Archiv der Kategorie: Strafrecht

StPO II: Einstellung der Einziehungsvollstreckung, oder: Sporadische erfolglose Vollstreckung

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Die zweite Entscheidung kommt dann auch noch einmal aus dem Bereich „Einziehung“.

Der Verurteilte ist im April 2018 wegen Steuerhinterziehung zu einer ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden. Außerdem wurde die Einziehung von Wertersatz i.H.v. 52.801,38 EUR angeordnet. Das Urteil ist rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin die Vollstreckung ein, um die Verfahrenskosten und den Wertersatz beizutreiben. Dabei hatte sie nur insoweit Erfolg, als sie vom mittlerweile in die Türkei ausgewanderten Verurteilten bei dessen Wiedereinreise über den Berliner Flughafen am 26.01.2023 200 EUR an Bargeld zugunsten des Finanzamtes beschlagnahmen konnte.

Der Verurteilte bezieht in der Türkei eine Rente von 11.367,62 Türkischen Lira (entspricht aktuell rund 310 EUR), sowie eine deutsche Rente von 423,80 EUR. Beide werden nicht gepfändet. Inländisches Vermögen ist nicht bekannt.

Mit E-Mail vom 23.04.2024 beantragte der Verurteilte unter Vorlage von Belegen bei der Staatsanwaltschaft einen Zahlungserlass. Er sei mittellos, von den beiden Renten könne er sich in der Türkei nicht einmal eine Mietwohnung leisten und er werde auch künftig nicht in der Lage sein, den geforderten Betrag zu bezahlen. Auf Aufforderung der Staatsanwaltschaft machte er sodann weitere Angaben zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, die seine Mittellosigkeit bestätigten.

Die Staatsanwaltschaft lehnte den Antrag ab und legte die Sache dem LG vor. Sie beantragte, den Antrag auf Einstellung der Vollstreckung abzulehnen. Das LG ist dem im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 06.08.2024 – 12 KLs 505 Js 871/18 – gefolgt:.

„1. Die Kammer war als Gericht des ersten Rechtszugs zur Entscheidung berufen (§ 459g Abs. 5, § 462 Abs. 1 Satz 1, § 462a Abs. 1, 2 Satz 1 StPO).

2. Der Antrag ist nach § 459g Abs. 5 StPO n.F. (also i.d.F. vom 25. Juni 2021) zu beurteilen. Es handelt sich bei dieser Vorschrift im Kern um eine verfahrensrechtliche Bestimmung, für die die Regelungen über die Anwendung des milderen Rechts (§ 2 Abs. 3, 4 StGB) keine Anwendung finden (KG, Beschluss vom 7. Juni 2024 – 5 Ws 47/24-161 GWs 24/24, juris Rn. 6; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Mai 2023 – Ws 307/23, juris Rn. 13; OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Januar 2023 – 5 Ws 52/22, juris Rn. 11 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – 4 Ws 514/22, juris Rn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 67. Aufl., § 459g Rn. 13c m.w.N. auch zur a.A.).

3. Anders als in den Vorgängerfassungen des § 459g Abs. 5 StPO n.F. reicht es für die Einstellung der Vollstreckung nicht mehr aus, dass der Wert des Erlangten – was hier der Fall zu sein scheint – nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei die frühere gesetzliche Einordnung des Falls, dass der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Einziehungsadressaten vorhanden sei (§ 459g Abs. 5 Satz 1 StPO a.F.), als unverhältnismäßig zu weitgehend gewesen. Sie widerspreche der Zielsetzung, durch Straftaten erlangtes Vermögen effektiv abzuschöpfen und den Wertungen des Bereicherungsrechts. Soweit der Wertersatzeinziehung die Funktion zukomme, eine durch die Begehung einer Straftat geschaffene rechtswidrige Vermögenslage zu beseitigen, führe die zwischenzeitliche Entreicherung durch Verbrauch des Erlangten – wozu auch die hier ersparten Aufwendungen für die Einkommensteuer gehören (vgl. Fischer, StGB, 71. Aufl., § 73 Rn. 18 m.w.N.) – im Grundsatz nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Vollstreckung. Die Annahme einer Unverhältnismäßigkeit würde nämlich denjenigen privilegieren, der die Tatbeute schnell verbrauche. Der Straftäter könnte sich alleine dadurch der Vollstreckung der Einziehungsentscheidung entziehen, dass er den erlangten Vermögenswert schnell ausgebe (BT-Drs. 19/27654, S. 111). Dem Übermaßverbot werde durch die Pfändungsschutzvorschriften ausreichend Rechnung getragen (vgl. § 459 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 6 Abs. 1 Nr. 1 JBeitrG, § 850 ff. ZPO), sodass als unverhältnismäßig im Wesentlichen die Fälle in Betracht kämen, in denen das vom Gesetz zugrunde gelegte Bedürfnis der Vermögensordnung stark herabgesetzt sei, beispielsweise, weil der Einziehungsadressat das Erlangte auf schicksalhafte und nicht von ihm zu vertretende Weise (etwa infolge schwerer Krankheit) verloren habe (BT-Drs. 19/27654, S. 112). Derlei ist hier weder vorgetragen noch ersichtlich.

