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Strafvollzug II: Ausführung des Strafgefangenen zum Urologen, oder: So geht es nicht

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Die zweite Strafvollzugsentscheidung hat mir die Kollegin Brenner aus Saarlouis geschickt. Das OLG Saarbrücken behandelt in dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 25.08.2020 – Vollz (Ws) 4/20 – die mit der Ausführung eines Strafgefangenen zu einem Artbesuch – hier war es ein Urologe – zusammenhängenden Fragen.

Es geht um folgenden Sachverhalt:

„Am 16.10.2017 wurde der Antragsteller auf Veranlassung der Anstaltsärztin zu dem Facharzt für Urologie Dr. pp. in Saarbrücken ausgeführt. Hierbei musste er Anstaltskleidung tragen und wurde durch zwei uniformierte Vollzugsbeamte begleitet, die auch bei der fachärztlichen Untersuchung (rektal durchgeführte Tastuntersuchung der Prostata), der Diagnosebesprechung und beim Arztgespräch ohne jedwede optische und/oder akustische Abtrennungsmaßnahmen durchgehend im Behandlungszimmer anwesend waren. Diese konkrete Art und Weise der Ausführung beruhte nicht auf einer einzelfallbezogenen Ermessensentscheidung der Anstalts- oder Vollzugsabteilungsleitung. Vielmehr entsprach sie, soweit es die Ausführung in Anstaltskleidung anbelangt, einer generellen Handlungsanweisung für alle Strafgefangenen ohne Lockerungsgewährungen gemäß §§ 38, 39 SLStVoIIzG, die der — von dem Antragsteller bestrittenen — Behauptung des Antragsgegners zufolge vorsieht, dass Strafgefangene, bei deren Ausführung keine Fesselung angeordnet ist, auf Antrag in Privatkleidung ausgeführt werden können. Einen solchen Antrag hatte der Antragsteller, bei dem eine Fesselung bei Ausführungen nicht angeordnet war, nicht gestellt. Soweit es die Aus-führung durch uniformierte Vollzugsbeamte und deren Anwesenheit bei der ärztlichen Untersuchung, der Diagnosebesprechung sowie beim Arztgespräch betrifft, entsprach dies der generellen Handhabung in der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken.“

Gegen diese Ausführung hat sich der Strafgefangene gewehrt. Und er hat dann bei der StVK und beim OLG nach längerem Hin und Her Recht bekommen:

2. Die Rechtsbeschwerde des Antragstellers ist bereits mit der erhobenen Sachrüge begründet, so dass es auf die Verfahrensrüge nicht ankommt. Die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners ist hingegen unbegründet……

a) Der als Feststellungsantrag gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist — wie die Strafvollstreckungskammer zutreffend angenommen hat — zulässig…..

b) Der Feststellungsantrag ist auch in vollem Umfang begründet. Die konkrete Ausgestaltung der am 16.10.2017 erfolgten Ausführung des Antragstellers zu einem Facharzt für Urologie war in dem von dem Antragsteller beanstandeten Umfang rechtswidrig.

aa) Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 SLStVoIIzG kann den Gefangenen das Verlassen der Anstalt unter ständiger und unmittelbarer Aufsicht gestattet werden, wenn dies aus besonderen Gründen notwendig ist (Ausführung). Auch eine außerhalb des Strafvoll-zugs erforderliche Behandlung eines Strafgefangenen (§ 63 Abs. 1 SLStVoIIzG) kann im Wege der Ausführung erfolgen (vgl. Begründung zu § 63 des Gesetzentwurfs der Regierung des Saarlandes zur Neuregelung des Vollzugs der Freiheitsstrafe im Saar-land, LT-Drucks. 15/386, S. 107).

Die Art und Weise der Ausführung eines Gefangenen i. S. des § 41 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 SLStVoIIzG, insbesondere die hierbei zu treffenden Sicherungsmaßnahmen — also z. B. auch das Tragen von Anstaltskleidung oder Privatkleidung durch den Gefangenen, das Tragen von Uniform oder Privatkleidung durch die den Gefangenen hierbei begleitenden Vollzugsbediensteten und die Anwesenheit der Vollzugsbediensteten im ärztlichen Behandlungszimmer —, hängt von einer im konkreten Einzelfall zu treffenden Ermessensentscheidung des Anstaltsleiters ab; er hat die nach den konkreten Um-ständen des jeweiligen Einzelfalls erforderlichen Sicherungsmaßnahmen unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Gefangenen sowie unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu treffen (vgl. Begründung zu § 41 des Gesetz-entwurfs der Regierung des Saarlandes zur Neuregelung des Vollzugs der Freiheits-strafe im Saarland, LT-Drucks. 15/386, S. 93 f.; BVerfG NStZ 2000, 166 f. — juris Rn. 917; Hanseatisches OLG Hamburg NStZ-RR 2014, 95 f. für den Fall der Ausführung eines Sicherungsverwahrten durch uniformierte Vollzugsbedienstete; Senatsbeschluss vom 10. Januar 2019 – Vollz (Ws) 18/18 -; Laubenthal in: Laubenthal/ Nestler/Neubacher/Nerrel, a. a. O., Abschn. E Rn. 162; Arloth/Krä, a. a. O., § 11 StVollzG Rn. 5, § 12 StVollzG Rn. 3, § 41 SLStVollzG Rn. 1, § 41 SächsStVollzG Rn. 1; Lau-benthal in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl., Kap. 6 A Rn. 4; Harrendorf/Ullenbruch in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, a. a. O., Kap. 10 C Rn. 7).

Der gerichtlichen Überprüfung unterliegt daher gemäß § 115 Abs. 5 StVollzG (i. V. mit § 118 Satz 2 Nr. 2 SLStVollzG) lediglich, ob der Anstaltsleiter die konkrete Art und Weise der Ausführung des Antragstellers zu einem Facharzt vom 16.10.2017 rechtsfehlerfrei getroffen hat, ob er also von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, die gesetzlichen Begriffe richtig angewendet, von dem ihm zustehenden Ermessen überhaupt Gebrauch gemacht, die Grenzen des Ermessens eingehalten und von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BGHSt 30, 320 ff. — juris Rn. 11; Senatsbeschlüsse vom 26. März 2014 – Vollz (Ws) 11/14 – und vom 18. April 2016 ¬Vollz (Ws) 13/14 -; Bachmann, a. a. O., Abschn. P Rn. 83 ff. m. w. N.; Arloth/Krä, a. a. O., § 115 Rn. 13 ff.; vgl. auch zu der § 115 Abs. 5 StVollzG entsprechenden Vorschrift des § 28 Abs. 3 EGGVG: Senatsbeschlüsse vom 15. Juni 2015 – VAs 7/15 – und vom 6. Oktober 2015 – VAs 14-15/15 -). Der gerichtlichen Überprüfung unterliegt demgemäß insbesondere auch, ob die Ausführung des Antragstellers in Anstaltskleidung durch uniformierte Vollzugsbeamte sowie deren Anwesenheit bei der ärztlichen Behandlung des Antragstellers durch Gründe der Sicherheit, insbesondere die Gefahr des Entweichens des Antragstellers, gerechtfertigt war und bei der Entscheidung auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG), namentlich sein erkennbares Interesse, im Rahmen eines Arztbesuchs nicht ohne sachlichen Grund als Strafgefangener stigmatisiert zu werden, berücksichtigt wurde (Senatsbeschluss vom 10. Januar 2019 – Vollz (Ws) 18/18 -).

aaa) Mit Recht hat die Strafvollstreckungskammer angenommen, dass die Ausführung des Antragstellers, soweit er hierbei Anstaltskleidung tragen musste und von uniformierten Vollzugsbeamten begleitet wurde, schon deshalb rechtswidrig war, weil es in-soweit an einer im konkreten Einzelfall getroffenen Ermessensentscheidung des Antragsgegners des erstinstanzlichen Verfahrens von vornherein gefehlt hat. Die generelle Handlungsanweisung, wonach Strafgefangene, denen keine Lockerungen gemäß §§ 38, 39 SLStVollzG gewährt werden, grundsätzlich in Anstaltskleidung ausgeführt werden sowie der Umstand, dass Arztausführungen durch uniformiertes Personal der „generellen Handhabung“ in der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken entsprechen, vermögen die gebotene Einzelfallprüfung nicht zu ersetzen. Das gilt selbst dann, wenn — wie der Antragsgegner des erstinstanzlichen Verfahrens behauptet hat — solche Gefangene, soweit bei ihrer Ausführung — wie bei dem Antragsteller — keine Fesselung angeordnet ist, auf einen entsprechenden Antrag in Privatkleidung und möglicherweise auch durch nicht uniformierte Vollzugsbeamte ausgeführt werden können.

