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BVerfG II: Dreitagefrist für Aktenvorlage in Haftsachen, oder: Verzögerung nicht so schlimm, kann ja passieren

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Die zweite Entscheidung des BVerfG kommt aus dem Bereich des Haftrechts. Das BVerfG hat im BVerfG, Beschl. v. 23.01.2023 – 2 BvR 1343/22 – zu der Frage Stellung genommen, welche Auswirkungen die Verzögerung eines Haftbeschwerdeverfahrens hat. Hier war es (mal wieder) die häufig anzutreffende Überschreitung der Dreitagesfrist des § 306 Abs 2 Halbs 2 StPO, also Vorlage an das Beschwerdegericht.

Das BVerfG meint: Alles nicht so schlimm, kann ja mal passieren, vor allem, wenn die Verzögerung „nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet“ ist. Also: selbst Schuld:

„Soweit der Beschwerdeführer sich gegen den im Haftbeschwerdeverfahren ergangenen Beschluss des Kammergerichts vom 5. Juli 2022 wendet, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.

1. Zwar hat das Kammergericht zutreffend einen Verstoß des Landgerichts gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO angenommen. Erachtet das Gericht oder der Vorsitzende, dessen Entscheidung angefochten wird, eine Beschwerde für begründet, so haben sie ihr abzuhelfen. Andernfalls ist die Beschwerde nach § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen, dem Beschwerdegericht vorzulegen. Dies ist vorliegend nicht geschehen.

2. Allerdings führt nicht jeder Verstoß gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO in einem Haftbeschwerdeverfahren schon für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft (vgl. KG, Beschluss vom 27. Oktober 2014 – 2 Ws 360/14 -, NStZ-RR 2015, S. 18; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 12. Juni 2019 – 18 Qs 20/19 -, BeckRS 2019, S. 41863, Rn. 16; OLG Naumburg, Beschluss vom 8. August 2000 – 1 Ws 359/00 -, juris, Rn. 6; KG, Beschluss vom 15. März 2019 – 4 Ws 24/19121 AR 47/19 -, BeckRS 2019, S. 4693, Rn. 39). Die Ausführungen des Kammergerichts lassen hinreichend erkennen, dass ihm bei Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bewusst waren und es diese in seine Abwägung miteinbezogen hat. Es hat ausgeführt, die verspätete Vorlage von rund einem Monat sei offensichtlich versehentlich erfolgt und nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet. Ein sachlicher Grund für die verzögerte Bearbeitung sei genauso wenig ersichtlich wie „strukturelle Defizite auf Seiten des Gerichts“. Da die Weiterleitung vom Gericht über die Staatsanwaltschaft an die Generalstaatsanwaltschaft am Tag der verspäteten Nichtabhilfeentscheidung und der entsprechenden Vorlageverfügung erfolgt sei, sei der festgestellte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot „bei einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände“ noch nicht geeignet, den Bestand des Haftbefehls in Frage zu stellen. Dagegen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern, zumal die Nichtabhilfeentscheidung ihrerseits unverzüglich nach Feststellung des Versäumnisses getroffen worden ist und die Kammervorsitzende in ihrer Vorlageverfügung mit der Bitte „um schnellstmögliche Weiterleitung“ auf das Beschleunigungsbedürfnis besonders hingewiesen hat.

3. In Anbetracht der Verfahrensabläufe hat sich die eingetretene Verzögerung des Rechtsschutzes auf die Fortdauer der Untersuchungshaft zudem nicht entscheidend ausgewirkt. Die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers hat sich aufgrund der verzögerten Aktenvorlage im Haftbeschwerdeverfahren im Ergebnis nicht verlängert. Es kann ausgeschlossen werden, dass das Kammergericht, wäre es früher mit der Sache befasst worden, eine dem Beschwerdeführer hinsichtlich der Fortdauer der Untersuchungshaft günstigere Entscheidung getroffen hätte. Eine auf der verspäteten Vorlage beruhende Verfahrensverzögerung im – parallel zum Haftbeschwerdeverfahren durchgeführten – Revisionsverfahren ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