Mit Blick auf ihre tatsächliche Durchführung ist die Vollstreckung aber auch sonst nicht unverhältnismäßig. Denn sie findet quasi nur virtuell statt. Auf die laufenden deutschen Rentenbezüge des Antragstellers – die auch mit der türkischen Rente zusammengerechnet die Pfändungsfreigrenzen des deutschen Rechts unterschreitet (vgl. § 54 Abs. 4 SGB I mit § 850c ZPO) – greift die Staatsanwaltschaft nicht zu. Die diffizile Frage, ob und inwieweit mit Blick auf den türkischen Wohnort des Antragstellers und die dort möglicherweise niedrigeren Lebenshaltungskosten ein Abschlag von den Pfändungsfreigrenzen vorzunehmen sein könnte (vgl. dazu etwa LG Kaiserslautern, Beschluss vom 26. Mai 2023 – 5 T 37/23, juris Rn. 23 ff.), hat die Staatsanwaltschaft bislang nicht zum Nachteil des Antragstellers aufgegriffen. Die einzige Gefahr, die dem Antragsteller aktuell droht, liegt darin, dass er bei einer Wiedereinreise in die Bundesrepublik wegen der aktiven Fahndung zur Einziehung von Taterträgen aufgegriffen wird. Diese Gefahr hat sich seit Einleitung der Vollstreckung vor rund sechs Jahren bislang einmalig realisiert, wobei 200 € beschlagnahmt wurden. Das mag dem Antragsteller lästig gefallen sein. Zu einer ernstlichen Beeinträchtigung seiner Lebensführung im Alltag führte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft bislang jedoch nicht. Treffen die Ausführungen des Antragstellers zu seinen Vermögensverhältnissen zu, so hat er auch in Zukunft keine einschneidenden Beeinträchtigungen durch die Vollstreckungsbemühungen der Staatsanwaltschaft zu befürchten.

In der praktischen Handhabung stellt sich der Sachverhalt fast als Anwendungsfall des § 459g Abs. 5 Satz 2 StPO dar, der ähnlich auch schon in der alten Fassung der Norm geregelt war. Danach wird die Vollstreckung wieder aufgenommen, wenn Umstände bekannt werden oder eintreten, die einer Einstellung der Vollstreckung entgegenstehen, insbesondere, weil der Vollstreckungsschuldner doch Vermögen hat oder solches erwirbt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 67. Aufl., § 459g Rn. 14; KK-StPO/Appl, 9. Aufl., § 459g Rn. 19). Das entspricht – bis auf das Erfordernis der gerichtlichen Anordnung – dem hiesigen Vorgehen. Denn die ansonsten ruhende Vollstreckung wird nur beim Aufgreifen des Antragstellers im Inland und nur in dem Fall aktiviert, dass er pfändbare Wertsachen bei sich führt.

StPO I: Subjektives Einziehungsverfahren eingestellt, oder: Gibt es ein Rechtsmittel?

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Der Oberbegriff ist heute: Einstellung. Zwei der drei vorgestellten Entscheidungen aus dem Bereich befassen sich mit der Einstellung von Einziehung(smaßnahmen), eine mit den Folgen einer Einstellung nach § 153a StPO.

Dem OLG Köln, Beschl. v. 12.07.2024 – 3 Ws 55/24 – liegt folgender Sachverhalt zurgunde: Die Staatsanwaltschaft hat unter dem 01.07.2022 Anklage gegen den Angeklagten u.a. wegen Steuerhinterziehung in 15 besonders schweren Fällen, erhoben. Die Hauptverhandlung hat am 18.09.2023 zu laufen begonnen. Nachdem zwischenzeitlich Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten aufgetreten waren, hat die Staatsanwaltschaft in dem Hauptverhandlungstermin vom 14.06.2024 beantragt, das Verfahren aufgrund einer bestehenden dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten einzustellen. Dies hat sie verbunden mit dem Antrag, das subjektive Verfahren nach Anklageerhebung wegen Unmöglichkeit der weiteren Durchführung des subjektiven Verfahrens gemäß § 435 Abs. 2 StPO in das objektive Verfahren überzuleiten und im Wege des selbständigen Einziehungsverfahrens gemäß §§ 435, 436 Abs. 2, § 434 Abs. 3 StPO auf Grund mündlicher Verhandlung durch Urteil zu entscheiden, dass gegen den Angeklagten die Einziehung eines Geldbetrages in Höhe von 43.447.499,97 EUR angeordnet werde. Diesen Antrag hat das LG in der Hauptverhandlung vom 19.06.2024 durch Kammerbeschluss zurückgewiesen. Zum einen sei aufgrund des bisherigen Ermittlungsstandes die Anordnung einer späteren Einziehung entgegen § 435 Abs. 1 Satz 1 StPO noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, da noch weitere Ermittlungen – wie die Staatsanwaltschaft selbst in ihrem Antrag ausgeführt habe – anzustellen seien. Eine Überleitung vom subjektiven in das objektive Verfahren komme aber auch deshalb nicht in Betracht, weil der hierin liegende Zweck, Beweisergebnisse aus dem subjektiven Verfahren zu sichern und für das Einziehungsverfahren fruchtbar zu machen, nicht erzielt werden könne. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte der bisherigen Hauptverhandlung teilweise in verhandlungsunfähigem Zustand beigewohnt habe. Da das Ausmaß nicht quantifizierbar sei, müsse die bisherige Beweisaufnahme auch bei Fortführung des bisherigen Verfahrens als objektives wiederholt werden. Aus diesem Grunde komme auch nicht in Betracht, dass die Kammer die bislang fehlenden Ermittlungen – bezogen auf die Anordnung der (Wertersatz)Einziehung – selbst vornehme. Diese habe die Staatsanwaltschaft durchzuführen. In Bezug auf ein etwaiges im Anschluss beantragtes selbständiges Einziehungsverfahren werde dann zu prüfen sein, ob dessen Voraussetzungen vorlägen.