(1) Abgesehen davon, dass die in der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken einsitzenden Strafgefangenen auf die Möglichkeit der Ausführung durch nicht uniformierte Bedienstete überhaupt nicht hingewiesen werden, und es jedenfalls fraglich erscheint, ob der in der Hausordnung sowie in der (bei der Interessenvertretung der Strafgefangenen erhältlichen) „Gelben Mappe“ enthaltene Hinweis auf die Möglichkeit einer Erlaubnis zum Tragen privater Kleidung ausreicht, um die Strafgefangenen in die Lage zu versetzen, von ihrem Antragsrecht auch Gebrauch zu machen, wäre eine solche, lediglich antragsabhängige Prüfung der im konkreten Einzelfall erforderlichen Sicherungsmaß-nahmen zur Wahrung des berechtigten Interesses des Antragstellers, im Rahmen eines Arztbesuchs nicht ohne sachlichen Grund als Strafgefangener stigmatisiert zu werden, nicht ausreichend. Die Verpflichtung zum Tragen einer einheitlichen Anstaltskleidung, die von Strafgefangenen regelmäßig als Selbstwertkränkung und Deprivation empfunden wird, stellt eine Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG dar (vgl. BVerfG NStZ 2000, 166 f. — juris Rn. 14 ff.). Verfassungsrechtlich geboten ist es daher zumindest, bei einer Ausführung das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Strafgefangenen bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen und hierbei seinem Interesse, in einer von ihm als angemessen empfundenen Kleidung ausgeführt zu werden, Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, a. a. O., juris Rn. 17). Ebenso verhält es sich hinsichtlich der Ausführung durch uniformierte Vollzugsbedienstete (vgl. OLG Hamburg NStZ-RR 2014, 95 f.). Generelle Handlungsanweisungen und eine generelle Handhabung sind nicht geeignet, diese verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte eines Strafgefangenen einzuschränken.

(2) Gleiches gilt, soweit sich der Antragsgegner bezüglich der Ausführung durch uniformierte Vollzugsbedienstete auf geltende Dienst- und Bekleidungsvorschriften sowie auf einen organisatorischen und gegebenenfalls personellen Mehraufwand — in der Regel würden mehrere Fahrten von Strafgefangenen zu niedergelassenen Arztpraxen pro Tag durch Beamte des Fahrdienstes durchgeführt, die dann mehrmals pro Tag zwischen Dienst- und Privatkleidung wechseln müssten — beruft. Zwar weist der Antragsgegner zutreffend darauf hin, dass bei der Prüfung der Notwendigkeit der Ausführung auch die personellen und organisatorischen Möglichkeiten der Strafanstalt zu berücksichtigen sind (vgl. Arloth/Krä, a. a. O., § 11 StVollzG Rn. 5 m. w. N.). Das ändert jedoch nichts daran, dass die Art und Weise der Ausführung — wie ausgeführt — einer einzelfallbezogenen Prüfung bedarf. Dementsprechend verpflichtet die AV des Ministeriums der Justiz Nr. 10/2013 vom 29.11.2013 (J 4400-107) zum Saarländischen Strafvollzugsgesetz in Abs. 1 VV zu § 41 SLStVoIIzG die Anstaltsleitung bei einer Ausführung zur Entscheidung über die „nach Lage des Falles“ erforderlichen besonderen Sicherungsmaßnahmen. Soweit der Antragsgegner meint, im vorliegenden Fall habe es der Antragsteller hinnehmen müssen, während des Aufenthalts in der Arztpraxis von Außenstehenden als Inhaftierter erkannt zu werden, weil „das Delikt des Antragstellers ohnehin mit einer öffentlichen Berichterstattung verbunden“ gewesen sei, trifft dies schon deshalb nicht zu, weil aus der öffentlichen Berichterstattung über die Taten, derentwegen der Antragsteller verurteilt wurde, nicht ohne Weiteres folgt, dass Dritte den ihnen nicht bekannten Antragsteller in der Öffentlichkeit wiedererkennen. Im Übrigen hätte dieser Umstand die gebotene Prüfung des Einzelfalls auch nicht entbehrlich gemacht.

(3) Schließlich hat bereits die Strafvollstreckungskammer mit Recht darauf hingewiesen, dass es selbst Strafgefangenen, die von der Möglichkeit, eine Ausführung in Privatkleidung durch nicht uniformierte Bedienstete zu beantragen, Kenntnis haben, praktisch kaum möglich wäre, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Denn nach dem unstreitigen Vorbringen des Antragstellers erlangen Strafgefangene — und so auch im vorliegenden Fall der Antragsteller am 16.10.2017 — von stattfindenden Ausführungen zu einem Arzt erst am Tag der Ausführung beim Wecken durch Vollzugsbeamte Kenntnis. Bei einer solchen Handhabung läuft das Recht der Strafgefangenen, einen entsprechenden Antrag zu stellen, von vornherein leer.

(4) Soweit der Antragsgegner im Rahmen der Begründung seiner Rechtsbeschwerde meint, die Strafvollstreckungskammer habe übersehen, dass über die Ausführungs-modalitäten im Rahmen der Vollzugsplanfortschreibungen entschieden worden sei, trifft dies nicht zu. Vielmehr wird im Vollzugs- und Eingliederungsplan nach dem eigenen Vorbringen des Antragsgegners lediglich darüber entschieden, ob Ausführungen mit oder ohne Fesselung erfolgen (vgl. §§ 9 Abs. 1 Nr. 16, 78 Abs. 2 Nr. 6 SLStVollzG).

bbb) Soweit im Rahmen der Ausführung des Antragstellers zum Facharzt für Urologie am 16.10.2017 die ihn begleitenden Vollzugsbeamten bei der ärztlichen Untersuchung, dem Arztgespräch und bei der Behandlung im Behandlungszimmer anwesend waren, gilt entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer nichts Anderes. Auch insoweit war die konkrete Art und Weise der Ausführung rechtswidrig, weil es an einer im konkreten Einzelfall getroffenen Ermessensentscheidung des Antragsgegners des erstinstanzlichen Verfahrens von vornherein gefehlt hat.

Zwar hat die Strafvollstreckungskammer zutreffend darauf hingewiesen, dass die Aus-führung nach der gesetzlichen Vorgabe des § 41 Abs. 1 Satz 1 SLStVoIIzG „unter ständiger und unmittelbarer Aufsicht“ zu erfolgen hat. Soweit sie angenommen hat, dieser Gesetzeswortlaut lasse „keinen Ermessensspielraum“ zu, so dass Begleitpersonen „während der gesamten Untersuchung im Arztzimmer anwesend sein müssen“, trifft dies indes nicht zu.

(1) Auch im Rahmen des Strafvollzugs sind die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte der Strafgefangenen, insbesondere ihre Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG), zu beachten. Die Verpflichtung der öffentlichen Gewalt zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde einer gefangenen Person setzt deren Behandlung im Rahmen des Strafvollzugs Grenzen. Auch im Strafvollzug ist der öffentlichen Gewalt jede Behandlung verboten, die die Achtung des Werts vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt (vgl. BVerfGE 109, 279, 313; BVerfG, Beschl. v. 13.11.2007 — 2 BvR 2354/04, juris Rn. 16). Ob eine bestimmte Maßnahme die Menschenwürde des betroffenen Strafgefangenen verletzt, hängt dabei von einer Gesamtschau der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. zur Belegung und Ausgestaltung von Hafträumen: BVerfG, Beschl. v. 04.12.2019 — 2 BvR 1258/19, 2 BvR 1497/19, juris Rn. 56). Zudem gewährleistet das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch die Selbstbestimmung des Einzelnen über die Darstellung der eigenen Person. Der Einzelne soll selbst darüber befinden dürfen, wie er sich gegenüber Dritten oder der Öffentlichkeit darstellen will und was seinen sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll (vgl. BVerfG NStZ 2000, 166 f. — juris Rn. 15).