4. Im Übrigen ist auch für das besondere Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine verspätete Aktenvorlage an das Oberlandesgericht unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 – 3 StR 181/21 -, Rn. 39; OLG Hamm, Beschluss vom 21. August 2007 – 3 OBL 86/07 <42> <3 Ws 486/07> -, NJW 2007, S. 3220 <3221>; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 121 Rn. 41). Das Bundesverfassungsgericht hat diese fachgerichtliche Rechtsauffassung unbeanstandet gelassen (vgl. BVerfGE 42, 1 <9 f.>). Es ist nicht ersichtlich, weshalb für die Überschreitung der Vorlagepflicht aus § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO im Haftbeschwerdeverfahren strengere Maßstäbe gelten sollten. Dies gilt umso mehr, als gegen den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der angegriffenen Haftentscheidung bereits ein (noch nicht rechtskräftiges) Strafurteil vorlag, wohingegen im Verfahren der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gerade noch kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist (vgl. § 121 Abs. 1 StPO).“

Die Entscheidung werden Verteidiger jetzt demnächst immer entgegen gehalten bekommen. Sie ist in meinen Augen eine Art Freibrief, denn irgendeinen – nachvollziehbaren – Grund für die verzögerte Vorlage wird es immer geben. „Versehentlich“ hin oder her. In der StPO steht nun mal eine Frist. Was soll diese Regelung, wenn die Überschreitung der Frist nicht „sanktioniert“ wird. Das würde zur Eile anhalten. Und ja ich weiß: Die Regelung wird als bloße „Ordnungsvorschrift“ angesehen, was aber m.E. mit. der Formulierung: „ist…. vorzulegen“ nicht zu vereinbaren ist.

Wenn das BVerfG wegen der Fristüberschreitung schon nicht zur Unverhältnismäßigkeit der weiteren Haft kommt, dann hätte man aber zumindest doch einen deutlichen Mahn-/Weckruf erteilen können und auf die Bedeutung der Frist im Hinblick auf „Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG“. Dazu fehlt dann aber offenbar der Mut.

BVerfG II: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Außervollzusetzung des Haftbefehls verlängert

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Das zweite Posting betrifft den BVerfG, Beschl. v. 20.12.2022 – 2 BvR 900/22. Ergangen ist er in Zusammenhang mit der Neuregelung der Rechts der Wiederaufnahme in der StPO. Ich erinnere: Im September 2021 haben der Bundestag und der Bundesrat das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) beschlossen (vgl. hier:  Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen kommt, oder: Ist das “materielle Gerechtigkeit”?. 

Die Neuregelung ist dann alsbald zur Anwendung gekommen und als verfassungsmäßig angesehen worden; vgl. dazu den OLG Celle, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22 , der zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung im Recht der Wiederaufnahme – § 362 Nr. 5 StPO – Stellung genommen hat (vgl. hierzu Neues Spurengutachten 40 Jahre nach Freispruch, oder: Wiederaufnahme zu Ungunsten verfassungmäßig?). 

Die Neuregelung ist inzwischen Gegenstand verfassungsrechtlicher Prüfung beim BVerfG. Das hatte mit BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – den in dem Verfahren verkündeten Haftbefel durch eine einstweilige Anordnung außer Vollzug gesetzt. Allerdings nur für sechs Monate (vgl. BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg).

Nun hat das BVerfG  mit Beschluss vom 20.12.2022 die Außervollzusetzung um sechs Monate verlängert:

„Das Bundesverfassungsgericht kann eine einstweilige Anordnung dann wiederholen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für den erstmaligen Erlass einer solchen Anordnung noch gegeben sind (vgl. BVerfGE 21, 50; 89, 113 <115 f.>; 97, 102 <102>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 26. September 2019 – 2 BvR 1845/18 -, Rn. 2; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Februar 2022 – 2 BvR 1514/21 -, Rn. 2).