Hiergegen richtet sich das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft. Das hatte keinen Erfolg:

„1. Die gegen den Beschluss vom 19.06.2024 gerichtete (sofortige) Beschwerde erweist sich gemäß § 305 Satz 1 StPO als unzulässig.

a) Nach § 305 Satz 1 StPO unterliegen Entscheidungen, die der Urteilsfällung vorausgehen und – wie hier – nicht dem Anwendungsbereich des Satzes 2 der Regelung unterfallen, nicht der Beschwerde. Diese Einschränkung des Beschwerderechts erfasst Entscheidungen, die in einem inneren Zusammenhang mit dem Urteil stehen und ausschließlich seiner Vorbereitung dienen. Dies ist nicht nur bei Maßnahmen gegeben, die unmittelbar Grundlagen für die Entscheidung in der Sache selbst schaffen sollen; auch Anordnungen, die darauf abzielen, die Abwicklung des Verfahrens in sonstiger Weise zu fördern und es der abschließenden Sachentscheidung näher zu bringen, weisen einen inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung auf, der zum Ausschluss der Anfechtbarkeit führt (KG, Beschluss vom 10.05.2012 – 4 Ws 42/12, NStZ-RR 2013, 218, 219). Weitere Voraussetzung für den Ausschluss der Beschwerde ist zudem, dass sich die Bedeutung der vorbereitenden Entscheidung auf das Urteil beschränkt. Entfaltet sie hingegen eine über die Urteilsfindung hinausgehende prozessuale Bedeutung bzw. selbständige Beschwer eines Verfahrensbeteiligten, ist die Entscheidung anfechtbar (OLG Hamburg, Beschluss vom 07.04.2020 – 5 Ws 20-21/20, StV 2020, 458, 459; OLG Bamberg, Beschluss vom 01.10.2018 – 1 Ws 479/18, BeckRS 2018, 28946; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 305 Rn. 1; MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl., § 305 Rn. 15).

b) Gemessen an diesen Maßstäben gilt:

aa) Gegenstand des angefochtenen Beschlusses ist – entsprechend dem vorangegangenen Antrag der Staatsanwaltschaft vom 14.06.2024 – allein die Entscheidung, das subjektive Verfahren zeitnah abzuschließen und nicht (unmittelbar) als objektives Verfahren weiterzuführen bzw. fortzusetzen.

Hierin liegt nicht auch eine Entscheidung über die Nichteröffnung des objektiven Verfahrens im Sinne von § 435 Abs. 3 Satz 1, § 204 Abs. 1 StPO. Eine derartige Entscheidung ist lediglich dann zu treffen, wenn der Antrag auf Durchführung des objektiven Verfahrens außerhalb des subjektiven Verfahrens gestellt wird. Die von der Rechtsprechung anerkannte und vom Gesetzgeber gebilligte (vgl. BT-Drucks. 18/9525, S. 91; vgl. auch bereits BR-Drucks. 418/16, S. 103) Möglichkeit, unmittelbar von Letzterem in das objektive Verfahren übergehen zu können (vgl. nur BGH, Urteil vom 23.07.1969 – 3 StR 326/68, BGHSt 23,64, 66 f.; KK-StPO/Schmidt/Scheuß, 9. Aufl., § 435 Rn. 18) stellt insoweit eine gesetzlich nicht geregelte Ausnahme von dem in § 435 Abs. 3 Satz 1 StPO vorgesehen Regelverfahren dar, wonach es vor der Entscheidung über die Anordnung der Einziehung der Durchführung eines Zwischenverfahrens mit einer Eröffnungsentscheidung (§ 435 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. §§ 203 f. StPO) bedarf. Hinter dieser Rechtsprechung steht die Erwägung, die im subjektiven Verfahren bereits durchgeführte Beweisaufnahme im Sinne der Prozessökonomie nicht stets wiederholen zu müssen, sondern die Entscheidung im objektiven Verfahren hierauf aufbauen zu können (BGH, Urteil vom 23.07.1969 – 3 StR 326/68, BGHSt 23,64, 66). Die verfahrenstechnische Möglichkeit des nahtlosen Übergangs vom subjektiven in das objektive Verfahren mit einer entsprechenden Modifikation des Verfahrensgegenstandes entspricht insoweit der prozessualen Konstellation bei der Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 1 StPO), in deren Rahmen ebenfalls auf die Durchführung des Zwischenverfahrens (§§ 199 ff. StPO) verzichtet wird, der Verfahrensgegenstand gleichwohl durch die Einbeziehung der Nachtragsanklage erweitert und insoweit auf bereits erzielte Beweisergebnisse zurückgegriffen werden kann. Auch in diesem Fall stellt die gerichtliche Entscheidung über die (Nicht)Einbeziehung der Nachtragsanklage keine Entscheidung nach den §§ 203, 204 StPO dar. Dies gilt selbst dann, wenn das Gericht die Einbeziehung deshalb ablehnt, weil es hinsichtlich der zur Nachtragsanklage gebrachten Tat keinen hinreichenden Tatverdacht erkennt. Die Wirkung des Nichteinbeziehungsbeschlusses erstreckt sich insoweit ausschließlich auf das bestehende Hauptverfahren. Da es sich nicht um einen Beschluss nach § 204 StPO, sondern nach § 266 Abs. 1 StPO handelt, entfaltet dieser auch nicht die Sperrwirkung des § 211 StPO (Meyer-Goßner, JR 1984, 53; MüKoStPO/Nourouzi, 2. Aufl., § 266 Rn. 23; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 266 Rn. 41; Radtke/Hohmann/Radtke, StPO, § 266 Rn. 34; SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 266 Rn. 7, 24; iE ebenso Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 266 Rn. 21a; aA BeckOK StPO/Eschelbach, 51. Ed., § 266 Rn. 31; Hilger, JR 1983, 442), sodass die Staatsanwaltschaft die betreffende Tat ungeachtet von dessen Vorgaben im Nachgang noch zur Anklage bringen kann. Bezogen auf den hier vorliegenden Antrag auf Übergang vom subjektiven in das objektive Verfahren folgt hieraus, dass für die Staatsanwaltschaft mithin die erneute Antragstellung nach § 435 StPO im Regelverfahren uneingeschränkt möglich bleibt.