(2) Der in § 41 Abs. 1 Satz 1 SLStVollzG verwendete Begriff „unter ständiger und unmittelbarer Aufsicht“ ist entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer im Lichte dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben auslegungsbedürftig. Auch im Rahmen der Ausführung eines Strafgefangenen ist dessen berechtigtes Interesse, nicht ohne sachlich gerechtfertigten Grund einer Situation ausgesetzt zu werden, die sein Schamgefühl verletzt oder von ihm als demütigend und Kränkung seines Selbstwerts empfunden wird, zu berücksichtigen und diesem, soweit Sicherheitsbelange der Allgemeinheit nicht entgegenstehen, Rechnung zu tragen. So wird etwa ein Strafgefangener bei dem notwendigen Gang zur Toilette die persönliche Anwesenheit eines Vollzugsbediensteten während des Ausscheidungsvorgangs regelmäßig als Verletzung seines Schamgefühls empfinden. Diese Beeinträchtigung hat er nur dann hinzunehmen, wenn dies durch Sicherheitsbelange der Allgemeinheit, namentlich zwecks Vermeidung einer Missbrauchs- oder Fluchtgefahr, geboten ist. Die Beurteilung dessen, was zur Gewährleistung einer ständigen und unmittelbaren Aufsicht erforderlich ist, hängt daher von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, namentlich von dem von dem betroffenen Strafgefangenen ausgehenden Gefahrenpotential einerseits sowie von den örtlichen Gegebenheiten andererseits. Der Fall eines hochgradig gefährlichen, bereits wegen Geiselnahme verurteilten Strafgefangenen wird daher anders zu beurteilen sein als der Fall eines bislang lediglich wegen Vermögensdelikten verurteilten Strafgefangenen. Zudem ist zu berücksichtigen, welche konkreten Flucht-möglichkeiten an dem betreffenden Ort bestehen. Ist eine Fluchtmöglichkeit ausgeschlossen oder geht von dem Strafgefangenen keine Fluchtgefahr aus und ist eine Missbrauchsgefahr, insbesondere die Gefahr der erneuten Begehung von Straftaten, zu verneinen, so kann dem Erfordernis der ständigen und unmittelbaren Aufsicht nach den Umständen des Einzelfalls auch dadurch genügt sein, dass die den Strafgefangenen begleitenden Vollzugsbediensteten bei dessen Gang zur Toilette vor der Toilettentür warten. Andererseits kann bei auf der Hand liegender Flucht- oder Missbrauchs-gefahr das Ermessen dahin auf „Null“ reduziert sein, dass das Erfordernis der ständigen und unmittelbaren Aufsicht des Strafgefangenen nur durch die ununterbrochene persönliche Gegenwart der Vollzugsbediensteten im selben Raum gewährleistet ist.

(3) Nach Maßgabe dieser Grundsätze erweist sich die Ausführung des Antragstellers zum Facharzt für Urologie vom 16.10.2017 auch insoweit als rechtswidrig, als die ihn begleitenden Vollzugsbeamten während der ärztlichen Untersuchung, dem Arztgespräch und der Behandlung im Behandlungszimmer anwesend waren. Auch insoweit hat sich der Antragsgegner lediglich auf die in der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken geübte generelle Praxis berufen, ohne dass er im konkreten Einzelfall eine Ermessensentscheidung getroffen hat. Das reicht nicht aus. Nach den vorstehenden Ausführungen folgt aus dem in § 41 Abs. 1 Satz 1 SLStVollzG normierten Erfordernis der ständigen und unmittelbaren Aufsicht nicht, dass die einen Strafgefangenen zu einem externen Arzt ausführenden Vollzugsbediensteten während der Untersuchung, der Be-handlung und dem Arztgespräch unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalls stets im Arztzimmer anwesend sein müssen. Die ärztliche Untersuchung des Antragstellers in Gestalt der rektal durchgeführten Tastuntersuchung der Prostata, dessen Behandlung sowie das Arztgespräch in Anwesenheit der beiden Vollzugsbediensteten berühren die Menschenwürde sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers. Ob die Anwesenheit der Vollzugsbediensteten im Behandlungs-zimmer erforderlich war, um die in § 41 Abs. 1 Satz 1 SLStVollzG vorgeschriebene ständige und unmittelbare Aufsicht zu gewährleisten, oder ob diesem Erfordernis auch durch ein Zuwarten der Vollzugsbediensteten vor der Tür zum Behandlungszimmer genügt worden wäre, hätte daher einer konkreten Einzelfallprüfung durch den Antrags-gegner des erstinstanzlichen Verfahrens bedurft. Daran fehlt es. Da der Antragsgegner überhaupt keine einzelfallbezogene Entscheidung getroffen hat, hat er auch von dem ihm zustehenden Ermessen, für dessen Reduzierung auf „Null“ im Falle des lediglich wegen Vermögensdelikten verurteilten Antragstellers, bei dem keine Fesselung bei Ausführungen angeordnet war, im Übrigen keine Anhaltspunkte bestehen, keinen Gebrauch gemacht.“

Strafvollzug I: Telefonat mit dem Verteidiger, oder: Wann ist es dringlich?

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Heute stelle ich dann drei Entscheidungen zum Strafvollzug vor. Die erste kommt aus bayern.

Im BayObLG, Beschl. v. 29.06.2020 – 204 StObWs 102/20 – hat der BayObLG über die Rechtsbeschwerde eines Strafgefangenen entschieden. Der hatte ein Telefonat mit seinem Verteidiger beantragt, nachdem ihm das BayObLG in verschiedenen Verfahren Fristen zur Gegenerklärung zum jeweiligen Antrag der in den Verfahren abgegebenen Erklärung der GStA  München gesetzt hatte. Diesen Antrag lehnte die JVA ab und verwies auf die fehlende Dringlichkeit. Der Gefangene könne eine Fristverlängerung beim BayObLG beantragen. Dagegen die – erfolglose – Gegenvorstellung. Daraufhin stellte der Strafgefangene Antrag auf gerichtliche Entscheidung und beantragte, die JVA zur Bewilligung und Durchführung eines Verteidigertelefonats zu verpflichten, hilfsweise festzustellen, die Telefonatsablehnung sei rechtswidrig gewesen. Diesen Antrag hat die StVK zurückgewiesen. Gegen den Beschluss hat der Antragsteller Rechtsbeschwerde eingelegt. Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg:

„a) Nach Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG kann Gefangenen in dringenden Fällen gestattet werden, Ferngespräche zu führen.

Damit stellt Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG (ebenso wie § 32 Abs. 1 StVollzG, dem Art. 35 BayStVollzG im Wesentlichen entspricht, vgl. LT-Drucks. 15/8101, Seite 57) die Erteilung einer Telefonerlaubnis in das pflichtgemäße Ermessen der Anstalt (vgl. zu § 32 StVollzG die Begründung des Regierungsentwurfs des Strafvollzugsgesetzes, BTDrucks. 7/918, Seite 61 f.; so auch BayObLÖ, Beschluss vom 18.6.2019 – 203 StObWs 897/19, nicht veröffentlicht), wobei diese nicht grundsätzlich gehindert ist, bei ihrer Entscheidung Gesichtspunkte das personellen Aufwandes für die Gewährleistung der notwendigen Sicherheit zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, BVerfGK 14, 381 = NJW 2009, 661 juris Rn. 31) und der Gefangene lediglich einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung hat (vgl. Laubenfhal, in: Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Stralvollzugsgesetze, 12. Aufl., Abschn. E, Rn. 100, 105; Arloth, in: BeckOK Strafvollzug Bayern, 13. Ed. 1.5.2020, BayStVollzG Art. 35 Rn. 2 m.w.N.).