Dies ist vorliegend der Fall. Zur Begründung wird auf den Beschluss vom 14. Juli 2022 verwiesen. Die Sach- und Rechtslage hat sich seither nicht wesentlich geändert. Der Beschwerdeführer ist den ihm auferlegten Weisungen beanstandungsfrei nachgekommen. Auch eingedenk des Beschleunigungsgrundsatzes, der bei einem außer Vollzug gesetzten Haftbefehl prinzipiell weiterhin gilt (vgl. BVerfGE 53, 152 <159 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Juli 2022 – 2 BvR 900/22 -, Rn. 54), sind die fortgeltenden Maßnahmen gegenüber dem Beschwerdeführer für weitere sechs Monate noch verhältnismäßig.“

Also: Noch einmal sechs Monate. Ich wage die Voraussage: Das BVerfG wird auch dann noch nicht entschieden haben. Also: Dann noch einmal Verlängerung oder – im Hinblick auf den haftrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz – Aufhebung des Haftbefehls.

U-Haft III: Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Invollzugsetzung des Haftbefehls nach neuen Taten

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Und dann habe ich noch folgende U-Haft-Entscheidung, nämlich den LG Würzburg, Beschl. v. 12.12.2022 – 1 Qs 192/22.

Es geht um einen Haftbefehl, der auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, also § 112a StPO, gestützt ist. Der ist außer Vollzug gesetzt worden. Der Angeklagte begeht dann neue Straftaten und es stellt sich die Frage der Invollzugsetzung (§ 116 Abs. 4 StPO).

Im Verfahren wird um diese Frage gestritten, die vom LG in einem umfangreich begründeten Beschluss – ich verweise wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltext – bejaht wird. Hier wegen des Umfangs der Begründung nur die Leitsätze, die lauten:

1. Eine auf den Haftgrund der „Wiederholungsgefahr“ gestützter Haftbefehl kann nach § 116 Abs. 4 StPO wieder in Vollzug gesetzt werden, wenn der Beschuldigte neue gleichartige Straftaten begeht und dadurch das in ihn gesetzte Vertrauen zerstört.

2. Die neuen Taten müssen weder gegenüber dem gleichen Geschädigten erfolgen, noch im gleichen Verfahren verfolgt werden. Stets ist aber zumindest ein dringender Tatverdacht erforderlich.

U-Haft II: Nach Urteilserlass neu gefasster Haftbefehl?, oder: Alter Wein in neuen Schläuchen?

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem OLG Rostock, Beschl. v. 29.11.2022 – 20 Ws 293/22 – geht es um die Frage der Neufassung eines Haftbefehls und zur prozessualen Überholung eines Rechtsmittels.

Das LG hat den Angeklagten mit Urteil vom 20.09.2022 wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Daneben hat es u. a. die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Im Anschluss an die Urteilsverkündung hat das Landgericht den angegriffenen Beschluss erlassen. Dieser führt lediglich aus, der Haftbefehl des AG Rostock vom 23.09.2021 — 34 Gs 2211/21 — bleibe „aus den nach Maßgabe der heutigen Verurteilung zutreffenden und fortbestehenden Gründen seines Erlasses aufrechterhalten und in Vollzug“. Eine nähere Erörterung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft ist zunächst nicht erfolgt.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Angeklagten. Dieser führt an, Fluchtgefahr liege nicht vor. Diese könne sich nicht auf tatsächliche Anhaltspunkte stützen.

Das Landgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 07.10.2022 (Bd. IV BI. 11 ff. d.A.) nicht abgeholfen. Sodann hat das Landgericht weiter folgendes ausgeführt: „Der Haftbefehl des Amtsgerichts Rostock vom 23.9.2021 wird wie folgt neu gefasst: Haftbefehl Gegen den Angeklagten    wird die Untersuchungshaft angeordnet. Der Angeklagte ist dringend verdächtig und mit Urteil der Kammer vom 20.9.2022 insoweit bereits zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, [ ..]“.

Es folgen die abstrakten Tatvorwürfe, die zugehörigen Konkretisierungen sowie die ausführliche Begründung des Tatverdachts, des Haftgrunds und der Verhältnismäßigkeit der Unter-suchungshaft. Als Haftgrund hat das LG weiterhin Fluchtgefahr angenommen. Das LG hat diesen Beschluss in der Folge formlos übersandt.