bb) Die angefochtene Entscheidung hat darauf abgezielt, das gegen den Angeklagten geführte (subjektive) Verfahren einem zeitnahen Abschluss zuzuführen. Ebenso wie die § 305 Satz 1 StPO unterfallenden Entscheidungen über die Abtrennung oder Verbindung von Verfahrensteilen, die Aussetzung eines Verfahren zum Zwecke seiner Förderung in der Gesamtheit (vgl. hierzu etwa OLG Hamm, Beschluss vom 09.02.1999 – 2 Ws 46/99, StraFo 1999, 236, 237; OLG Köln, Beschluss vom 15.07.2005 – 2 Ws 223/05, BeckRS 2005, 152921 Rn. 8; OLG Brandenburg, Beschluss vom 02.07.2008 – 1 Ws 107/08, BeckRS 2008, 23446; KG, Beschluss vom 10.05.2012 – 4 Ws 42/12, NStZ-RR 2013, 218, 219; KK-StPO/MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl., § 305 Rn. 17) oder auch die Entscheidung über die Nichteinbeziehung einer Nachtragsanklage (vgl. etwa Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 266 Rn. 24) hat das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss demnach eine die weitere Verfahrensgestaltung betreffende Entscheidung getroffen, die auf Grundlage des Vorstehenden dem Prozessurteil vom 24.06.2024 sachlich und zeitlich vorgelagert gewesen ist….“

Corona I: Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, oder: Der Anstifter kann nicht Verteidiger sein

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Und dann im „Kessel Buntes“ seit längerem mal wieder etwas zu Corona (und was [noch] damit zu tun hat. Eine Entscheidung stammt aus dem Strafrecht, eine aus dem Zivilrecht.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 06.06.2024 – 2 ARs 85/24. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen eines Verteidigerausschlusses (§§ 138a StPO ff.). Das OLG hat den Rechtsanwalt in einem Strafverfahren gemäß § 138a Abs. 1 Nr. 1 StPO von der Mitwirkung ausgeschlossen. Seine hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde war unbegründet.

Folgender Sachverhalt:

„Das Landgericht Dresden führt gegen die Angeklagte Dr. Wi.  ein Strafverfahren unter anderem wegen des Vorwurfs des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse gemäß § 278 Abs. 1 StGB in einer Vielzahl von Fällen. In den Fällen III.66, III.67, III.72 und III.73 der Anklage der Staatsanwaltschaft Dresden vom 29. Juni 2023 soll die Angeklagte unter anderem dem Beschwerdeführer, einem Rechtsanwalt, im Rahmen ihrer Berufsausübung als praktizierende Ärztin zwischen dem 16. Januar 2022 und dem 8. Februar 2022 an insgesamt vier Tagen ärztlich bescheinigt haben, er sei mittels eines Antigen-Schnelltestes negativ auf eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus getestet worden, obwohl sie selbst die Testungen an diesen Tagen weder vorgenommen noch überwacht habe.

Der Beschwerdeführer hat sich im Verlauf des Verfahrens als Wahlverteidiger der Angeklagten legitimiert. Auf entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht Dresden den Beschwerdeführer nach Vorlage durch das Landgericht Dresden und aufgrund durchgeführter mündlicher Verhandlung mit Beschluss vom 10. November 2023 gemäß § 138a Abs. 1 Nr. 1 StPO als Verteidiger ausgeschlossen, da dieser der Beteiligung an Straftaten der Angeklagten hinreichend verdächtig sei.“

In der Sache führt das BGH aus:

„2. Auch in der Sache ist der Ausschluss des Beschwerdeführers als Verteidiger in dem gegen die Angeklagte geführten Strafverfahren zu Recht erfolgt.

Die Voraussetzungen des § 138a Abs. 1 Nr. 1 StPO liegen vor. Demnach ist ein Verteidiger von der Mitwirkung in einem Verfahren auszuschließen, wenn er dringend oder in einem die Eröffnung des Hauptverfahrens rechtfertigenden Grade verdächtig ist, dass er an der Tat, die den Gegenstand der Untersuchung bildet, beteiligt ist. Erforderlich, aber auch ausreichend ist insoweit der hinreichende Tatverdacht im Sinne der §§ 203, 170 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. März 1989 – 2 ARs 54/89, BGHSt 36, 133; vom 18. April 2018 – 2 ARs 542/17, juris Rn. 12 mwN). Dabei wird vorausgesetzt, dass der Tatvorwurf zwar nicht restlos bis in alle Einzelheiten geklärt ist, die verfügbaren Aufklärungsmöglichkeiten und Erkenntnisquellen aber im Wesentlichen ausgeschöpft sind (sog. Anklagereife, vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 1989 – 2 ARs 54/89, juris Rn. 19). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.

a) Das Oberlandesgericht Dresden hat umfassend gewürdigt und begründet, warum sich in tatsächlicher Hinsicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wird nachweisen lassen, der Beschwerdeführer habe bei der Angeklagten ärztliche Atteste über negative Testungen auf das SARS-CoV-2-Virus angefordert, die diese sodann ausstellte, ohne den Test selbst durchgeführt oder überwacht zu haben.

b) Der demnach überwiegend wahrscheinlich feststellbare Sachverhalt erweist sich in rechtlicher Hinsicht für den Beschwerdeführer zumindest als Anstiftung zum Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 278 Abs. 1, § 26 StGB) in vier Fällen. Sollte die Angeklagte dem Beschwerdeführer zugleich eine Testdokumentation im Sinne des § 22 Abs. 4c Satz 1 IfSG ausgestellt haben, stünde die Anstiftung zur unrichtigen Dokumentation der Überwachung einer Testung (§ 75a Abs. 1 Nr. 1 IfSG in der Fassung vom 22. November 2021, § 26 StGB) jeweils in Tateinheit dazu.

