Archiv der Kategorie: Urteilsgründe

OWi I: In Schrägfahrt nachfahrendes Polizeimotorrad, oder: Übersichtlichkeit der Überholstrecke

Und dann in dieser Woche noch ein paar OWi-Entscheidungen

Ich starte mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 09.01.2023 – 5 RBs 334/22. Das AG hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und fahrlässigem Überholen, obwohl nicht übersehbar war, dass während des gesamten Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen war, zu einer Geldbuße verurteilt und ein Fahrverbot verhängt.

Das OLG hebt wegen nicht ausreichender Feststellungen auf:

„1. Die der Verurteilung zugrundeliegende Beweiswürdigung erweist sich sowohl (a)) bezüglich der gefahrenen Geschwindigkeit als auch (b)) bezüglich der Übersichtlichkeit der Überholstrecke als lückenhaft und hält damit sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand (§ 261 StPO).

a) Im Ansatz zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass die Geschwindigkeitsmessung mittels des ProVida-Systems vorliegend wegen der Schrägfahrt des nachfahrenden Polizeimotorrades während des Messvorgangs nicht den Anforderungen genügt, welche an ein standardisiertes Messverfahren zu stellen sind.

aa) Es liegt vielmehr lediglich ein individuelles Messverfahren ohne die Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit vor, sodass das Amtsgericht — wovon es selbst auch zutreffend ausgegangen ist — die Korrektheit des Messergebnisses individuell zu prüfen hatte (OLG Naumburg DAR 2016; 403; OLG Bamberg ZfS 2017, 171; OLG Düsseldorf BeckRS 2012, 01983; Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 27. Aufl. 2022, § 3 StVO Rn. 85). Holt das Gericht aus diesem Grund — wie vorliegend — ein Sachverständigengutachten ein und misst diesem Beweisbedeutsamkeit bei, so muss es nach ständiger Rechtsprechung die Ausführungen des Sachverständigen in einer (wenn auch gerade in Bußgeldsachen nur gedrängt) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wenigstens insoweit wiedergeben, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner gedanklichen Schlüssigkeit erforderlich ist (stRspr; BGH, Urteil vom 20.03.1991 — 2 StR 610/90 —, Rn. 11, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 31.05.2021 — 3 OWi 32 SsBs 97/21 —, Rn. 10, juris; Senatsbeschluss vom 10.05.2022 — 5 RBs 111/22).

bb) Den vorstehend beschriebenen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung mangels vollständiger Darlegung der Anknüpfungstatsachen nicht. So teilt das Amtsgericht zwar mit, dass der Sachverständige das Messvideo ausgewertet und aufgrund von sogenannten Orthofotos zwei Fixpunkte bestimmt habe. Die hiernach ermittelte Wegstrecke und Zeit habe unter Abzug näher dargelegter Toleranzen eine Mindestgeschwindigkeit von 141 km/h ergeben. Den Darlegungen in der Beweiswürdigung lässt sich jedoch nicht entnehmen, welche Fixpunkte gewählt worden sind, welcher Abstand zwischen den Fixpunkten bestand und auf welcher Weise dieser Abstand bestimmt worden ist sowie welche Zeit das Motorrad des Betroffenen zur Zurücklegung der Wegstrecke zwischen den Fixpunkten benötigte und wie diese Zeitspanne ermittelt worden ist. Aufgrund dieser fehlenden Darlegung wird der Senat nicht — was indes erforderlich wäre — in die Lage versetzt, die Geschwindigkeitsermittlung zu überprüfen.

Soweit zugunsten des Betroffenen zudem angenommen wird, dass für den Beginn der Messung auf die Position des vorderen und für das Ende der Messung auf die Position des hinteren Motorrades abgestellt wird, weil eine Vertauschung der Position der Motorräder nicht auszuschließen sei, ist das Urteil ferner nicht aus sich heraus verständlich. Weder den Feststellungen noch der Beweiswürdigung lässt sich entnehmen, ob und wie ein zweites Motorrad im Messvideo auftaucht.

b) Ferner werden auch die Anknüpfungstatsachen zur Übersichtlichkeit der Überholstrecke nicht hinreichend dargelegt.