Gegenüber § 32 StVollzG des Bundes und den Normen über Telefongespräche in den Strafvollzugsgesetzen der meisten Länder (außer Niedersachsen, vgl. § 33 Abs. 1 Satz. 1 NJVollzG) enthält Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG die Einschränkung, dass den Gefangenen nur in dringenden Fällen gestattet werden kann, Telefongespräche zu führen (vgl. Laubenthal, in: Laubenthal/ Nestler/Neubächer/Verrel, a.a.O., Abschn. E, Rn. 105): Somit handelt es sich um eine Vorschrift, die auf der Tatbestandsseite den gerichtlich voll überprüfbaren, unbestimmten Rechtsbegriff des „dringenden Falles“ enthält und auf der Rechtsfolgenseite der Anstalt Ermessen einräumt (vgl. Arloth/Krä, a.a.O., Art. 35 BayStVollzG Rn. 1; so auch OLG Celle, NStZ-RR 2009, 158, Juris Rn. 9 zu § 33 Abs. 1 Satz.1 NJVollzG).

b) Das Erfordernis eines dringenden Falls gilt nach der Gesetzeslage in Bayern grundsätzlich auch für Telefongespräche des Gefangenen mit seinem Rechtsanwalt, da Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG seinem Wortlaut nach keine Unterscheidung hinsichtlich der Gesprächspartner trifft.

aa) Demgemäß folgt ein gesetzlicher Anspruch des Gefangenen, jederzeit Telefongespräche mit seinem Rechtsanwalt oder Verteidiger zu führen, auch nicht aus Art. 35 Abs. 1 Satz 2 BayStVollzG, wonach für Telefongespräche die Vorschriften über den Besuch entsprechend gelten. Zwar sind gemäß Art. 29 Satz 1 BayStVollzG Besuche von Verteidigern (pp.) sowie von Rechtsanwälten oder Notaren in einer den Gefangenen (pp.) betreffenden Rechtssache zu gestatten. Da die Verweisung in Art. 35 Abs. 1 Satz 2 BayStVollzG auf die entsprechende Geltung der Besuchsregelungen aber nichts am grundsätzlichen Erfordernis des Vorliegens eines dringenden Falles ändert, hat sie keine Bedeutung für das „ob“ von Telefongesprächen, sondern nur für das „wie“, namentlich im Hinblick auf die bei den Besuchsvorschriften jeweils vorgesehenen Beschränkungen des Kontakts mit Personen, außerhalb der Anstalt (vgl. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl., § 32 Rn. 2; wohl auch Schwind, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 6. Aufl., § 32 Rn. 3), hier also für die Überwachung der. Telekommunikation (vgl. Dessecker, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 7. Aufl., 9. Kap. D Rn. 15; Arloth, in: BeckOK Strafvollzug Bayern, a.a.O., Art. 35 BayStVollzG Rn. 3).

bb) Demgegenüber enthält etwa das Strafvollzugsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen eine eindeutige Verweisung auf die Gestattungspflicht für Telefongespräche des Gefangenen mit seinem Rechtsanwalt. Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 StVollzG NRW sind Besuche von Verteidigerinnen und Verteidigern sowie von Rechtsanwältinnen, Rechtsanwälten, Notarinnen und Notaren in Rechtssachen der Gefangenen zu gestatten. Nach § 26 Abs. 5 StVollzG NRW gilt unter anderem § 26 Abs. 1 Satz 1 StVollzG NRW für Telefongespräche entsprechend. Die Entscheidung hierüber steht somit nicht im Ermessen der Anstalt. Das belege – wie das Oberlandesgericht Hamm zutreffend ausführt [vgl. Beschluss vom 15.9.2015 – III-1 Vollz (Ws) 401/15, in juris] – nicht nur die Formulierung des Gesetzestextes, sondern auch die Gesetzesbegründung (LT-Drs. NW 16/5413 S. 108). Darin heißt es: „Absatz 5 stellt klar, dass auch Telefongespräche der Gefangenen mit dem in Absatz 1 Satz 1 und Absatz 4 genannten, insoweit privilegierten Personenkreis zu gestatten sind“. Könnten nach dem Gesetzeswortlaut (Telefonate „von“ Verteidigerinnen und Verteidigern etc.) noch Zweifel bestehen, ob dies nicht lediglich ankommende Telefongespräche betrifft, so mache die Gesetzesbegründung insoweit keine Einschränkung und es würde dem Schutzzweck der Regelung zuwiderläufen, gerade die besonders wichtige Möglichkeit der Kontaktaufnahme vom Gefangen zum Verteidiger als Ermessensentscheldung auszugestalten (vgl. OLG Hamm, a.a.O., juris Rn. 4).

c) Eine § 26 StVollzG NRW entsprechende Norm, die ausdrücklich die entsprechende Geltung der Regelung über die Gestattung des Besuches des Verteidigers auf Telefongespräche anordnet, enthält das Bayerische Strafvollzugsgesetz nicht. Gleichwohl sind bei der Frage, wann ein dringender fall im Sinne des Art. 36 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG anzunehmen ist, bei Telefongesprächen mit Verteidigern Besonderheiten zu beachten, so dass sich die Ermesssinsentscheidung auf einen Rechtsanspruch für Telefonate mit dem Anwalt verdichten kann.

aa) Die Vorschrift des Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG hat – wie die Gesetzgebungsgeschichte zeigt – vorrangig die Zulässigkeit und die Reglementierung von Telefongesprächen durch Gefangene im Rahmen der Pflege allgemeiner Außenkontakte im Blick und ist nicht auf den Spezialfall des Telefonats eines Gefangenen mit seinem Verteidiger oder Rechtsanwalt zugeschnitten. Die Begründung zu Art. 35 BayStVollzG lautet wie folgt:

„Entsprechend der bayerischen Vollzugspraxis wird in Abs. 1 geregelt, dass den Gefängenen nur in dringenden Fällen gestattet werden kann, Telefongespräche zu führen. Außenkontakte sind für die Erfüllung des Behandlungsauftrags wichtig, weil sie der Wiedereingliederung der Gefangenen dienen, bedürfen aber einer gewiesen Kontrolle. Nicht nur aus Gründen der Sicherheit und Ordnung In der Anstalt, sondern auch aus behandlerischen Gründen muss die Anstalt, wissen, wann und mit welchen Personen die Gefangenen Kontakt haben. Eine unkontrollierte Kommunikation mit Außenstehenden kann daher nicht zugelassen werden. Dies gilt in besonderem Maße für Telefongespräche, da es bei dieser unmittelbaren Form der Kommunikation leichter möglich ist, dass Gefangene versuchen, das Gespräch zu unerlaubten Geschäften zu missbrauchen. Eine Kontrolle der Telefongespräche in größerem Umfang wäre personell nicht leistbar. Sie werden daherauf dringende Fälle beschrankt (LT-Drucks. 15/8101, Seite 57).

Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs ist die Beschränkung von Ferngesprächen auf dringende Fälle mit Art. 100, 101 BV. vereinbar. Unter Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses zwischen den im Rahmen der Resozialisierung wichtigen Außenkontakten einerseits und der bei Telefongesprächen bestehenden Gefahr, dass Kontakte gepflegt werden, die mit dem Behandlungsauftrag oder den Sicherheitsinteressen der Anstalt oder der Allgemeinheit nicht zu vereinbaren sind, andererseite, sei eine intense Überwachung erforderlich. Anders als bei einem Besuch bestehe beispielsweise die Möglichkeit, dass der Gefangene mit einem unteren als dem angegebenen Telefonpartner spricht oder dass der eigentliche Partner das Gespräch an einen Dritten weiterreicht. In diesem Zusammenhang habe es dem Normgeber freigestanden, Gesichtspunkte des personellen Aufwands für die Gewährleistung der notwendigen Sicherheit in die Überlegungen einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund sei es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber Telefongespräche mit den Argument, eine Kontrolle in größerem Umfang wäre personell nicht zu leisten (LT-Drucks. 15/8101 Seite 57), nur in dringenden Fällen gestattet. Er habe im Übrigen dem für den Schutz der Allgemeinheit und für die Anstaltsordnung eminent wichtigen Sicherheitsaspekt den Vorrang einräumen dürfen. Dam Resozialisierungsgedanken könne auch in anderer Weise hinreichend Rechnung getragen werden (Beschluss vom 12.5.2009 – Vf, 4-VII-08, FS 2009, 267, juris Rn. 56).

bb) Weder die Gesetzesmaterialien noch der Bayerische Verfassungsgerichtshof verhalten sich zum Spezialfall von Telefongesprächen eines Gefangenen mit seinem Verteidiger oder seinem Rechtsanwalt in konkreten Rechtsangelegenheiten, bei denen die genannten Abwägungsgesichtspunkte nicht in gleicherweise greifen. Denn es geht hierbei nicht primär um die Pflege der im Rahmen der Resozialisierung wichtigen sozialen Außenkontakte, sondern um die Gewährleistung eines fairen Verfahrens durch die Form der Inanspruchnahme einer rechtlichen Beratung.

cc) Demgemäß hat der 3. Strafsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts mit Beschluss vom 18.6.2019 (203 StObWs 897/19) zur Ausübung des Ermessens der Anstalt über die Bewilligung eines Telefonats des Beschwerdeführers mit seinem Verteidiger entschieden, dass namentlich die Gestaltungsgrundsätze von § 3 StVollzG, Art. 5 BayStVollzG zu berücksichtigen seien und der hieraus resultierende Angleichungsgrundsatz und die Förderungspflicht (Art. 26 Satz 2 BayStVollzG) im Einzelfall das Recht des Gefangenen auf fehlerfreien Ermessensgebrauch zu einem Recht auf telefonischen Kontakt erstarken lassen können. Dies gelte in besonderem Maße für Telefonate des Gefangenen mit seinem Verteidiger wegen laufender Verfahren. Solche Telefonate stünden dem Strafgefangenen im Regelfall zu (unter Hinweis auf Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, a.a.O., Teil E, Rn. 100, 101).

Im zugrundeliegenden Fall hatte die Justizvollzugsanstalt den Strafgefangenen auf die Erforderlichkeit weiterer Darlegungen zur Dringlichkeit seines Antrags hingewiesen. Daraufhin hatte dieser mitgeteilt, dass in einem konkret bezeichneten Verfahren zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Rechtsbeschwerdefrist ablaufe. Gleichwohl hatte die Anstalt nicht zeitnah vor Fristende eine. Entscheidung getroffen, um dem Strafgefangenen das beantragte Telefonat oder – im Falle einer Versagung – einen gerichtlichen Eilantrag zu endlichen. Dies sah der 3. Strafsenat als ermessensfehlerhaft an, da die Justizvollzugsanstalt durch diese Untätigkeit den Antrag des Strafgefangenen abgelehnt und im Ergebnis eine – von dieser auch so gewollte – endgültig Regelung herbeigeführt hatte. Hierbei habe sie ihr Ermessen nicht ausgeübt und euch nicht geprüft, ob möglicherweise sogar eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben war.

Der 3. Strafsenat hat jedoch nicht entschieden, unter welchen konkreten Voraussetzungen sich das Recht des Gefangen auf fehlerfreien Ermessensgebrauch einem Anspruch auf telefonischen Kontakt mit seinem Rechfsanwält verdichtet.

dd) Unabhängig von der Regelung in Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG ist nach überwiegender und zutreffender Ansicht in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass Telefongespräche des Gefangenen mit seinem Verteidiger oder mit seinem Rechtsanwalt zum Zwecke der Besprechung in einer ihn betreffenden Rechtssache grundsätzlich zu ermöglichen sind [vgl. zur Untersuchungshaft: BVerfG, Kammerbeschluss vom 7.3.2012 – 2 BvR 988/10, NJW 2012, 2790; zur Sicherungsverwahrung in Nordrhein-Westfalen; BVerfG, Kammerbeschluss vom 3.12.2013 – 2 BvR 2299/13, NStZ-RR 2014, 121; zum Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen: OLG Hamm Beschluss vom 15.9.2015 – Vollz (Ws) 401/15, in juris; so auch Dessecker, in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 7. Aufl., 9. Kap. D. Rn. 4; Knauer, in Feest/Lesting/Lindemann, StVollzG, 7. Aufl., § 30 LandesR Rn. 15; Laubenthal, in: Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, a.a.O Abschn. E, Rn. 100; Callless/Müller-Dietz, a.a.O„§ 32 Rn. 1; and Ansicht Schwind in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 6. Aufl., § 32 Rn. 2, außer wenn zweifelsfrei feststeht, dass der telefonische Gesprächspartner auch der Verteidiger ist], Dies gilt zumal dann, wenn gesetzliche oder gerichtlich gesetzte Fristen einzuhalten sind (vgl. OLG Köln, NStZ 1990
4). Demgemäß sind auch Telefongespräche bei drohendem Fristablauf In Anwaltssachen zu gestaten (vgl. Bosch, in: BeckOK Strafvollzug Bund, 17. Ed. 1.2.2020, StVollzG § 32 Rn. 2). Insoweit wird es als es ermessensfehlerhaft angesehen Telefongespräche in dringenden Familien- oder Anwaltsangelegenheiten abzulehnen (vgl. Arloth/Krä, a.a.O., § 32 Rn. 2; Calliess/Müller-Dietz a.a.O., § 32 Rn. 1, und Laubenthal, in: Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, a.a.O., Abschn. E Rn. 101).

Dies steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerlchts zum telefonischen Kontakt des Beschuldigten mit seinem Verteidiger (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss, vom 7.3.2012 – 2 BvR 988/10, NJW 2012, 2790, juris Rn. 30 ff.). Maßnahmen, die den freien Kontakt zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger behindern, berühren das Recht auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 49, 24, 55), das seine Grundlage im Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsprinzip hat (vgl. BVerfGE 86, 288, 317). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass bereits die Darlegungslast, die Strafgefangenen beziehungsweise ihren Verteidigern mit der Beschränkung wechselseitigen Telefonkontakts auf besonderers zu begründende Drinlichkeitsfälle auferlegt wird, mit dem Anspruch auf Vertraulichkeit der Veteidigerkommunikation in Konflikt geraten kann und dass eine telefonische Kontaktmöglichkeit erhebliche Bedeutung für die Efffektivität des vom Recht auf ein faires Verfahren umfassten und in § 137 StPO einfachgesetzlich verankerten Rechts auf freie Wahl des Verteidigers hat (vgl. hierzu BVerfG, Kammerbeschluss vom 7.3.2012 – 2 BvR 988/10, NJW 2012, 2790, juris Rn. 36 m.w.N).

Nichts anderes kann aber in Strafvollzugssachen für den Kontakt des Gefangenen mit seinem anwaltlichen Beistand gelten (vgl. zu dessen Gleichstellung, mit dem Verteidiger Dessecker/Schwind, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 7. Aufl., 9. Kap. Abschn. B, Rn. 54; Arloth/Krä. a.a.O., § 26 Rn. 1).

d) Dies zugrunde gelegt war die Versagung der Bewilligung des vom Beschwerdeführer beantragten Telefongespräches mit seinem Rechtsanwalt ermessensfehlerhaft.

aa) Allerdings trifft es zu, dass in der Praxis der beiden für Rechtsbeschwerden in Strafvollzugssachen zuständigen Strafsenate des Bayerischen Obersten Landesgerichts Anträgen auf Fristverlängerung in solchen Fällen grundsätzlich stattgegeben wird und beide Senate mittlerwelle dazu übergegangen sind, entsprechende Stellungnahmefristen von vornherein auf zwei Wochen zu bemessen. Hierauf hat auch die Justizvollzugsanstalt Amberg in ihrer Stellungnahme vom 2.1,2020 hingewiesen.

