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StGB II: Erforderlichkeit der Notwehrhandlung, oder: Verteidigung mit einem Messer

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Im zweiten Posting dann etwas aus dem allgemeinen Teil des StGB, nämlich der BGH, Beschl. v. 21.11.2024 – 2 StR 503/24 – zur Erforderlichkeit der Notwehrhandlung.

Das LG hat denn Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Dagegen die Revision, die in vollem Umfang Erfolg hatte.

Zugrunde liegt ein Streit zwischen zwei alkoholisierten Männern, bei denen einer von ihnen ein Messer eingesetzt hat. Der „Angreifer“ hatte eine BAK von maximal 2,92 ‰. Er brachte dem 67 Jahre alten Angeklagten, der etwa 160 cm groß und infolge einer schlecht ausgeheilten Verletzung im Gebrauch des linken Arms eingeschränkt war, durch zwei Faustschläge in das Gesicht eine blutende Verletzung am Nasenrücken bei. Der Angeklagte, der eine BAK von maximal 2,74 ‰ aufwies, ergriff ein ausgeklappt auf einer Ablage liegendes Klappmesser, stand auf und brachte mit dem Messer dem um einige Jahre jüngeren, größeren und körperlich überlegenen Angreifer, um diesen von weiteren Schlägen abzuhalten, mehrere Verletzungen bei. Dieser befand sich zu keiner Zeit in akuter Lebensgefahr.

Das Schwurgericht hat den Angeklagten der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB schuldig gesprochen, der Angeklagte sei nicht durch Notwehr nach § 32 StGB gerechtfertigt gewesen. Das hat der BGH anders gesehen:

„Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung und damit eine Rechtfertigung durch Notwehr verneint hat, halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gemäß § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 20 Rn. 8; BGH, Beschlüsse vom 22. Juni 2016 – 5 StR 138/16, NStZ 2016, 593; vom 17. April 2019 – 2 StR 363/18, NStZ 2019, 598, 599, Rn. 10, und vom 4. August 2022 – 5 StR 175/22, NStZ 2023, 156, 157, Rn. 6; jeweils mwN). Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, ist sie grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Der Angegriffene muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht (BGH, Urteile vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, aaO, und vom 8. Juni 2016 – 5 StR 564/15, NStZ 2017, 276; BGH, Beschlüsse vom 12. April 2016 – 2 StR 523/15, NStZ 2016, 526, 527; vom 17. April 2019 – 2 StR 363/18, aaO, und vom 4. August 2022 – 5 StR 175/22, aaO).

Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz eines Messers kann durch Notwehr gerechtfertigt sein. Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist dessen Gebrauch zwar regelmäßig anzudrohen und, sofern dies nicht ausreicht, der Versuch zu unternehmen, auf weniger sensible Körperpartien einzustechen. Diese Einschränkungen stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass die Drohung oder der weniger gefährliche Messereinsatz unter den konkreten Umständen eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (BGH, Urteile vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, aaO, und vom 25. Oktober 2017 – 2 StR 118/16, NStZ-RR 2018, 69, 70; BGH, Beschlüsse vom 17. April 2019 – 2 StR 363/18, aaO, und vom 4. August 2022 – 5 StR 175/22, aaO; jeweils mwN).

2. Diesen Maßstab hat die Schwurgerichtskammer verfehlt.

a) Rechtsfehlerhaft hat sie in ihre Erwägungen zur Erforderlichkeit der Verteidigung den Umstand einbezogen, dass der Angeklagte schon in früheren Streitigkeiten sogar schwerere Schläge von T. erhalten habe und dass ein nicht sofort erfolgender Messereinsatz deshalb nicht „zu einer stark erhöhten Gefahr für weitere Verletzungen … geführt hätte“. Bei der Prüfung der Erforderlichkeit der Verteidigung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB geht es nicht darum, ob eine weitere Eskalation der Situation hinaufbeschworen wird. Maßgeblich ist vielmehr die Frage, ob in der zugespitzten Angriffssituation die Verteidigung gewährleistet, dass der Angriff endgültig beendet wird (BGH, Beschlüsse vom 17. April 2019 – 2 StR 363/18, NStZ 2019, 598, 599, Rn. 15, und vom 4. August 2022 – 5 StR 175/22, NStZ 2023, 156, 157, Rn. 7).

b) Die auf der Grundlage dieses rechtsfehlerhaften Ansatzes getroffenen Feststellungen lassen überdies eine Auseinandersetzung mit dem Risiko vermissen, dass dem körperlich unterlegenen, in der Benutzung eines seiner Arme eingeschränkten Angeklagten auf eine verbale Androhung des Messereinsatzes die einzige ihm zur Verfügung stehende Verteidigungswaffe durch T.          hätte entwunden werden können. Offen lassen die Feststellungen aber andererseits, wie die Zuschrift des Generalbundesanwalts zutreffend bemerkt, auch, ob in dem dynamischen Geschehen der stark alkoholisierte T.         für eine verbale Androhung überhaupt erreichbar gewesen wäre. Der vom Landgericht in diesem Zusammenhang herangezogene Erfahrungssatz, eine vorherige Androhung eines Messereinsatzes werde jedermann regelmäßig zur Beendigung einer bis dahin unbewaffnet geführten Auseinandersetzung veranlassen, existiert nicht (dazu Rückert, NStZ 2023, 158 f.).