aa) Nach § 5 Abs. 1 und 2 StVO darf nur überholen, wer übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Das ist nur dann der Fall, wenn der ,Überholende einen Abschnitt der Gegenfahrbahn einsehen kann, der zumindest so lang ist, wie die für den Überholvorgang benötigte Strecke, zuzüglich des Weges, den ein entgegenkommendes, mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit fahrendes Fahrzeug während des Überholens zurücklegt,‘ es sei denn, die Breite der Straße lässt ein gefahrloses Überholen auch bei Gegenverkehr zu (OLG Hamm NStZ-RR 2013, 181). Die erforderliche Mindestsichtweite für das Überholen ergibt sich demnach aus der Summe der Strecken des Überholenden und des Gegenverkehrs bis zur Begegnung (Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, a.a.O. § 5 StVO 19).

bb) Diesbezüglich trifft das Amtsgericht zwar eine Reihe von Annahmen zu Gunsten des Betroffenen. So geht es (1) vom Beginn des Überholvorgangs möglichst nah an der Kurve im Hinblick auf die bessere Einsehbarkeit aus, legt (2) nur die Strecke zu Grunde, die das Motorrad zurückgelegt hat, nachdem es sich in Höhe des überholten PKWs befunden hatte und berücksichtigt (3) den Weg des entgegenkommenden Fahrzeugs nicht. Diese Annahme legen ein ordnungswidriges Überholen in der Tat sehr nahe. Gleichwohl sind auch die diesbezüglichen Ausführungen für den Senat nicht überprüfbar. So wird die vom Sachverständigen ermittelte Geschwindigkeit des überholten Fahrzeugs von 70. km/h , die zurückgelegten Strecken nach dem Einscheren von 98 m bzw. 120 m und die Einsehbarkeit der Strecke von maximal etwa 70m — 90m lediglich mitgeteilt, ohne dass konkret dargelegt wird, wie diese jeweils durch den Sachverständigen ermittelt wurden.“

BtM III: Minder schwerer Fall des Handeltreibens?, oder: „BtM sind in den Verkehr gelangt….“

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Und zum Tagesschluss dann noch der BGH, Beschl. v. 16.11.2022 – 1 StR 367/22.

Das LG hat bei einer Verurteilung wegen Handeltreibens mit BtM in nicht geringer Menge bei der Prüfung eines minder schweren Falles eine Formulierung benutzt, die dem BGh nicht so ganz gefällt. Aber letztlich setzen sich seine Bedenken nicht durch:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

Zwar ist die Formulierung des Landgerichts hinsichtlich der Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Blick auf § 46 Abs. 3 StGB bedenklich, wenn es im Rahmen der Gesamtabwägung bei der Prüfung eines minder schweren Falls abschließend ausführt, dass „ein Großteil des Marihuanas, nachdem es nicht sichergestellt werden konnte, offensichtlich in den Verkehr“ (UA S. 28) gelangt sei. Jedoch hat die Strafkammer – wie dies aus der nachfolgenden Begründung ersichtlich ist – damit lediglich zum Ausdruck bringen wollen, dass im Gegensatz zu dem Fall, bei der die Eigenkonsummenge abgeurteilt worden ist, eine Sicherstellung des Rauschgifts nicht erfolgt ist.

Strafzumessung III: Initiierung einer Falschaussage, oder: Hinnahme einer Falschaussage

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Und als dritte Entscheidung dann noch der BGH, Beschl. v. 07.12.2022 – 5 StR 271/22. Auch nichts Besonderes, aber man wird noch einmal erinnert, welche Auswirkungen Initiierung bzw. Hinnahme von Falschaussagen haben kann bzw. nicht haben darf:

„Die bei der Strafzumessung zulasten des Angeklagten berücksichtigte „Initiierung bzw. jedenfalls die Hinnahme von Falschaussagen“ durch den Zeugen S. und den Bruder des Angeklagten, erweist sich mit Blick auf die Aussage des Bruders als rechtsfehlerfrei, denn dieser hat selbst angegeben, seine (falsche) Aussage auf Bitten des Angeklagten gemacht zu haben. Vergleichbares ist zwar für den Zeugen S. nicht festgestellt; die bloße Hinnahme einer Falschaussage stellt keinen Strafschärfungsgrund dar, weil der Angeklagte kein Garant der staatlichen Rechtspflege ist (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Mai 2019 – 5 StR 231/19, NStZ 2019, 537 mwN). Das Urteil beruht aber nicht auf diesem Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann angesichts der – wie dargelegt – im Übrigen rechtsfehlerfreien strafschärfenden Berücksichtigung des Prozessverhaltens des Angeklagten sowie der sonstigen Strafzumessungsgründe ausschließen, dass das Landgericht ohne den genannten Rechtsfehler auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte.“

Da war es wieder – das „Nichtberuhen“….

