesenen Beschuldigten im Vergleich zu einem Beschuldigten, dessen Interessen ohne Zeitverzug durch einen beauftragten Wahlverteidiger wahrgenommen werden.
Ein Festhalten an der Meinung, wonach überdies in Fällen einer während des Verfahrens unterbliebenen Bestellung durchweg eine Nachholung der versäumten Beiordnung nicht in Betracht kommen soll, genügt somit nicht der ausweislich der Rechtsprechung des BVerfG verbindlichen Zielvorgabe einer möglichst weitgehenden Gleichstellung des Beschuldigten, der auf einen Pflichtverteidiger angewiesen ist, mit einem solchen, der sich einen Wahlverteidiger leisten kann. Vielmehr ist die Möglichkeit, die Bestellung eines Verteidigers in solchen Fällen nachzuholen, nicht nur geeignet, sondern i. S. der anzustrebenden Waffengleichheit, der Wahrheitsfindung und im Interesse der sonstigen geschützten Belange des Beschuldigten erforderlich zur Förderung der Zwecke der §§ 140 ff. StPO, nämlich der Gewährleistung eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens.
Hinzu kommt, dass in der Rechtsprechung, anders als für die Beiordnung des Pflichtverteidigers, für vergleichbare Konstellationen – wie im Fall der Beiordnung eines anwaltlichen Beistands für den Verletzten – anerkannt ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl., § 397a Rn. 15 m. w. N.), dass die Vollziehung der Beiordnung bzw. die Bewilligung von PKH auch noch nach Beendigung des Verfahrens bzw. für bereits abgeschlossene Verfahrensabschnitte wirksam erfolgen kann, und dabei allein darauf abgestellt-wird, ob dem Gericht rechtzeitig ein entscheidungsreifer Beiordnungsantrag vorgelegen hatte (s. z. B. ausführlich OLG Köln, NStZ-RR 2000, 285), In der Entscheidung NStZ-RR 1997, 69 hatte der BVerfG in der Verweigerung der nachträglichen Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Anwalte gern. § 397a StPO trotz rechtzeitig gestellten Antrags einen Verstoß gegen das aus Artikel 3 Absatz 1 GG folgende Willkürverbot gesehen.
Entsprechende rechtliche Maßstäbe sind nach Auffassung der Kammer bei der Frage. der Pflichtverteidigerbeiordnung anzulegen.
Dies gilt zumal mit Blick darauf, dass der Gesetzgeber gerade zur Verbesserung der „Waffen-gleichheit“ zwischen Beschuldigten und Verletzten mit der Neufassung des § 397a Absatz 1 StPO durch das Zeugenschutzgesetz vom 30. 4. 1998 dem Verletzten einen nach der Rechtsprechung eben unter oben genannten Umständen nachholbaren -Anspruch auf die Beiordnung eines anwaltlichen Beistandes verschafft hat, der ansonsten dem Recht des Beschuldigten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers nachgebildet ist; denn bei Vorliegen bestimmter Privilegierungstatbestände hat die Beiordnung zu erfolgen, unabhängig vom wirtschaftlichen Vermögen des Verletzten, von seinen Fähigkeiten zur eigenständigen Rechtswahrnehmung oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage.
Ebenso, wie es zutreffend als ungerecht und mit der in § 397a StPO zum Ausdruck gelangten Intention des Gesetzgebers unvereinbar angesehen wird, einem Verletzten das Risiko der versäumten Bescheidung eines ordnungsgemäß gestellten und in der Sache begründeten Beiordnungsantrags aufzubürden, ist nicht ersichtlich, warum dieses Risiko gleichwohl dem Beschuldigten und einen für ihn in der Erwartung ordnungsgemäßer Sachbehandlung tätig gewordenen Verteidiger treffen sollte.“
Vorliegend kommt noch hinzu, dass dem Beschuldigten gemäß § 141 Abs 1 Nr. 5 StPO unverzüglich ein Verteidiger beizuordnen gewesen wäre, ohne dass es darauf ankommt, ob der Beschuldigte in diesem Verfahren oder in einem anderen in Untersuchungshaft befindlich war. Dass dies nicht geschah, kann sich nun nicht auch noch gebührenmäßig nachteilig für den Verteidiger auswirken. Gründe, warum diese Verteidigerin dem Beschuldigten nicht beizuordnen gewesen wäre, sind nicht ersichtlich.“