c) Schließlich setzen sich die Feststellungen auch nicht damit auseinander, dass in den ungezielten, mit bedingtem Verletzungsvorsatz geführten bogenförmigen Bewegungen des Messers auch eine Androhung seines erst folgenden gezielten Einsatzes für den Fall einer weiteren Fortsetzung des Angriffs gesehen werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2010 – 1 StR 351/10, NStZ-RR 2011, 238). Ob es sich demgegenüber bei mit direktem Verletzungsvorsatz geführten Stichen gegen Arme oder Beine des Angreifers in der konkreten Kampflage überhaupt um mildere Mittel der Verteidigung gehandelt hätte, hat das Landgericht ebenso unerörtert gelassen wie die Frage, ob sie in gleicher Weise zur sofortigen Unterbindung des Angriffs geeignet gewesen wären.“

StGB I: Versuchte Vergewaltigung über „WhatsApp“ , oder: Sichverschaffen jugendpornographischer Inhalte

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Autot WhatsApp

Und dann geht es weiter mit BGH-Rechtsprechung. Heute zum StGB.

Ich beginne mit dem BGH, Urt. v. 20.11.2024 – 2 StR 170/24. Das LG hat den Angeklagten wegen verschiedener Taten verurteilt. Mit geht es hier um den Fall der versuchten Vergewaltigung in Tateinheit mit Unternehmen des Sichverschaffens jugendpornographischer Inhalte (Fall II. 9 der Urteilsgründe des LG).

Das LG hat dazu folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

„Der Angeklagte nahm über Online-Plattformen Kontakt zu minderjährigen Mädchen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren auf. Er benutzte dabei verschiedene Pseudonyme, unter denen er sich als minderjähriger Junge oder minderjähriges Mädchen ausgab. Ihm war vor allem daran gelegen, Nacktfotos sowie Fotos und Videos seiner Gesprächspartnerinnen mit pornographischen Inhalten zu erlangen. Zudem ging es ihm darum, über die Manipulation und Erniedrigung der Mädchen ein Gefühl von Überlegenheit und Macht zu erleben, wobei er schrittweise vorging.

a) In der Zeit vom 18. April 2022 bis zum 18. Mai 2022 kommunizierte der Angeklagte mit der im Tatzeitraum 15 Jahre alten Geschädigten über „WhatsApp“, wobei der Angeklagte hierbei das jugendliche Alter der Geschädigten jedenfalls billigend in Kauf nahm. Der Angeklagte forderte die Geschädigte wiederholt zur Übersendung von Nacktaufnahmen auf, was sie schließlich tat. Um die Geschädigte unter Druck zu setzen, schrieb der Angeklagte ihr am 18. April 2022 gegen 23:12 Uhr: „Sagt dir das was [bestimmte Schule]“ und „Das ist deine Schule“. Sodann drohte er: „Wie schlimm ist es wenn die Videos und die Bilder alle an deiner Schule und bei dem Spiel sehen könnten wie schlimm währe das von 10 bis 1000+ und ich jemand aus deine Schule bin“. Nachdem die Geschädigte mit „1000+“ geantwortet hatte, schrieb der Angeklagte: „Was würdest du alles machen damit die niemand zu sehen bekommt“. Als die Geschädigte diese Frage nicht beantwortete, erhöhte der Angeklagte den Druck: „Ok dann werde ich das allen in Schule schicken und bei dem Spiel und ins Internet“ sowie „Dann gebe mir eine Antwort auf meine Frage was würdest du alles dafür machen“. Schließlich schrieb der Angeklagte: „Nein du wirst 6 Monate machen was ich verlange“. Zudem forderte er die Geschädigte auf, in ihr Badezimmer zu gehen und sich während eines Videoanrufes mit ihm auszuziehen.

Die Geschädigte, die aus Angst vor der von dem Angeklagten angedrohten Bloßstellung dem Druck nachgab, jedoch den Live-Videoanruf scheute, schlug dem Angeklagten beschwichtigend die Anfertigung einer entsprechenden Videodatei vor, was der Angeklagte zunächst mit „Ok dann bye und dich sieht jeder“ und später mit der Nachricht „Ok ein Video 8 Minuten lang wo du dich ausiehst und dich mit unterschidlich vielen Fingern fingerst“ kommentierte. Im Verlauf der weiteren Kommunikation forderte der Angeklagte die Geschädigte zur Übersendung der entsprechenden Videodatei auf und erwähnte hierbei regelmäßig, dass er anderenfalls die zuvor übersandten Dateien veröffentlichen werde. Gegen 23:57 Uhr schrieb der Angeklagte darüber hinaus „Und bei TikTok bekommt es auch jeder und wenn Jugendamt davon erfährt darfst auch nicht mehr zu deinem Vater“.