Die GStA meint nun, dass die Kammer einen neuen Haftbefehl erlassen habe, wodurch sich die Beschwerde des Angeklagten gegen den Fortdauerbeschluss vom 20.09.2022 erledigt habe. Der neue Haftbefehl sei dem Angeklagten zu verkünden, erst gegen diesen Haftbefehl sei in der Folge wieder Beschwerde möglich. Das LG vertritt eine andere Ansicht. Das OLG hat sich dem LG angeschlossen:

„1. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft liegt keine Neufassung des Haft-befehls vor, die zur prozessualen Überholung der Beschwerde geführt hätte. Zwar ist die Nichtabhilfeentscheidung der Kammer vom 07.10.2022 insofern unglücklich formuliert, als dass sich alleine aus ihr eine von der Generalstaatsanwaltschaft angenommene Neufassung des Haftbefehls ergeben könnte. In der Verfügung vom 01.11.2022 hat der Kammervorsitzende indes klargestellt, dass die Ausführungen in der Nichtabhilfeentscheidung vom 07.10.2022 einzig den Zweck hatten, den nach § 268b StPO ergangenen, zunächst nicht näher begründeten Haftfortdauerbeschluss der Kammer vom 20.09.2022 nachträglich zu ergänzen, um dem Beschwerdegericht eine Entscheidung in der Sache zu ermöglichen.

Der Generalstaatsanwaltschaft ist zwar insoweit zuzustimmen, dass auch ein erst im Rahmen der Abhilfeprüfung neu gefasster Haftbefehl zur prozessualen Überholung einer gegen eine zuvor getroffene Haftentscheidung eingelegten Beschwerde führt (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 27.06.2019 – 1 Ws 99/19 -; OLG Celle, Beschluss vom 08.12.2016 -1 Ws 599/16 – juris – ). Eine Auslegung als bloße Nichtabhilfeentscheidung scheidet dann aus, wenn das Gericht nach eigener Diktion einen neuen Haftbefehl erlassen wollte und auch erlassen hat (OLG Brandenburg, a. a. 0. Rn. 13; OLG Celle a.a.O.; Hervorhebung durch den Senat).

So liegt der Fall hier aber gerade nicht, weil das Gericht mit der Verfügung vom 01.11.2022 seine Intention klargestellt hat, nämlich lediglich prüffähige Beschlussgründe entsprechend dem Gebot des § 34 StPO nachzuerstellen und keinen neuen Haftbefehl zu erlassen.

Bei dieser – auch möglichen – Lesart der zugrundeliegenden Entscheidungen ist der Ange-klagte im übrigen bessergestellt, weil sein Rechtsmittel nicht aus formellen Gründen ohne Sachprüfung zu verwerfen ist.“

U-Haft I: Beschleunigungsgrundsatz nach Urteil, oder: Fehler bei der Protokollerstellung

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Heute dann der zweite „Hafttag“ in 2023, also noch einmal drei Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Bremen, Beschl. v. 20.10.2022 – 1 Ws 107/22. Das OLG hat Stellung genommen zur Untersuchungshaftfragen, insbesondere zum Beschleunigungsgrundsatz bei verzögerter Urteilszustellung wegen fehlender Protokollfertigstellung.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 10.12.2020 in Haft wegen der Vorwurfs eines BtM-Delikts. Nach Beginn der Hauptverhandlung am 28.05.2021 hat das LG Bremen den Angeklagten nach 33 Hauptverhandlungstagen am 11.02.2022 unter Teilfreispruch im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Maschinenpistole) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten verurteilt und die Einziehung eines Betrages in Höhe von 949.476,- EUR angeordnet. Der weitere Vollzug der U-Haft wurde angeordnet.