Soweit die Strafvollstreckungskammer hieraus den Schluss zieht, dass bei richterlich gesetzten Fristen wegen der Möglichkeit der Fristverlängerung eine Dringlichkeit für Telefonate mit dem Verteidiger regelmäßig nicht vorliege, während bei richterlich nicht verlängerbaren Fristen – etwa der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde – Telefonaten des Strafgefangenen mit seinem Verfahrensbevollmächtigten regelmäßig stattzugeben sein wird, greift dies jedoch zu kurz.

bb) Die von den Strafsenaten des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafvollzugssachen mittlerweile grundsätzlich eingeräumten zweiwöchentlichen Fristen zur Erwiderung auf Anträge der Generalstaatsanwaltschaft dienen dazu, den Gefangenen ausreichend Zeit zu geben, um auf die Stellungnahme und den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft zu erwidern und hierbei gegebenenfalls Rechtsrat einzuholen, was bei den bislang eingeräumten einwöchigen Fristen angesichts des technischen und organisatorischen Ablaufe der Postbeförderung innerhalb der Justizvollzugsanstalten nicht immer ausreichend gewährleistet war. Die Verlängerung der Fristen hat nicht den Zweck, Telefongespräche des Gefangenen mit seinem Rechtsanwalt durch den Verweis auf eine schriftliche Kontaktaufnahme zu vermeiden bzw. gar überflüssig zu machen. Diese würde dem Recht des Gefangenen auf Gewährleistung eines fairen Verfahrens – hier in der Form der Inanspruchnahme rechtlicher Beratung – zuwiderlaufen. Zunächst ist darauf hinzuweisen dass ein allfälliges persönliches Beratungsgespräch des Gefangenen mit seinem Verteidiger nicht durch Schriftverkehr ersetzt werden kann. Sodann ist zu berücksichtigen dass der in Strafhaft befindliche Gefangene nicht die Möglichkeit hat, den Rechtsanwalt in seinen Geschäftsräumen zur Durchführung eines solchen Beratungsgesprächs aufzusuchen. Vielmehr müsste der Rechtsanwalt zu einem solchen Gespräch in die Anstalt kommen, was einerseits wegen des hierfür erforderlichen Zeitaufwandes zu Terminschwierigkeiten auf Anwaltsseite und andererseits zu hohen Kosten für den Gefangenen führen kann.

cc) Der vorliegende Sachverhalt gibt keinen Anlass zu einer Grundsatzentscheidung über den generellen Umfang des Rechts von Gefangenen auf Führung von Telefonaten mit ihrem Verteidiger oder ihrem Rechtsanwalt in sie betreffenden Rechtsachen. Jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen dem Gefangenen in einem Gerichtsverfahren eine Frist zur Stellungnahme gesetzt wurde, kann es dem Gefangenen nicht verwehrt werden, ein Telefongespräch mit seinem Verteidiger, dem ihm beigeordneten oder dem von ihm mandatierten Rechtsanwalt (was dieser gegebenenfalls bei der Vermittlung des Telefonats dem zuständiger Mitarbeiter der Justizvollkommen, ob es sich um eine gesetzliche oder richterlich bestimmte Frist handelt, da dem Gefangenen in beiden Fällen die Möglichkeit zu eröffnen ist, vor der Angabe der Stellungnahme entsprechenden Rechtsrat bei seinem \/erteidiger oder anwaltlichen Beistand bzw. Verfahrensbevollmächtigten einzuholen.

Die gewünschte telefonische Verbindung kann unter Nutzung der Telefonnummer, die der als solcher ausgewiesene Rechtsanwalt angegeben hat, von der Justizvollzugsanstalt selbst hergestellt werden (vgl. BVerf, Kammerbeschluss vom 7.3.2012 – 2BvR 988/10, NJW 2012, 2790, juris Rn. 35).“

Corona I: Absehen vor weiterer Vollstreckung, oder: „Im Knast bist du vor Corona sicher“

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Der Kollege Vetter hat in der vergangenen Woche über den OLG Hamm, Beschl. v.  07.05.2020 – III-3 Ws 157/20 – berichtet (vgl. hier), zu dem bislang nur die PM des OLG Hamm vorliegt. Es geht in dem Beschluss um Haft und die Gefahr der Ansteckung in Corona-Zeiten während/in der Haft. Dazu das OLG Hamm kurz gefasst: „Kein erhöhtes Corona-Risiko in nordrhein-westfälischen Gefängnissen“.

Das gilt aber nicht nur für Nordrhein-Westfalen, sondern z.B. wohl auch in Rheinland-Pfalz. Dazu hat mir die Kollegin Juharos aus Trier den OLG Koblenz, Beschl. v. 29.04.2020 – 2 VAs 3/20 – geschickt. Das OLG hat über das Absehen von der weiteren Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Hinblick auf die Ausweisung eines Ausländers – also § 456a Abs. 1 StPO – entschieden. Ich lasse mal die Frage, ob man aus dem Beschluss entnehmen muss, dass bei Bandendelikten von Ausländern ein Absehen von der weiteren Vollstreckung (fast) immer ausscheidet, außen vor.

Nicht konform kann man m.E. mit dem Beschluss jedenfalls nichts gehen, wenn es dort heißt.

„Anlass für eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Verurteilten im Schreiben seiner Verteidigerin vom 27. März 2020. Hinweise dafür, dass der Verurteilte im Vollzug einer erhöhten Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus (Covid-19) als in Freiheit ausgesetzt wäre, sind nicht erkennbar. Im Gegenteil erscheint das Risiko einer Erkrankung im Hinblick darauf, dass soziale Kontakte der Gefangenen im Strafvollzug eher minimiert sind und seitens der Justizvollzugsanstalten in Rheinland-Pfalz Vorkehrungen bis hin zur Quarantäne getroffen wurden, sogar eher geringer zu sein, als für die sich auf freiem Fuße befindenden Menschen.“

Das hätte man m.E. auch anders formulieren können. Im Übrigen könnte man mit dem Argument jede Strafaussetzung zur Bewährung nach Teilverbüßung ablehnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das OLG das sagen wollte.

„Angesetzter“ im Haftraum, oder: Alkohol steigert das Aggressionspotential

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem BayObLG, Beschl. v. 06.02.2020, Az. 203 StObWs 2294/19 – aus Bayern. Das hatte über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:

„Der Verurteilte ist Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt Amberg. Bis zum 2.8.2019 war er im Haftraum C 202 untergebracht, einem 6-Mann-Saal.

Am 29.7.2019 befanden sich neben dem Verurteilten vier weitere Gefangene im Haftraum. Auf dem Gemeinschaftstisch stand der Wasserkocher des Verurteilten, den alle Gefangene des Haftraumes mitbenutzen konnten. Ein in den Haftraum eingetretener Beamter der Justizvollzugsanstalt ließ, nachdem er deutlich einen Geruch wahrgenommen hatte, den Verurteilten den Deckel des erhitzten Wasserkochers abnehmen. Im Wasserkocher schwammen an der Oberfläche Fruchtstücke.

Der Beamte nahm den Wasserkocher wegen des Verdachts eines verbotenen „Angesetzten“ in Verwahrung; der Inhalt wurde anschließend entsorgt. Der Verurteilte erhielt daraufhin am 6.8.2019 eine Disziplinarstrafe wegen Verstoßes gegen die Meldepflicht nach Art. 88 Abs. 4 BayStVollzG (Entzug der Verfügung über das Hausgeld sowie Einkaufssperre von einem Monat auf drei Monate zur Bewährung nach Art. 110 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Art. 111 Abs. 2 BayStVollzG).