Die Geschädigte übersandte aufgrund der vorangegangenen Drohungen daraufhin ein Video an den Angeklagten, welches die Geschädigte teilweise entkleidet beim Umziehen zeigte. Der Angeklagte war damit jedoch nicht zufrieden und kommentierte das Video mit den Worten „Vergesse es man sieht nichts und nicht 5 Minuten bye lade jetzt alles hoch“. Im Verlauf des weiteren Chats, nachdem der Angeklagte erneut wiederholt eine Veröffentlichung der Dateien der Geschädigten angedroht hatte, willigte die Geschädigte ein, für einen Zeitraum von acht Monaten den Aufforderungen des Angeklagten nachzukommen. Dieser schrieb hierzu: „Das heißt Bilder Videos cam egal was“ und „Wenn ich sage du sollst jetzt was machen dann hast du das zu machen“ und „Solltest du einmal nicht machen was ich verlange und sage ists vrbei“. Am 19. April 2022 gegen 00:45 Uhr äußerte er zudem: „Du wirst jetzt ein Video machen wie du dich im Bad ganz ausziehen wirst“ und „Aber du wirst dich 3 Minuten nackt zeigen“. Die Geschädigte übersandte daraufhin eine Videodatei, in welcher sie sich mit unbekleideter Brust präsentierte.

Zu einer Übersendung des von dem Angeklagten geforderten Videos, in dem sich die Geschädigte verschiedene Finger vaginal einführen sollte, kam es hingegen nicht. Der Angeklagte erkannte, nachdem er die Geschädigte auch im Folgenden nicht zur Übersendung eines solchen Videos zwingen konnte, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Herstellung und Übersendung des Videos durch die Geschädigte nicht mehr würde erreichen können, und sah sein Vorhaben als fehlgeschlagen an (Fall II.9 der Urteilsgründe).“

„c) Im Übrigen ist der Schuldspruch rechtsfehlerfrei. Insbesondere tragen die Feststellungen in Fall II.9 der Urteilsgründe entgegen der schriftlich geäußerten Auffassung des Generalbundesanwalts die Verurteilung wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit Unternehmen des Sichverschaffens jugendpornographischer Inhalte.

Auch dagegen die Revision des Angeklagten, die keinen Erfolg hatte:

„aa) Die Strafkammer ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die Grundtatbestände des § 177 Abs. 1 und 2 StGB und der sich auf diese beziehende besonders schwere Fall nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nach dem Wortlaut des Gesetzes auch sexuelle Handlungen des Opfers an sich selbst erfassen und es nicht erforderlich ist, dass der Täter räumlich anwesend ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. März 2020 – 4 StR 624/19, BGHR StGB § 177 Abs. 1 n.F. von ihr vornehmen lässt 1, Rn. 7 mwN).

bb) Der Angeklagte hat zu der Vergewaltigung auch unmittelbar gemäß § 22 StGB angesetzt.

(1) Ein unmittelbares Ansetzen zur Tat liegt bei Handlungen des Täters vor, die nach seiner Vorstellung in ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen oder mit ihr in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht es los“ überschreitet, es eines weiteren Willensimpulses nicht mehr bedarf und er objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, so dass sein Tun ohne Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestandes übergeht, wobei auf die strukturellen Besonderheiten der jeweiligen Tatbestände Bedacht zu nehmen ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 17. März 2022 – 4 StR 223/21, Rn. 16).

Nicht als Zwischenakte in diesem Sinne anzusehen sind Handlungen, die wegen ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit mit der Tathandlung nach dem Plan des Täters als deren Bestandteil erscheinen, weil sie an diese zeitlich und räumlich angrenzen und mit ihr im Falle der Ausführung eine natürliche Einheit bilden; dies kann auch für ein notwendiges Mitwirken des Opfers gelten (vgl. BGH, Urteile vom 30. April 1980 – 3 StR 108/80, NJW 1980, 1759 f.; vom 17. März 2022 – 4 StR 223/21, Rn. 16, und vom 11. Oktober 2023 – 2 StR 96/23, Rn. 32; Beschluss vom 16. Juli 2015 – 4 StR 219/15, Rn. 13 ff.). Maßgebliche Kriterien für die Beurteilung im Einzelfall sind unter anderem die Dichte des Tatplans und der Grad der Rechtsgutgefährdung (vgl. BGH, Urteile vom 16. September 2015 – 2 StR 71/15, BGHR StGB § 22 Ansetzen 39, und vom 17. März 2022 – 4 StR 223/21, Rn. 16, jeweils mwN).

(2) Gemessen hieran ist die rechtliche Würdigung des Landgerichts im Fall II.9 der Urteilsgründe rechtsfehlerfrei. Der Angeklagte hatte von der Geschädigten bereits Nacktfotos erhalten. Er übte mittels einer Vielzahl von Nachrichten erheblichen Druck durch die Androhung der Verbreitung der Nacktaufnahmen aus. Dies führte dazu, dass die Geschädigte sich zwar nicht dazu bereit erklärte, sich während eines Videoanrufs auszuziehen. Sie stellte jedoch die Anfertigung einer entsprechenden Videodatei in Aussicht, worauf der Angeklagte forderte, dass die Geschädigte ihre Finger in ihre Vagina einführen sollte. Bis zur Übersendung des Videos erhöhte der Angeklagte durch mehrere weitere Nachrichten den Druck, damit die Geschädigte seine Wünsche erfülle.

Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bereitschaft der Geschädigten, auf die Forderungen des Angeklagten einzugehen, sowie der von ihr bereits übersandten Nacktbilder war angesichts der drängend-manipulativen Vorgehensweise des Angeklagten, die seinem Tatplan entsprach, von einer erheblichen Rechtsgutgefährdung auszugehen. Der Angeklagte musste sich nah am Ziel seines Vorhabens sehen, als er davon ausging, dass die Geschädigte nunmehr ein Video anfertigte.

Insoweit unterscheidet sich der Fall von anderen Fällen, in denen das Rechtsgut noch nicht stark gefährdet war und der Bundesgerichtshof den Versuchsbeginn abgelehnt hat, weil das weitere Geschehen von der Bereitschaft des Opfers abhängig war, sich auf das Ansinnen des Täters einzulassen. In diesen Fällen war das Opfer noch nicht in den Zugriffsbereich des Täters gelangt (BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2013 – 4 StR 258/13, Rn. 5, 16 f., insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 59, 28), das Angebot von Geld für ein Entkleiden während eines Videotelefonats erfolgte „fernschriftlich“ (BGH, Beschluss vom 2. November 2021 – 6 StR 485/21, Rn. 5 f.) oder der Täter unternahm nach einem Angebot von zunächst 50 Euro und später 3.400 Euro für die Durchführung des Oralverkehrs gegen Ende einer Reise keine weiteren Anstalten, sein Ziel zu erreichen (BGH, Beschluss vom 11. Mai 2021 – 5 StR 42/21, NStZ-RR 2021, 335 Rn. 2 ff.). Auch in dem Fall, in dem der Täter zwei Kinder während eines (Video-)Telefonats zu einem Zungenkuss aufforderte, nachdem diese kurz zuvor seiner Forderung nach einem Kuss nachgekommen waren (BGH, Beschluss vom 21. November 2023 – 4 StR 72/23, u.a. Rn. 10, 19), war die Rechtsgutgefährdung wesentlich schwächer als im vorliegenden Fall, in dem der Angeklagte erheblichen Druck ausübte und eine Zusage der Geschädigten erhalten hatte.
cc) Der Angeklagte trat nicht wirksam von der versuchten Vergewaltigung zurück. Die Geschädigte übersandte ihm trotz Aufrechterhaltung des Drucks lediglich zwei Videodateien, die seinen Forderungen nicht entsprachen. Vor diesem Hintergrund ist die Schlussfolgerung des Landgerichts nicht zu beanstanden, wonach der Angeklagte erkannte, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Herstellung und Übersendung eines Videos, das die Geschädigte während des Einführens von Fingern in ihre Vagina zeigen sollte, nicht mehr würde erreichen können, und daher seinen Versuch als fehlgeschlagen ansah.“

StPO III: Zulässige/unzulässige Nebenklägerrevision, oder: Erhebung der allgemeinen Sachrüge

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Und dann haben ich noch den schon etwas älteren BGH, Beschl. v. 08.10.2024 – 5 StR 358/24 – zur Nebenklägerrevision.

Das LG hat die Angeklagte, u.a.  vom Vorwurf des besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die Nebenklägerin greift das Urteil mit der unausgeführten Sachrüge umfassend an. Hinsichtlich der Angeklagten A. A. hat der BGH die mit der Sachrüge geführte Revision der Nebenklägerin als unzulässig, hinsichtlich der Angeklagten S.A. hingegen als zulässig angesehen:

„1. Die Revision der Nebenklägerin ist hinsichtlich der Angeklagten A.A.unzulässig.

Nach § 400 Abs. 1 StPO kann ein Nebenkläger ein Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt oder dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss als Nebenkläger berechtigt. Die Begründung seiner Revision muss daher erkennen lassen, dass er mit dem Rechtsmittel ein zulässiges Ziel verfolgt, also einen bisher unterbliebenen Schuldspruch des Angeklagten (auch) wegen einer Straftat, welche die Berechtigung zum Anschluss an das Verfahren begründet; wird eine derartige Präzisierung bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist nicht vorgenommen, ist das Rechtsmittel unzulässig (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2023 – 5 StR 546/23 mwN).

So liegt der Fall hier. Die Nebenklägerin hat die Revision lediglich mit der unausgeführten Sachrüge begründet, obwohl die Angeklagte wegen eines Waffendelikts verurteilt und lediglich teilweise freigesprochen worden ist. Sie hat daher entgegen den Anforderungen des § 400 Abs. 1 StPO nicht hinreichend dargelegt, inwieweit sie in ihrer Stellung als Nebenkläger durch das Urteil beschwert und welches ihre Anschlussbefugnis stützende Strafgesetz verletzt sein soll. Vielmehr kann angesichts ihrer unbeschränkt eingelegten Revision nicht ausgeschlossen werden, dass sie lediglich eine andere Rechtsfolge für das abgeurteilte Waffendelikt erstrebt. Die Erhebung der unausgeführten Sachrüge genügt den Anforderungen an die Zulässigkeit einer Nebenklägerrevision daher nicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Februar 2019 – 3 StR 400/18; vom 27. Februar 2018 – 4 StR 489/17). Mit Blick auf die strengen Formvorgaben des Rechtsmittelrechts und die Dispositionsbefugnis der – anwaltlich vertretenen – Beschwerdeführerin über die Weite ihres Rechtsmittelangriffs kommt eine eigenmächtige Reduktion auf den gesetzlich zulässigen Anfechtungsumfang nicht in Betracht (vgl. LK-Wenske, StPO, 27. Aufl., § 400 Rn. 19).