aa) Nach § 278 StGB in der seit dem 24. November 2021 geltenden Fassung macht sich strafbar, wer zur Täuschung im Rechtsverkehr als Arzt oder andere approbierte Medizinalperson ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen ausstellt. Die Vorschrift soll die Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse sichern und setzt grundsätzlich die Feststellung des Gesundheitszustands aufgrund einer Untersuchung voraus (vgl. BGH, Urteil vom 8. November 2006 – 2 StR 384/06, NStZ-RR 2007, 343). Auch die ärztliche Testdokumentation nach § 22 Abs. 4c und 4d IfSG in der hier maßgeblichen Fassung vom 10. Dezember 2021, bei der es sich um ein Gesundheitszeugnis im Sinne des § 278 StGB handelt, setzt die Durchführung oder Überwachung der Testung in Bezug auf einen negativen Erregernachweis des Coronavirus SARS-CoV-2 im Beisein der dazu befugten Person voraus. Soweit der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und anderer Vorschriften vom 18. März 2022 (BGBl. I, S. 466) § 22a Abs. 3 IfSG dahin gefasst hat, die Testung müsse „vor Ort unter Aufsicht […] stattgefunden“ haben, ist den Gesetzesmaterialien zu entnehmen, dass die Aufnahme der Worte „vor Ort“ in den Gesetzestext allein aus Gründen der Klarstellung vorgenommen wurde (BT-Drucks. 20/958, S. 17). In Bezug auf das zu den einzelnen Tatzeitpunkten weiterbestehende Infektionsgeschehen konnten Testnachweise bzw. -dokumentationen, die auf einer Diagnostik durch Antigen-Schnelltestungen beruhten, als Teil der Bekämpfungsstrategie nur dann wirken, wenn die sachgerechte Durchführung der Tests durch echte Kontrollmöglichkeiten gewährleistet wurde. Dies galt unabhängig davon, ob es sich bei den von der Angeklagten ausgestellten Attesten um Testdokumentationen im Sinne des § 22 Abs. 4c, 4d IfSG oder um Testnachweise im Sinne des § 2 Nr. 7c) COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung in der Fassung vom 14. Januar 2022 handelte.

bb) Die dem Beschwerdeführer auf seine Veranlassung erteilten ärztlichen Bescheinigungen der Angeklagten genügten dem nicht. Insbesondere lag entgegen der in der Beschwerdebegründung vertretenen Auffassung in der zwischen der Angeklagten und dem Beschwerdeführer verabredeten Vorgehensweise keine Überwachung der Testung durch die Angeklagte.

Der Beschwerdeführer hat angeführt, er habe sich vor Ausstellung der ärztlichen Atteste jeweils selbst mittels eines Antigen-Schnelltests auf eine Infektion getestet und ein Foto der entsprechenden Testkassette sodann über Messengerdienste an die Angeklagte übersandt. Dies hat er im Beschwerdeverfahren zum Teil durch Vorlage entsprechender Screenshots belegt. Das schlichte Übersenden eines Lichtbildes einer Testkassette stellt bereits nach allgemeinen Verständnis keinen wirksamen Kontrollmechanismus und damit keine Überwachung eines Tests dar. Eine Überwachung, die dem Regelungszweck der genannten Vorschriften gerecht werden soll, erfordert, dass der die negative Testung Bestätigende sich auf Basis einer verlässlichen Grundlage von der sachgerechten Durchführung der Testung überzeugt. Dazu gehört auch die Prüfung, wann der Test durchgeführt wurde und ob diejenige Person, die getestet wurde, mit derjenigen Person, für die das Attest ausgestellt wird, identisch ist. Allein anhand eines übersendeten Lichtbildes von einer Testkassette war dies nicht möglich. Die Angeklagte konnte nicht überprüfen, wann oder von wem oder in welcher Weise der Test durchgeführt wurde. Daran ändert auch der durch den Beschwerdeführer dargelegte Umstand, die Angeklagte habe ihm zuvor ausführlich erläutert, wie eine Selbsttestung vorzunehmen sei, nichts. Dies würde der Angeklagten allenfalls die Möglichkeit gegeben haben zu beurteilen, ob der Beschwerdeführer generell in der Lage war, Selbsttestungen fehlerfrei vorzunehmen. Konkret bezogen auf die verfahrensgegenständlichen Testnachweise fehlte es aber an jeglicher Kontrollmöglichkeit. Die ärztliche Gewähr für die Verlässlichkeit des Testergebnisses, die die Angeklagte mit ihren Attesten bescheinigte und deren Schutz § 278 Abs. 1 StGB dient (vgl. Spickhoff/Schuhr, Medizinrecht, 4. Aufl., § 278 StGB Rn. 1), konnte sie damit nicht bieten.

cc) Die Aufforderung des Beschwerdeführers, ihm in den oben genannten vier Fällen ein negatives Testergebnis zu bescheinigen, stellt jeweils ein Bestimmen im Sinne des § 26 StGB dar. Nach derzeitigem Sachstand ist auch im Sinne eines hinreichenden Tatverdachtes von einem doppelten Anstiftervorsatz auszugehen. Jedenfalls nach Aktenlage liegt es nicht nahe, dass der Beschwerdeführer als Rechtsanwalt das von ihm beschriebene Prozedere als hinreichende Grundlage für die Ausstellung eines ärztlichen Attestes angesehen hat.“

Verkehrsrecht III: Zeitablauf nach FE-Entziehung, oder: Zwei Jahre und ein Monat unvertretbar

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Und dann zum Schluss noch etwas zur (vorläufigen) Entziehung der Fahrerlaubnis

Gegen den Angeschuldigten ist ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung anhängig. In dem ist die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden. Das AG hat jetzt im AG Bad Homburg, Beschl. v. 12.08.2024 – 7a Ds 117/24 – aufgehoben. Grund: Unverhältnismäßig:

„Die Beschwerde des Verteidigers vom 23. Juni 2024 (BI. 264 ff. d.A.) war, nachdem nunmehr Anklage erhoben worden ist, umzudeuten in einen Antrag auf Aufhebung der Maßnahme nach § 111a StPO.