Strafzumessung II: Getrennt geführte Verfahren, oder: Keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

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Die zweite Entscheidung, das BGH, Urt. v. 03.11.2022 – 3 StR 321/21 – befasst sich noch einmal mit der Frage der Auswirkungen einer Verfahrensverzögerung auf die Strafzumessung.

Das LG hat den Angeklagten unter Freispruch vom Vorwurf des zweifachen Mordes wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs zweier halbautomatischer Kurzladewaffen zum Verschießen von Patronenmunition in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz solcher Waffen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision wendet sich der Angeklagte gegen den Strafausspruch sowie gegen die unterbliebene Bestimmung eines Vollstreckungsabschlags wegen der in den Urteilsgründen vom LG festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg:

„2. Die materiellrechtliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat im Umfang der Anfechtung keinen dem Angeklagten nachteiligen Rechtsfehler ergeben. Das gilt auch für die Entscheidung, die rechtsstaatswidrige Verzögerung des ursprünglich getrennt geführten Verfahrens wegen der der Verurteilung zugrundeliegenden Waffendelikte lediglich festzustellen und von einem Vollstreckungsabschlag abzusehen. Das Landgericht hat hierauf namentlich aufgrund der als nicht gewichtig beurteilten Auswirkungen der staatlich zu verantwortenden überlangen Verfahrensdauer auf den Angeklagten erkannt, der wegen dieses Vorwurfs keine Untersuchungshaft erlitten hatte, vielmehr unabhängig davon wegen des dringenden Verdachts des zweifachen Mordes inhaftiert war. Die Bewertung hält sich im Rahmen des dem Tatgericht insoweit eröffneten Spielraums (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124 Rn. 56; vom 2. März 2022 – 2 StR 541/21, StV 2022, 572 Rn. 9 mwN). Mit Blick auf die Zuschrift des Generalbundesanwalts, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Urteils im Strafausspruch nach § 349 Abs. 4 StPO beantragt hatte, ist ergänzend zu bemerken:

Die Strafzumessung erweist sich nicht deshalb als rechtsfehlerhaft, weil in den Urteilsgründen nicht strafmildernd berücksichtigt worden ist, dass das Landgericht das als Tatmittel verwendete iPhone eingezogen hat. ….

Ebenso wenig begegnet es Bedenken, dass die Urteilsgründe die festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung weder bei der Strafrahmenwahl noch bei der Straffestsetzung erwähnen. Vielmehr ist im Rahmen der Strafzumessung die Verletzung des Gebots zügiger Verfahrenserledigung als solche zutreffend außer Betracht geblieben (vgl. grundlegend BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124 Rn. 54 ff.; ferner BGH, Urteil vom 27. August 2009 – 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135 Rn. 8; Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 30. Aufl., Rn. 490b). Die bestimmenden Strafzumessungsgesichtspunkte des großen zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil sowie der Länge des Verfahrens (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017 – GSSt 2/17, BGHSt 62, 184 Rn. 29 mwN; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 745) hat die Schwurgerichtskammer hingegen ausdrücklich berücksichtigt (UA S. 50, 53).“

Strafzumessung I: Tatbegehung ohne „Suchtdruck“, oder: Strafschärfung bedenklich, aber ohne Erfolg

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Und heute dann mal wieder ein paar Entscheidungen zur Strafzumessung.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BGH, Beschl. v. 06.12.2022 – 2 StR 190/22. Die Entscheidung ist in Zusammenhang mit einer Verurteilung wegen eines Betäubungsmittelsdeliks ergangen. Der BGH beanstandet die Strafzumessung, was aber – wie leider häufig – dann keinen messbaren Erfolg für den Angeklagten hat:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

Die strafschärfende Berücksichtigung der Tatsache, dass der Alltag des Angeklagten „nicht von Suchtdruck bestimmt“ gewesen ist und er sich im Tatzeitraum „in einer Lebenssituation“ befunden hat, „die als stabil bezeichnet werden kann“, begegnet rechtlichen Bedenken (vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 2021 – 6 StR 405/21, juris). Jedoch schließt der Senat aus, dass die Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten darauf beruht.“