2. Die Revision der Nebenklägerin ist hinsichtlich der Angeklagten S.A. hingegen zulässig.

Zwar hat die Nebenklägerin auch insoweit lediglich die allgemeine Sachrüge erhoben. Es ergibt sich aber in der Zusammenschau mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift unzweifelhaft, dass sie insofern ein berechtigtes Anfechtungsziel im Sinne des § 400 Abs. 1 StPO verfolgt:

Die Angeklagte ist umfassend freigesprochen worden. Bei den ihr zur Last gelegten Delikten handelt es sich ausschließlich um solche, die die Beschwerdeführerin zum Anschluss als Nebenkläger berechtigen. Die gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 StGB) ist ein Nebenklagedelikt nach § 395 Abs. 1 Nr. 3 StPO; die Anschlussberechtigung ist daher schon durch die Anschlusserklärung im Sinne des § 396 Abs. 1 Satz 1 StPO begründet worden, ohne dass es hierfür eines gerichtlichen Zulassungsbeschlusses bedurft hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 16. April 2024 – 6 StR 365/23 mwN). Im Übrigen hat die Strafkammer gemäß § 396 Abs. 2 StPO „beschlossen“, dass „die Nebenklägerin … berechtigt [ist], sich dem Verfahren anzuschließen“. Damit ist die Beschwerdeführerin (konstitutiv) auch hinsichtlich des der Angeklagten zur Last gelegten Nebenklagedelikts des besonders schweren Raubes nach § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB (§ 395 Abs. 3 StPO) als Nebenklägerin zugelassen. Betrifft der Freispruch eines Angeklagten aber allein nebenklagefähige Delikte, für die – wie hier – die Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 1, § 396 Abs. 1 StPO und § 359 Abs. 3, § 396 Abs. 2 StPO gegeben ist, genügt die unausgeführte Sachrüge ausnahmsweise den Anforderungen des § 400 Abs. 1 StPO, weil dann das (berechtigte) Anfechtungsziel keinem Zweifel unterliegt (vgl. LK-Wenske, aaO, Rn. 22; ebenso KK-StPO/Allgayer, 9. Aufl., § 400 Rn. 3).“

StPO II: Bei der Urteilsbegründung rausgeflogen, oder: Keine Übersetzung der schriftlichen Urteilsgründe

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Als zweite Entscheidung habe ich dann den BGH, Beschl. v. 17.12.2024 – 1 StR 429/24 – (noch einmal) zur Übersetzung der schriftlichen Urteilsgründe an einen Ausländer.

Das LG hat die Angeklagte in einem Verfahren mit dem Vorwurf  des Mordes verurteilt. Dagegen hat die Angeklagte Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung des Fair-trial-Grundsatzes gemäß Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 Buchstabe e) EMRK in Verbindung mit § 187 Abs. 2 GVG, weil die Übersetzung der schriftlichen Gründe des angefochtenen Urteils in die russische Sprache unterblieben sei.

Der Verfahrensrüge liegt zu Grunde, dass die der deutschen Sprache nicht mächtige Angeklagte, für die während der gesamten Hauptverhandlung eine Dolmetscherin für die russische Sprache anwesend war, nach abgeschlossener Verlesung der Urteilsformel (§ 268 Abs. 2 Satz 1 StPO) durch den Vorsitzenden der Strafkammer gemäß § 231b Abs. 1 Satz 1 StPO zur Wahrung der Ordnung aus dem Hauptverhandlungssaal entfernt wurde. Nachdem die Angeklagte die mündliche Urteilsbegründung mehrfach durch lautes Dazwischenreden ohne Worterteilung gestört hatte und sich hiervon durch mehrfache vorausgegangene Androhungen und Belehrungen für den Wiederholungsfall nicht hatte abhalten lassen, erging der Beschluss des LG, die Angeklagte zur Wahrung der Ordnung für die weitere Urteilsbegründung aus dem Sitzungszimmer zu entfernen. Der Beschluss wurde vollzogen und die Hauptverhandlung gemäß § 231b Abs. 1 Satz 1 StPO in Abwesenheit der Angeklagten fortgesetzt; ihr Verteidiger wohnte der Hauptverhandlung bis zu deren Abschluss bei. Eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung wurde der Angeklagten danach in ihrer Zelle ausgehändigt und von der Dolmetscherin übersetzt. Dem Antrag der Angeklagten auf Übersetzung der schriftlichen Urteilsgründe wurde nicht entsprochen.