Dem zulässigen Antrag des Verteidigers auf Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis war stattzugeben. Zwar liegt nach Aktenlage nach wie vor der von § 111a Abs. 1 StPO geforderte dringende Tatverdacht hinsichtlich der fahrlässigen Tötung bzw. der Gefährdung des Straßenverkehrs vor. Jedoch gebieten der Beschleunigungsgrundsatz sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis.

Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist wie alle strafprozessualen Zwangsmaßnahmen verfassungsrechtlichen Schranken unterworfen, die sich besonders im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und in dem Beschleunigungsgebot konkretisieren. Die Belastung aus einem Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich eines Beschuldigten muss in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen. Dieses Übermaßverbot kann im Einzelfall nicht nur der Anordnung und Vollziehung, sondern auch der Fortdauer einer strafprozessualen Maßnahme zeitliche Grenzen setzen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2005 — Az. 2 Ws 15/05 mwN).

Diese zeitliche Grenze ist im vorliegenden Fall nunmehr erreicht.

Zwischen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis vom 6. Juli 2022 und dem heutigen Tag liegen zwei Jahre und ein Monat. Der zeitliche Abstand zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ist mittlerweile derart groß, dass unter Berücksichtigung der übrigen Umstände des Einzelfalls eine Fortdauer der vorläufigen Fahrererlaubnisentziehung nicht mehr vertretbar erscheint. Hierbei wurde maßgeblich berücksichtigt, dass der Angeschuldigte zwischenzeitlich weder strafrechtlich- noch straßenverkehrsrechtlich in Erscheinung getreten ist und er in der Zeit vom 12. Dezember 2022 bis 17. April 2023 an einer verkehrspsychologischen Intensivmaßnahme beim TÜV teilgenommen hat.

Angesichts dieser Umstände ist trotz des fortbestehenden Vorliegens eines von § 111a StPO geforderten dringenden Tatverdachts die Aufhebung des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis geboten.“

Verkehrsrecht II: Gefährdung des Straßenverkehrs, oder: Fehlverhalten nach Abschluss des Überholens

Überholen Verkehrs

Im zweiten Beitrag dann noch einmal etwas zur Straßenverkehrsgefährdung, und zwar zum sog. falschen Überholen, also § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB.

Das AG hatte den Angeklagten am 13. März 2023 wegen Nötigung und Beleidigung verurteilt. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das LG das Urteil abgeändert und den Angeklagten wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und Beleidigung verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die mit dem BayObLG, Beschl. v. 22.07.2024 – 203 StRR 287/24 – teilweise Erfolg hatte:

„1. Die Berufungskammer hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Am 16. Dezember 2021 gegen 15.00 Uhr fuhr der Angeklagte, ein mittlerweile pensionierter Polizeibeamter, als Führer eines PKWs auf der Bundesstraße B 8 zwischen Diebach und Neustadt a.d.Aisch. Vor dem Angeklagten war der Geschädigte mit einem etwa 16,5 m langen LKW mit Auflieger in gleicher Fahrtrichtung mit einer Geschwindigkeit von etwa 68 km/h unterwegs. Die zulässige Geschwindigkeit betrug für den Geschädigten 60 km/h. Der Angeklagte überholte den Geschädigten im Bereich einer langgezogenen Rechtskurve, scherte mit einem Abstand von etwa 16 Metern vor dem Geschädigten ein und bremste anschließend sein Fahrzeug ohne verkehrsbedingten Grund von zunächst 100 km/h bis fast zum Stillstand ab, um den Geschädigten ebenfalls zu einem abrupten Abbremsen zu zwingen und ihn dadurch zu maßregeln. Infolge des Bremsvorgangs aktivierte sich im LKW des Geschädigten noch vor dessen Reaktion das Notbremssystem und brachte den LKW zum Stillstand. Als der Geschädigte den Angeklagten kurz darauf an einer Ampel zur Rede stellte, bezeichnete ihn der Angeklagte mit den Worten „Du Wichser“, um ihn in seiner Ehre zu verletzen.“

Rechtlich führt das BayObLG:

„4. Die Feststellungen tragen nicht eine Verurteilung wegen einer Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB.

a) In Betracht kommt alleine die Alternative des falschen Überholens. Nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB wird bestraft, wer im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet. Überholen im Sinne der Strafvorschrift des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB meint das Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen auf derselben Fahrbahn oder unter Benutzung von Flächen, die mit der Fahrbahn nach den örtlichen Gegebenheiten einen einheitlichen Straßenraum bilden (BGH, Beschluss vom 15. März 2018 – 4 StR 469/17 –, juris Rn. 8; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 5 StVO Rn. 16 m.w.N.; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 5 StVO Rn. 19 m.w.N; Kudlich in BeckOK StGB, 61. Ed. 1.5.2024, StGB § 315c Rn. 42; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315c Rn. 6).

Ein falsches Fahren beim Überholen ist gegeben, wenn der Täter eine der in § 5 StVO normierten Regeln verletzt oder einen anderweitigen Verkehrsverstoß begeht, der das Überholen als solches gefährlicher macht, sodass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Verkehrsverstoß und der spezifischen Gefahrenlage des Überholens besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2018 – 4 StR 469/17 –, juris Rn. 8; BGH, Beschluss vom 22. November 2016 – 4 StR 501/16-, juris Rn. 6; OLG Düsseldorf, Urteil vom 28. Juli 1981 – 2 Ss 433/81 – 204/81 II –, juris; Fischer a.a.O. § 315c Rn. 6; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 315c Rn. 11; Kudlich a.a.O. § 315c Rn. 43; König in Leipziger Kommentar (LK) zum StGB, 13. Aufl., § 315c StGB Rn. 96, 99; Heger in Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl., § 315c Rn. 14; Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 315c Rn. 18).