Der Angeklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Am 09.05.2022 hat die Vorsitzende der Strafkammer die Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe, die am 27.04.2022 zur Geschäftsstelle gelangt sind, verfügt. Durch weitere Verfügung der Vorsitzenden vom 20.06.2022 wurde die Übersendung der Akten gemäß § 347 Abs. 1 StPO an die Staatsanwaltschaft veranlasst. Dort wurde ausweislich einer Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 11.07.2022 festgestellt, dass die Teilprotokolle vom 20. und 29. Hauptverhandlungstag jeweils nicht von der eingesetzten Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet worden waren. Nachdem die fehlenden Unterschriften noch am 11.07.2022 nachgeholt worden waren, verfügte die Vorsitzende unter dem 14.07.2022 erneut die Zustellung des Urteils. Die Verfügung wurde am 20.07.2022 ausgeführt. Rechtsanwalt D. verweigerte seine Mitwirkung bei der Zustellung, indem er das Empfangsbekenntnis nicht abgab, was er damit begründete, dass das per EGVP an ihn übersendete Schriftstück, welches u.a. die Angabe „2. Schreiben 20.07.2022 Urteil A.“ enthalten hatte, nicht eindeutig identifizierbar bezeichnet worden sei. Nachdem die Akten der Vorsitzenden am 05.08.2022 erneut vorgelegt worden waren, verfügte sie noch am selben Tag abermals die Urteilszustellung an Rechtsanwalt D., die ausweislich des durch den Verteidiger nunmehr abgegebenen Empfangsbekenntnisses sodann am 08.08.2022 erfolgte.

Bereits mit Datum vom 17.06.2022 hatte Rechtsanwalt D. die für den Angeklagten eingelegte Revision mit einem insgesamt 2.877 Seiten umfassenden Schriftsatz begründet, die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt sowie die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer beantragt. Mit Schriftsatz vom 16.08.2022 erklärte der Verteidiger, dass davon abgesehen werde, die Revisionsbegründungsschrift vom 17.06.2022 auf die erneute Urteilszustellung hin abermals zu übersenden; sie solle vielmehr „uneingeschränkt fortgelten“.

Mit weiterem Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt D. ebenfalls vom 16.08.2022 wendete sich der Angeklagte gegen den Haftfortdauerbeschluss der Kammer vom 11.02.2022 und beantragte, den Haftbefehl wegen einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes aufzuheben. Das hat die Kammer abgelehnt. Dagegen dann die Beschwerde zum OLG, die keinen Erfolg hatte. Das OLG hat seine Entscheidung umfassend begründet. Das hier im Einzelnen einzustellen, würde den Rahmen sprengen. Ich beschränke mich also auf die Leitsätze, die lauten:

1. Das Ergehen auch einer noch nicht rechtskräftigen tatrichterlichen Verurteilung begründet ein Indiz für das Bestehen eines dringenden Tatverdachts auch für das Beschwerdegericht im Haftbeschwerdeverfahren.

2. Das Beschleunigungsverbot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils, es vergrößert sich aber mit dieser Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist.

3. Eine von der Justiz zu vertretende Verzögerung des Verfahrens kann dadurch kompensiert werden, dass derselbe Umstand zugleich dafür ursächlich geworden ist, dass weitere Verfahrensschritte früher abgeschlossen werden konnten, als dies im Übrigen der Fall gewesen wäre. So kann, wenn wegen zunächst fehlender Protokollfertigstellung die Übersendung eines schriftlichen Urteils zu wiederholen ist und dadurch der Lauf der Revisionsbegründungsfrist erst verzögert in Gang gesetzt wurde, die Verzögerung dadurch teilweise kompensiert werden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Revisionsgegenerklärung bereits auf die nach der ersten, letztlich nicht wirksam erfolgten Urteilszustellung erstellte Revisionsbegründungsschrift hin erstellt.

4. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse ist auch zu würdigen, ob eine Verfahrensverzögerung auf ein allgemeines Organisationsdefizit der Justiz bzw. auf eine entsprechende Absicht zurückzuführen ist, oder ob sich um ein bloßes Versehen im Einzelfall gehandelt hat. Ungeachtet der hohen Sorgfaltsanforderungen an die Strafjustiz, die in besonderer Weise bei der Bearbeitung von Haftsachen gelten, ist eine Fehlerfreiheit nicht erreichbar.

Rest dann bitte im verlinkten Volltext lesen.