Der BGH hat die Revision als unbegründet verworfen:

„Die Rüge der Verletzung des Fair-trial-Grundsatzes gemäß Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 Buchstabe e) EMRK in Verbindung mit § 187 Abs. 2 GVG, mit der sich die Angeklagte gegen die unterbliebene Übersetzung der schriftlichen Gründe des angefochtenen Urteils in die russische Sprache wendet, erweist sich bereits als unzulässig. Denn aus dem Vortrag der Beschwerdeführerin kann sich ein Verfahrensfehler nicht ergeben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

a) Der Verfahrensrüge liegt zu Grunde, ……

b) Ein Verfahrensfehler liegt danach nicht vor.

Die Verfahrensrüge genügt den Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO – wie der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat – schon deshalb nicht, weil die Beschwerdeführerin es versäumt hat, den Beschluss des Vorsitzenden der Strafkammer, mit dem der Antrag auf Übersetzung des schriftlichen Urteils zurückgewiesen wurde, jedenfalls seinem wesentlichen Inhalt nach mitzuteilen. Darüber hinaus fehlt es auch an der Darstellung der hiergegen gerichteten Beschwerde.

Ein Verfahrensfehler scheidet nach dem Beschwerdevortrag aber auch sonst aus. Der Generalbundesanwalt hat ausgeführt:

„Ausgehend vom abgestuften System in § 187 Abs. 2 GVG ist eine schriftliche Übersetzung regelmäßig dann nicht notwendig, wenn die Angeklagte verteidigt ist (§ 187 Abs. 2 Satz 5 GVG) und ihr die mündlichen Urteilsgründe übersetzt werden. In diesem Fall wird die effektive Verteidigung der sprachunkundigen Angeklagten dadurch ausreichend gewährleistet, dass der von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt und die Angeklagte die Möglichkeit hat, das Urteil mit ihm – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Dolmetschers – zu besprechen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2020 – 3 StR 430/19, BGHSt 64, 283-301; Beschluss vom 22. Januar 2018 – 4 StR 506/17, Rn. 5).

Nichts anderes kann gelten, wenn eine Angeklagte – wie hier – aufgrund eigenen Verschuldens nach Maßgabe des § 231b Abs. 1 StPO nach der Verkündung der Urteilsformel aus der Hauptverhandlung entfernt werden muss. Die Angeklagte hätte es andernfalls in der Hand, durch eigenes Fehlverhalten eine schriftliche Urteilsübersetzung zu erzwingen und sich damit – im Vergleich zu einer sich ordnungsgemäß führenden Angeklagten – prozessual besserzustellen.

Der Beschwerdeführerin ist es des Weiteren unbenommen, sich eine Übersetzung der schriftlichen Urteilsgründe anfertigen zu lassen. Daneben ist ihr aber auch die Möglichkeit eröffnet, bei einem Gespräch mit ihrem Verteidiger – das die sprachunkundige Angeklagte ohnehin nur unter Hinzuziehung eines Dolmetschers führen kann – die schriftlichen Urteilsgründe eingehend zu erörtern.

Schließlich ergibt sich ein berechtigtes Interesse an der Übersetzungsleistung auch nicht wegen der besonderen Sachkunde der Angeklagten oder einem anderen durch die Verteidigung vorgetragenen Gesichtspunkt. Dergleichen ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2020 – 3 StR 430/19 –, BGHSt 64, 283-301, Rn. 15-16).“

StPO I: Verwertung von SkyECC-Überwachungsdaten, oder: Ergänzung zur BGH-Grundsatzentscheidung

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Und dann heute ein paar StPO-Entscheidungen – und zwar alle vom BGH.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 09.01.2025 – 1 StR 142/24 – zum Dauerbrenner: Verwertung von Daten aus der Überwachung von Messengerdiensten. Stichwort: Encro-Chat. In dem Beschluss des ersten Strafsenats geht es um die Verwertung von SkyECC-Kommunikationsüberwachungsdaten.

Ich erspare mir (und dem Leser) den (technischen) Sachverhalt. Das dürfte bekannt sein. Mit der Verfahrensrüge wird dann die Unverwertbarkeit der Daten geltend gemacht. Ohne Erfolg:

„bb) Die Verfahrensrüge dringt nicht durch.

(a) Sie ist bereits unzulässig, weil sie in einem für maßgeblich gehaltenen, von der Stoßrichtung umfassten Punkt nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechend vorträgt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 19. Mai 2021 – 1 StR 509/20 unter 1. mwN); dies schlägt auf die Verfahrensrüge insgesamt durch. Die Revision behauptet, die deutschen Strafverfolgungsbehörden hätten spätestens ab März 2020 von der laufenden SkyECC-Kommunikationsüberwachung gewusst und diese entgegen ihrer Verpflichtung aus § 91g Abs. 6 IRG nicht untersagt; hierin unterscheide sich die Beweiserhebung maßgeblich von den sogenannten EncroChat-Fällen. Die Verfahrensbeanstandung stützt sich insoweit auf einen verfahrensfremden Vermerk des Bundeskriminalamts vom 17. Juni 2021, in dem auf der ersten Seite ausgeführt wird, die SkyECC-Überwachung sei im März 2020 durch eine mediale Berichterstattung allgemein bekannt geworden. Dass es sich bei der Datumsangabe „März 2020“ um ein Schreibversehen handelt, ergibt sich zum einen aus dem Vermerk selbst. Denn dort wird auf Seite fünf angegeben, im März 2021 sei über Europol bekannt geworden, dass bei Ermittlungen in Frankreich Daten des Kryptodienstes SkyECC erhoben worden seien. Allein dies deckt sich zum einen mit der am 10. März 2021 durch Europol veröffentlichten Pressemitteilung über den „Aktionstag“ vom 9. März 2021. Zum anderen belegt der gesamte zeitliche Ablauf der Ermittlungen, dass die Strafverfolgungsbehörden SkyECC-Daten erst Ende des Jahres 2020 entschlüsseln konnten; vorher wurde darüber wegen der Gefährdung des Ermittlungserfolgs nicht in den Medien berichtet.