Der Verurteilte begehrte mit Antrag nach §§ 109 ff. StVollzG vom 6.8.2019, eingegangen am 12.8.2019, ergänzt mit Schreiben vom 9.8.2019, eingegangen am 13.8.2019, dass die Disziplinarstrafe aufgehoben wird, hilfsweise die Feststellung deren Rechtswidrigkeit. In der Justizvollzugsanstalt Amberg bestehe kein wirksames Alkoholverbot (jedenfalls sei ihm keine Hausordnung ausgehändigt oder sonst bekannt gemacht worden), zudem müsse er sich das Fehlverhalten Dritter nicht zurechnen lassen, zumal er gegen seinen Willen zusammen mit Alkoholikern und Junkies untergebracht sei. Er wisse weder, was ein „Angesetzter“ sei, noch wie dieser rieche. Es sei auch nicht geklärt, was sich tatsächlich in dem Wasserkocher befunden habe, noch wer diesen befüllt habe. Schließlich müsse er im Falle einer Meldung mit Repressalien durch Mitgefangene rechnen, weshalb ihm eine Meldung nicht zumutbar gewesen sei.“

Die Strafvollstreckungskammer des LG Amberg den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurückgewiesen.Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Verurteilten, die das BayObLG als unbegründet angesehen hat.

„Der Senat verweist hierzu auf die in jeder Hinsicht zutreffende Begründung der Strafvollstreckungskammer. Dort sind alle vom Verurteilten vorgebrachten Einwände sorgfältig abgehandelt. Der Senat macht sich die dortigen Ausführungen in vollem Umfang zu eigen.

Insbesondere ist hervorzuheben:

a) Die Strafvollstreckungskammer hat auf einer ausreichend tragfähigen Tatsachengrundlage entschieden. Ihr lagen die detaillierten Zeugenangaben des Vollzugsbeamten S., des Inspektors im Justizvollzugsdienst G. und der Regierungsrätin L. vor, an deren Richtigkeit zu zweifeln keinerlei Anlass besteht.

Der Verurteilte hat keine den strengen Anforderungen des § 118 Abs. 2 StVollzG genügende Aufklärungsrüge erhoben. Er rügt lediglich, dass es die Strafvollstreckungskammer unterlassen habe aufzuklären, „warum die weiteren im Haftraum befindlichen Gefangenen nicht wegen Verstoßes gegen die Meldepflicht diszipliniert wurden.“ Damit ist nicht bestimmt behauptet und konkret angegeben, welches Ergebnis von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwarten gewesen wäre (Bachmann in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgsetze, 12. Aufl. Abschn. P Rn. 104; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. § 244 Rn. 102). Hierfür genügt nicht, dass sich die Justizvollzugsanstalt mit ihrer eigenen Beweiswürdigung in Widerspruch gesetzt habe. Der Verurteilte hätte bestimmt behaupten und vortragen müssen, welchen konkreten Fehler die Justizvollzugsanstalt im Rahmen ihrer Beweiswürdigung begangen hat bzw. welche Widersprüche angeblich bestehen.

Unabhängig davon prüft der Senat vorliegend nur, ob die Justizvollzugsanstalt gegenüber dem Verurteilten rechtswidrig gehandelt hat, nicht jedoch deren Vorgehen gegenüber anderen Gefangenen. Die Gründe für eine unterschiedliche Sachbehandlung können vielfältiger Natur sein und haben ihre Ursache nicht zwingend in einer widersprüchlichen Beweiswürdigung.

b) Nicht entscheidungserheblich ist, ob die Hausordnung dem Verurteilten ausgehändigt oder sonst inhaltlich bekannt gemacht worden ist. Ihm wird nämlich kein Verstoß gegen Nummer 22 der Hausordnung vorgeworfen.

c) Nach Art. 88 Abs. 4 BayStVollzG genügt allein, dass dem Gefangenen Umstände bekannt sind, die eine Gefahr für das Leben oder eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit einer Person bedeuten.

(1) Der Senat geht aufgrund der getroffenen Feststellungen davon aus, dass der Verurteilte wusste, dass sich in seinem Wasserkocher ein „Angesetzter“ befand. Der Vollzugsbeamte S. hatte den Geruch bereits auf dem Gang vor dem Haftraum des Verurteilten durch die geschlossene Türe deutlich wahrgenommen. Im Wasserkocher selbst befanden sich nach übereinstimmenden Angaben des Vollzugsbeamten S., des Inspektors im Justizvollzugsdienst G. und der Regierungsrätin L. Fruchtstücke im Gärungszustand, die Ursache eines eindeutigen Alkoholgeruches waren.

Es ist allgemein bekannt, dass sich bei gärendem Obst Alkohol bildet. Ferner ist allgemein bekannt, dass dieser Gärungsprozess außerhalb einer professionellen Produktion mit Kühlung und Destillation nicht kontrollierbar ist, weder im Hinblick darauf, welcher Alkoholgehalt erreicht wird und ob etwaige Alkoholvergiftungen drohen, noch ob dabei gefährliche Nebenprodukte wie das potentiell nervenschädigende Methanol entstehen.

Unabhängig davon führt der Konsum von Alkohol generell zu einer Steigerung des Aggressionspotentials mit der von der Justizvollzugsanstalt nachvollziehbar geschilderten und in der Vergangenheit bereits mehrfach aufgetretenen Folge, dass Gefangene in der Zelle randalieren oder Schlägereien anzetteln, auch gegenüber Beamten, mit der Gefahr gravierender Körperverletzungen. Dazu verhält sich der Verurteilte nicht.

Die gegenteiligen Behauptungen des Verurteilten widersprechen jeglicher Lebenserfahrung und sind als reine Schutzbehauptungen zu werten. Sie widersprechen einer verständigen Würdigung in der Laiensphäre, die keine Kenntnis der genauen chemischen Prozesse erfordert.

(2) Unter vorgenannten Umständen stellt deshalb bereits die bloße Existenz von „Angesetztem“ in einem Haftraum eine nach Art. 88 Abs. 4 BayStVollzG meldepflichtige Gefahr für das Leben oder eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit einer Person dar. Auf eine konkrete Bestimmung der Alkoholkonzentration kommt es nicht an.

Das Oberlandesgericht München führt zwar in seinem Beschluss vom 1.4.2010 (Az.: 4 Ws 40/10 (R)) aus, dass erst dann, wenn zusätzlich Art, Menge und Wirkungsgehalt des im Haftraum aufgefundenen Rauschmittels bekannt seien (dort: selbst angesetzte alkoholhaltige Flüssigkeit), beurteilt werden könne, ob Disziplinarmaßnahmen wegen erheblicher Gefahren für die Gesundheit von Personen im Sinne des Art. 88 Abs. 4 BayStVollzG zu Recht verhängt worden seien. Erst dann lasse sich nämlich berechnen, in welchen Grad berauschten Zustands sich derjenige, der die Flüssigkeit trinke, versetzen könne und welche Gefahren dann von ihm ausgingen.

Bartel in Graf, BeckOK Strafvollzugsrecht Bund, § 82 Rn. 30 sowie Verrel in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl. Abschn. M Rn. 17, folgen dem Oberlandesgericht München, jedoch jeweils ohne eigene Begründung.

Demgegenüber vertritt Arloth/Krä, StVollzG, 4. Aufl. § 82 Rn. 7, zu Recht die Auffassung, dass allein die Existenz von „Angesetztem“ in einem Haftraum eine Meldepflicht auslöst. Objektiv ist der Genuss von „Angesetztem“ je nach der Art der Herstellung und der verwendeten Zutaten konkret geeignet, die oben unter (1) beschriebenen Gefahren hervorzurufen.

Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass eine Alkoholgärung ohne Kühlung und Destillation ein in ihrer dynamischen Entwicklung generell gefährlicher unkontrollierter Vorgang ist, bei dem der zufällige Zeitpunkt eines behördlichen Eingreifens mit dem zu diesem Zeitpunkt zufällig erreichten Fortschritt des chemischen Prozesses nicht maßgeblich sein kann. Richtigerweise ist deshalb bei der Beurteilung der Frage, ob eine die Meldepflicht auslösende Situation vorliegt, eine vorgenanntem Umstand Rechnung tragende „objektivierte“ ex-ante-Sicht vorzunehmen (vgl. Arloth/Krä, a.a.O.). Die vorerwähnte Steigerung des Aggressionspotentials nach Alkoholgenuss ist ohnehin unabhängig von einem bestimmten Alkoholwert.

d) Hinsichtlich der vom Verurteilten geäußerten Befürchtung von Repressalien durch Mitgefangene hat die Strafvollstreckungskammer ebenfalls zutreffende Ausführungen gemacht. Durch etwaige Repressalien wird der Pflichtenverstoß grundsätzlich nicht beseitigt (Harrendorf/Ullenbruch in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. Kap. 11 Abschn. B Rn. 9); die Vorschrift des Art. 88 Abs. 4 BayStVollzG liefe ansonsten weitgehend ins Leere. Hinsichtlich des Verurteilten sind auch gar keine konkreten Anhaltspunkte für eine etwaige Gefährdung ersichtlich; wie die Strafvollstreckungskammer detailliert begründet, gehört der Verurteilte nicht zur Gruppe tatsächlich gefährdeter Gefangener.

e) Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz darin, dass das Disziplinarverfahren gegen einen Mithäftling des Haftraumes nach dem Vorbringen des Verurteilten eingestellt worden sein soll. Bei dem „Tatobjekt“ handelte es sich nämlich um den eigenen Wasserkocher des Verurteilten, weshalb er in erhöhtem Maße zu einer Meldung verpflichtet war.

 

Vollzugslockerungen bei länger dauerndem Strafvollzug, oder: Konkrete Entlassungsperspektive?

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Heute werde ich drei Entscheidungen vorstellen, die mit Vollzug und Bewährung zu tun haben.

Und den Reigen eröffnet der OLG Koblenz, Beschl. v. 23.12.2019 – 2 Ws 770/19 Vollz, den mir die Kollegin aus Juharos aus Trier geschickt hat. Es geht im Beschluss um die Frage von Vollzugslockerungen bei einem länger dauernden Strafvollzug. Hier verbüßte der Antragsteller seit dem 03.08.2011, also seit über acht Jahren, eine lebenslange Freiheitsstrafe. Im Juni 2018 beantragte er Ausführungen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit (§ 48 StVollzG), was die JVA ablehnte. Den Bescheid hat die Strafvollstreckungskammer Koblenz in Diez auf Antrag des Strafgefangenen auf gerichtliche Entscheidung aufgehoben.

Im März 2019 hat die JVA einen Antrag auf Ausführung erneut abgelegnt. Dabei führte sie u.a. aus, dass „zwar bedingt durch die verbüßte Inhaftierungszeit ein gesteigertes Gewicht des Resozialisierungsinteresses unstrittig vorliegt, diesem jedoch aktuell nicht das Gewicht zugemessen werden kann, das in der Gesamtbetrachtung aller entscheidungsrelevanter Sachverhalte Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit, auch unter Beachtung der Rechtsprechung, dass diese vorbeugend zu gewähren sind, erforderlich erscheinen.

Das hat beim OLG Koblnez nicht gehalten:

„….. Die Rechtsbeschwerde hat daher in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg.

Maßgebliche Vorschrift für Ausführungen ist § 48 LJVoIIzG. Danach kann den Gefangenen das Verlassen der Anstalt unter ständiger und unmittelbarer Aufsicht gestattet werden, wenn dies aus besonderen Gründen notwendig ist (Ausführung).

Zutreffend haben die Antragsgegnerin und die Strafvollstreckungskammer insoweit zunächst ausgeführt, dass vorliegend weder ein wichtiger Anlass vorlag noch eine Ausführung zur Vorbereitung einer Lockerungsgewährung in Betracht kam.

Richtig erkannt wurde ferner, dass Ausführungen auch zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit erforderlich sind und aus den in § 45 Abs. 2 LJVOIIzG genannten Gründen Vollzugslockerungen noch nicht gewährt werden können.

1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. BVerfG, 2 Be 681/19 v.18,09,2019 mwN — juris). Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen. Dabei greift das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist. Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert, Androhung und Vollstreckung der Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug. Dementsprechend hat der Gesetzgeber dem Vollzug der Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrunde gelegt. Der Wiedereingliederung des Gefangenen dienen unter anderem die Vorschriften über Vollzugslockerungen beziehungsweise vollzugsöffnende Maßnahmen, Durch diese Maßnahmen werden dem Gefangenen zudem Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen. Erstrebt ein Gefangener diese Maßnahmen, so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse berührt (BVerfG, aa0).

Gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne etwa wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht erfüllen, dienen Ausführungen dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit. Bei langjährig Inhaftierten kann es daher, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt. Der damit verbundene personelle Aufwand ist dann hinzunehmen (BVerfG, aaO).

2. Unter Zugrundelegung dieser Ausführungen kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben, da sich aus ihrer Begründung ergibt, dass im Rahmen der Abwägung bei der zu treffenden Ermessensentscheidung vorliegend dem Gesichtspunkt der bisherigen Vollstreckungsdauer ein unvertretbares Gewicht beigemessen wurde. Die Antragsgegnerin hat in ihrer Stellungnahme vom 25. März 2019 – wie oben unter 1. dargestellt – ausgeführt, dass der Antragsteller im Hinblick auf andere durch das Bundesverfassungsgericht entschiedene Fälle „erst“ siebeneinhalb Jahre inhaftiert sei. Aue den Formulierungen wird deutlich, dass die Antragsgegnerin offenbar der Ansicht war, ein begründetes Resozialisierungsinteresse sei regelmäßig erst nach Ablauf von etwa zehn Jahren Haftverbüßungszeit anzuerkennen.

Die Strafvolistreckungskarnmer hat diesen Gedanken aufgegriffen und in ihrer angefochtenen Entscheidung zur Begründung angeführt, dass die Antragstellerin „das „zeitliche Element“ – für die Person des Antragstellers eine Inhaftierungsdauer zum Zeitpunkt der Entscheidung vom 25.03.2019 „von vergleichsweise lediglich 7 1/2 Jahren“ – zutreffend bzw. beanstandungsfrei auch hier herangezogen“ habe.

Insbesondere unter Berücksichtigung der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, 2 Be 1165/19 v. 18.09.2019) lässt sich diese Auffassung jedoch nicht halten, In dem genannten Verfahren gab das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde eines über sieben Jahre inhaftierten Strafgefangenen mit der Begründung statt, langjährig Inhaftierten seien Lockerungen in Gestalt von Ausführungen zu gewähren, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive bestehe. Dass das Bundesverfassungsgericht dabei eine Verbüßungszeit nicht erst ab zehn Jahren als langjährig ansieht, wird insofern deutlich, als es festgestellt hat, dass das Ausgangsgericht „dem hohen Gewicht, das dem Resozialisierungsinteresse des Beschwerdeführers nach rund 7-jährigem Freiheitsentzug für die Ermessensentscheidung der JVA zukam“, nicht auf hinreichende Weise Rechnung getragen habe.

Im Hinblick darauf, dass der Strafgefangene vorliegend bereits zum Zeitpunkt der Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin siebeneinhalb Jahre verbüßt hatte, konnte die angefochtene Entscheidung der Strafvollstreckungskammer im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben keinen Bestand haben.

3. Ergänzend ist anzumerken, dass die von der Antragsgegnerin hilfsweise vorgetragenen Erwägungen zur Fluchtgefahr nicht den Anforderungen genügen dürften, die das Bundesverfassungsgericht in den oben zitierten Entscheidungen diesbezüglich noch einmal klargestellt hat. Auf Grund der hohen Bedeutung des Resozialisierungsinteresses darf sich eine Justizvollzugsanstalt,. wenn sie vollzugslockernde Maßnahmen versagt, nicht auf bloße pauschale Wertungen oder den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Missbrauchsgefahr beschränken. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren. Versagt die Justizvollzugsanstalt eine Vollzugslockerung unter Annahme einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr, prüfen die Fachgerichte im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG, ob die Vollzugsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe richtig ausgelegt und angewandt hat, Zwar verlangt der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr eine Prognoseentscheidung und eröffnet der Vollzugsbehörde einen – verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden – Beurteilungsspielraum, in dessen . Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind. Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht. Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat (BVerfG, aaO).“