Der Überholvorgang beginnt in der Regel mit dem Ausscheren (Pegel in MüKoStGB, 4. Aufl., § 315c Rn. 53; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StVO § 5 Rn. 22). Der Überholvorgang ist beendet, wenn das überholende Fahrzeug wieder mit ausreichendem Abstand in den Verkehrsfluss eingegliedert ist (KG, Beschluss vom 28. Juni 2005 – 12 U 62/05 BeckRS 2007, 946; OLG Hamm, Urteil vom 13. Dezember 1999 – 13 U 111/99 BeckRS 2007, 1124; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 5 StVO Rn. 23 m.w.N., Rn. 51; Schäfer in BeckOK StVR, 23. Ed. 15.4.2024, StVO § 5 Rn. 67; Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 34, 122; Bender in MüKoStVR, 1. Aufl. 2016, StVO § 5 Rn. 10; Gutt/Krenberger, ZfSch 2016, 664 zitiert nach juris; Helle in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 5 StVO (Stand: 09.06.2023) Rn. 83; ähnlich (wenn der Überholte seine Fahrt ungehindert und ungefährdet fortsetzen kann) OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 – III-4 RVs 111/14 –, juris Rn. 13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21; Hecker a.a.O. § 315c Rn. 17; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; Bollacher in BeckOK StVR, 23. Ed. 15.4.2024, StGB § 315c Rn. 49; nur auf das Eingliedern abstellend BGH, Beschluss vom 28. September 2011 – 4 StR 420/11 –, juris; Pegel a.a.O. § 315c Rn. 54).  Das Gebot zur Einhaltung eines ausreichenden Abstandes beim Wiedereinordnen zum überholten Fahrzeug ergibt sich aus § 5 Abs. 4 Satz 6 StVO. Der Überholte darf beim Einscheren in die Spur des Überholten nicht behindert und nicht gefährdet werden. Daher fallen Pflichtverstöße beim Einordnen etwa durch Schneiden, Kreuzen oder Abbremsen beim Einscheren unter § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB, da der innere Zusammenhang mit der besonderen Gefährlichkeit des Überholvorgangs in diesen Fällen bejaht werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 – III-4 RVs 111/14 –, juris Rn. 13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95, 97a; Hecker a.a.O. § 315c Rn. 17, 18; Zieschang in NK-StGB, 6. Aufl. 2023, StGB § 315c Rn. 43; Fischer a.a.O. § 315c Rn. 6, 6a; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 315c Rn. 12; Niehaus in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke a.a.O. StGB § 315c Rn. 14 f.; Kudlich a.a.O. § 315c Rn. 44.1; zum Schneiden beim Wiedereinscheren BayObLG, Urteil vom 22. August 1986 BeckRS 1986, 112570; Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 123).

Demgegenüber wird Fehlverhalten nach Abschluss des Überholens nicht von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB erfasst (BGH, Beschluss vom 28. September 2011 – 4 StR 420/11 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 a.a.O. Rn. 13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 1996 – 1 Ss 154/96 –, juris Rn. 3; im Erg. auch BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; Heger a.a.O. § 315c  Rn. 14;  Pegel a.a.O. § 315c Rn. 54; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 315c Rn. 13; Niehaus a.a.O. § 315c Rn. 14; Bollacher a.a.O. § 315c Rn. 49; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; Hecker a.a.O.  Rn. 17). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Norm, da sie nur falsches Überholen, nicht aber sonstiges Behindern erfasst. Nutzt der Überholende nicht die spezifische Überholsituation aus, sondern nimmt den verkehrsfeindlichen Eingriff lediglich bei Gelegenheit des Überholvorgangs vor, indem er sein Fahrzeug nach dem Einscheren zur Disziplinierung oder zu „Strafzwecken“ scharf abbremst, fehlt es an der besonderen Gefährlichkeit des Überholens; ein solcher Vorgang ist an  § 315b StGB und an § 240 StGB zu messen (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 1996 – 1 Ss 154/96 –, juris; so auch König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 315c Rn. 13).

Ob ein bewusst scharfes Abbremsen unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, das wie hier in einem engen zeitlichen und situativen Zusammenhang mit dem Wiedereinscheren in die Fahrspur des Überholten erfolgt, vom Begriff des falschen Überholens im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB noch oder nicht mehr erfasst ist, beurteilt sich danach, ob der Überholer vor dem zu betrachtenden Bremsmanöver zunächst auf die Fahrspur des Überholten mit so ausreichendem Abstand (vgl. dazu Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 122, 123) zum überholten Fahrzeug eingeschert ist, dass er den Überholten unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen gefahrenen Geschwindigkeiten (vgl. Jahnke a.a.O.) nicht behinderte (OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 a.a.O. Rn. 13; im Erg. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21).

b) Nach diesen Vorgaben ist der Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB hier nicht erfüllt. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Überholvorgang sei nach dem Einscheren des Angeklagten deshalb noch nicht abgeschlossen gewesen, weil der Überholte aufgrund des Bremsmanövers seine Fahrt nicht ungehindert und ungefährdet fortsetzen konnte, lässt einen Zirkelschluss besorgen. Nach den gutachterlich gestützten Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte mit einer im Vergleich zum Geschädigten deutlich höheren Geschwindigkeit von ca 100 km/h in einem zunächst ausreichenden Abstand (Urteil S. 9) von etwa einer LKW-Länge vor dem mit einer Geschwindigkeit von 68 km/h fahrenden LKW des Geschädigten eingeschert, bevor er sein Bremsmanöver einleitete. Der Überholvorgang war somit vor dem Ausbremsen abgeschlossen. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass nach obergerichtlicher Rechtsprechung Bedenken bestehen, eine Straßenverkehrsgefährdung zu bejahen, wenn die bestimmungsgemäße Funktion eines Fahrassistenzsystems dazu führt, dass sich eine in einem Kausalverlauf angelegte Gefahr gerade nicht in einem entsprechenden Schadenseintritt realisiert (OLG Koblenz, Beschluss vom 26. Juni 2023 – 2 ORs 4 Ss 88/23 –, juris).