(b) Im Übrigen hätte die Verfahrensrüge auch in der Sache keinen Erfolg. Die von den französischen Strafverfolgungsbehörden erhobenen und im Wege der Beweismittelrechtshilfe für deutsche Strafverfolgungszwecke zur Verfügung gestellten Daten von SkyECC-Nutzern sind verwertbar. Aufgrund des ähnlichen Verfahrensablaufs wie bei Verwertung der über den Messengerdienst EncroChat erhobenen und transferierten Daten gelten die in der Grundsatzentscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29 Rn. 24 ff.) aufgestellten Maßstäbe. Mit Blick auf die im Anschluss ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 30. April 2024 – C-670/22) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. November 2024 – 2 BvR 684/22) ist ergänzend auszuführen:

(aa) Die Beweismittelgewinnung der französischen Behörden verstößt nicht gegen wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze im Sinne des nationalen oder europäischen ordre public (vgl. Artikel 1 Abs. 4 RL EEA, § 73 IRG). Aus der Beschlagnahme der SkyECC-Telefone zusammen mit dem Betäubungsmittelfund im Hafen von An.             ergab sich ein Anfangsverdacht für die Begehung von Betäubungsmittelstraftaten. Dieser wurde durch die dargestellten Besonderheiten der Telefone, dem Verhalten der kanadischen Firma und der Auswertung der 9.000 Chat-Nachrichten von französischen SkyECC-Nutzern erhärtet. Dass bei einer solchen Verdachts- und Beweislage zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen die Betreiber des Unternehmens eingeleitet und im Zuge dessen die zeitlich befristete Erhebung aller Nutzerdaten des SkyECC-Dienstes richterlich angeordnet und überprüft wird, lässt – wie bei der Überwachung der EncroChat-Nutzer (vgl. hierzu BGH aaO Rn. 34 ff.) – auch angesichts der Gesamtdauer der Überwachung, die ersichtlich der zunächst erforderlichen Analyse der Server zur Entwicklung einer Entschlüsselungslösung geschuldet war, grundlegende Rechtsstaatsdefizite oder einen Verstoß gegen menschen- oder europarechtliche Grundwerte nicht erkennen. Auch eingedenk der großen Anzahl der überwachten Mobilfunkanschlüsse sind die Ermittlungsmaßnahmen weit von geheimdienstlichen „anlasslosen Massenüberwachungen und Massendatenauswertungen“ entfernt. Der Austausch der Nachrichten wurde nicht aufgrund eines allgemeinen Verdachts gegen eine verschlüsselte Kommunikationsinfrastruktur überwacht, sondern – wie zuvor aufgezeigt – aufgrund konkreter Verdachtsmomente. Die französischen Behörden gingen ersichtlich davon aus, dass der gezielt auf die Bedürfnisse der organisierten Kriminalität ausgerichtete Absatzweg gepaart mit den erheblichen Kosten des Erwerbs und Betriebs der Krypto-Telefone sowie des durch die Ermittlungen bestätigten kriminellen Einsatzbereichs die Erfassung Unverdächtiger ausschloss.

(bb) Aus dem Verstoß der französischen Behörden gegen die Pflicht zur Benachrichtigung des von einer grenzüberschreitenden Telekommunikationsüberwachung betroffenen Zielstaates Deutschland aus Artikel 31 RL EEA bzw. gegen die diese Vorgaben umsetzende französische Vorschriften (wonach die RL EEA unmittelbar in die französische Rechtsordnung integriert wurde, vgl. hierzu BGH, aaO Rn. 39 mwN) folgt kein Beweisverwertungsverbot. Zwar handelt es sich bei Artikel 31 RL EEA um eine rechtshilferechtliche Bestimmung, die neben der Achtung der Souveränität des zu unterrichtenden Zielstaats auch den Schutz der Zielperson u.a. vor einer Verwendung der Daten in diesem Mitgliedstaat – hier also Deutschland – bezweckt (vgl. EuGH, Urteil vom 30. April 2024 – C-670/22 Rn. 121, 124 und 125) und somit individualschützenden Charakter hat. Aber bei der gebotenen Abwägung der widerstreitenden Interessen überwiegt das des Staates an einer umfassenden Aufklärung besonders schwerer Straftaten. Insoweit gilt (vgl. nur BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. November 2024 – 2 BvR 684/22 Rn. 98; Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 und 1857/10, BVerfGE 130, 1 Rn. 117 mwN):

(1) Nicht jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften zieht ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich; darüber ist nach den Umständen im Einzelfall, insbesondere nach der Art der verletzten Vorschrift und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägen der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Nur ausnahmsweise ist ein Beweisverwertungsverbot aufgrund gesetzlicher Vorschrift wie etwa § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO oder aus übergeordneten wichtigen Gründen anzunehmen. Denn ein Beweisverwertungsverbot schränkt eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, und zwar den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob das staatliche Ermittlungsorgan den Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen hat. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Zudem darf eine Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen wurden, nicht bejaht werden, wenn dies zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen würde. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten sein.

(2) Nach diesen Maßstäben folgt aus einem Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht kein Beweisverwertungsverbot: Es geht um die Aufklärung besonders schwerwiegender Straftaten im Sinne des § 100b Abs. 2 StPO, nämlich Verbrechen nach § 30a Abs. 1 BtMG, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von 15 Jahren bedroht sind (vgl. zur Notwendigkeit der effektiven Bekämpfung solcher Straftaten; BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168 Rn. 57; Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels, ABl. L 335, S. 8). Andere Beweismittel stehen hier für die Überführung des Angeklagten nicht zur Verfügung. Die SkyECC-Protokolle sind als Beweismittel besonders ergiebig, da die Beteiligten darin offen über Drogengeschäfte in erheblichem Umfang kommunizierten. Der Angeklagte konnte sich im Strafprozess auch mittelbar gegen die Abhörmaßnahme durch einen Verwertungswiderspruch wehren, so dass er unter anderem hierdurch seine Verteidigungsrechte effektiv wahren konnte (vgl. zu diesem Erfordernis EuGH, Urteile vom 30. April 2024 – C-670/22 Rn. 130 und vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u.a. – C-511/18, C-512/18, C-520/18 Rn. 226). Demgegenüber fällt der Umstand, dass den französischen Behörden bereits früh klar war, dass die Überwachung der Telekommunikation eine Vielzahl von Personen in anderen Ländern betrifft, wegen des geringen Grads der Persönlichkeitsrelevanz der Chatnachrichten nicht erheblich ins Gewicht. Zudem durfte der Kernbereich der Lebensführung infolge der Einschränkung der Beschlagnahmeanordnung nicht aufgezeichnet werden.

(cc) Gegen Artikel 6 Abs. 1 Buchstabe b RL EEA ist ebenfalls nicht verstoßen worden.

(1) Artikel 6 Abs. 1 Buchstabe b RL EEA, der die EEA zur Übermittlung von Beweismitteln regelt, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaates befinden, setzt für deren Rechtmäßigkeit voraus, dass die Übermittlung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen hätte angeordnet werden können. Dagegen verlangt Artikel 6 Abs. 1 Buchstabe b RL EEA gerade nicht, dass der Erlass einer EEA, die auf einen Beweismitteltransfer gerichtet ist, denselben materiell-rechtlichen Voraussetzungen unterliegt, wie sie im Anordnungsstaat (Deutschland) für die Erhebung dieser Beweise gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 30. April 2024 – C-670/22 Rn. 91 ff.). Selbst unter Heranziehung einer Online-Durchsuchung nach § 100b StPO, deren Erkenntnisse der strafprozessual restriktivsten Verwendungsschranke des § 100e Abs. 6 StPO unterliegen, hätten die Beweismittel in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter den gleichen Bedingungen übermittelt werden können. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden ersuchten die französischen Behörden in einem gegen namentlich bekannte Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahren u.a. wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 30a Abs. 1 BtMG), mithin einer Katalogtat nach § 100b Abs. 2 Nr. 5 Buchstabe b StPO, um Übermittlung von Inhaltsdaten konkreter SkyECC-Nutzer. Der Tatverdacht, der auch im Einzelfall besonders schwer wog (§ 100b Abs. 1 Nr. 2 StPO), ergab sich aus technischen Überwachungsmaßnahmen, der Beschlagnahme des Marihuanas sowie der Sicherstellung und Auswertung der von gesondert verfolgten Beschuldigten genutzten SkyECC-Telefone. Das weitere Aufklären des Sachverhalts sowie die Ermittlung der an der Tatbegehung maßgeblich beteiligten, durch die jeweiligen SkyECC-IDs konkretisierten, jedoch noch namentlich unbekannten Personen wie der Angeklagte wären ohne diese Beweismittel nicht möglich gewesen. Die sich hieraus gegen den Angeklagten nach § 100b Abs. 1 und Abs. 2 StPO ergebende erforderliche Verdachtslage, die auch im Einzelfall schwer wiegt, bestand spätestens im Verwertungszeitpunkt der Beweisergebnisse (vgl. dazu BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. November 2024 – 2 BvR 684/22 Rn. 99; BGH, aaO Rn. 70 mwN). Die Daten betreffen zudem keine Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung (§ 100d Abs. 2 Satz 1 StPO).

(2) Schließlich führt die Neuregelung durch das KCanG zu keiner anderen Beurteilung. Denn das bandenmäßige Handeltreiben mit Cannabis in nicht geringer Menge (§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG) ist Katalogtat der Online-Durchsuchung (§ 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO).

(dd) Ein Beweisverwertungsverbot ergibt sich letztlich auch nicht aus einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers.“