5. Eine Strafbarkeit nach § 315b StGB scheidet ebenfalls aus. Bei einem verkehrsfeindlichen Inneneingriff verlangt die höchstrichterliche Rechtsprechung im Sinne einer einschränkenden Auslegung seit der Entscheidung vom 20. Februar 2003 (BGH, Urteil vom 20. Februar 2003 – 4 StR 228/02 –, BGHSt 48, 233-23), dass der Täter das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz als Waffe oder Schadenswerkzeug einsetzt (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 6. Juni 2023 – 4 StR 70/23 –, juris; Fischer a.a.O. § 315b Rn. 9a, 20, 21; Kudlich a.a.O. § 315b Rn. 18; Pegel a.a.O. § 315b Rn. 18; Hecker a.a.O. § 315b Rn. 10). Die Feststellungen des Landgerichts belegen keinen bedingten Schädigungsvorsatz des Angeklagten. Die Strafkammer hat bei dem die Umstände des Bremsvorgangs bestreitenden Angeklagten den Schluss auf das Vorliegen eines bedingten Schädigungsvorsatzes allein aus dem objektiven Hergang geschlossen, sich jedoch für die gebotene Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit und zum Gefährdungsvorsatz nicht mit der Frage beschäftigt, ob der Angeklagte mit dem Eingreifen eines Notbremsassistenten rechnete. Auch eine mögliche Eigengefährdung des Angeklagten im Falle eines Auffahrunfalls hätte es bei seinen Überlegungen zum bedingten Schädigungsvorsatz mit einstellen müssen (vgl. zum Aspekt der Schutzlosigkeit BGH, Urteil vom 31. August 1995 – 4 StR 283/95 –, BGHSt 41, 231-242, zitiert nach juris Rn. 19; Fischer a.a.O. § 315b Rn. 20).

6. Der Angeklagte hat sich jedoch – neben der Beleidigung – wegen einer vollendeten Nötigung nach § 240 StGB strafbar gemacht.

a) Nach der gefestigten Rechtsprechung setzt Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB eine körperlich vermittelte Zwangswirkung zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands voraus (vgl. Fischer a.a.O. § 240 Rn. 8). Dazu kann auch ein geringer körperlicher Aufwand genügen, wenn seine Auswirkungen sich physisch wirkend als körperlicher Zwang darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 1995 ? 1 StR 126/95- juris Rn. 14; Fischer a.a.O. 240 Rn. 19). Strafbare Nötigung durch Gewalt kann demnach vorliegen, wenn der Einfluss auf das Opfer bei nur geringem körperlichen Aufwand dergestalt physischer Art ist, dass die beabsichtigte Fortbewegung durch tatsächlich nicht überwindbare Hindernisse unterbunden wird (vgl. BGH a.a.O. Rn. 16; Fischer a.a.O. Rn. 17). Der Verurteilung wegen Nötigung steht nicht entgegen, dass der Angeklagte ohne einen unmittelbaren Kontakt auf den geschädigten Kraftfahrer eingewirkt hat. Der angestrebte Erfolg kann auch dadurch erreicht werden, dass sich der Täter einer Sache bedient, um dem zu Nötigenden ein physisches Hindernis zu bereiten. Auf welche Weise er das tut, spielt im Verhältnis zu dem in der Fortbewegung gehemmten Adressaten keine Rolle. Ausschlaggebend ist allein die vom Täter bezweckte physische Wirkung auf den nachfolgenden Verkehrsteilnehmer (BGH a.a.O. Rn. 17; Fischer a.a.O. Rn. 17).

b) Bremst ein Fahrzeugführer sein eigenes Fahrzeug bewusst aus verkehrsfremden Gründen stark ab, um den hinter ihm fahrenden Fahrer ohne Ausweichmöglichkeit zu einer Vollbremsung, insbesondere zum Stillstand, zu zwingen, ist der Tatbestand der Nötigung in der Gewaltalternative erfüllt (BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; BayObLG, Urteil vom 6. Juli 2001 – 1St RR 57/01 –, juris; Fischer a.a.O. § 240 Rn. 27, 28 m.w.N.; Valerius in BeckOK StGB 61. Ed. § 240 Rn. 29.3; Sinn in MüKoStGB a.a.O. § 240 Rn. 148; Eisele in Schönke/Schröder a.a.O. § 240 Rn. 24 m.w.N.; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 240 Rn. 21). Dass das Fahrzeug des Geschädigten hier mit einem automatischen Bremssystem ausgestattet war und nicht der Fahrer, sondern das System eine elektronische Vollbremsung einleitete, schließt weder den objektiven Tatbestand noch den Vorsatz aus. Der Gewaltbegriff des § 240 StGB erfasst auch Einwirkungen auf die Umwelt des Opfers, wenn sie dessen Handlungsmöglichkeiten beschränken und gerade zu diesem Zweck vorgenommen werden (Altvater/Coen in LK a.a.O. § 240 Rn. 63; Fischer a.a.O. § 240 Rn. 27; Eisele a.a.O. § 240 Rn. 34).“