Archiv für den Monat: Juni 2023

StPO I: Absprache – Mitteilungspflicht verletzt, oder: „vage erinnerte und nur mögliche Verfahrensabläufe“

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Und heute dann noch einmal ein paar StPO-Entscheidungen. Heute habe alle drei mit Rechtsmitteln zu tun.

Hier zunächst der BGH, Beschl. v. 18.04.2023 – 6 StR 124/23 -, der sich noch einmal zum erforderlichen Umfang/Vortrag für eine ausreichende Begründung der Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) äußert, wenn ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO – Stichwort: Verständigung – geltend gemacht wird.

Das LG hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen dann u.a. die Rüge der Verletzung formellen Rechts. Die hate keinen Erfolg:

„1. Die Verfahrensrüge, das Landgericht habe seine Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO verletzt, greift nicht durch.

a) Der Beschwerdeführer trägt folgendes Verfahrensgeschehen vor:

Am ersten Sitzungstag regte der Strafkammervorsitzende ein „Rechtsgespräch“ an und unterbrach zu diesem Zweck die Hauptverhandlung. Bei dem sodann zwischen den Berufsrichtern, den Schöffen, der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger geführten „Rechtsgespräch“ wurde die „Frage des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erörtert“, wobei die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft darauf hinwies, dass aus ihrer Sicht kein minder schwerer Fall vorliege. Über dieses Gespräch berichtete der Vorsitzende nach Fortsetzung der Hauptverhandlung nicht; die Sitzungsniederschrift enthält für den Zeitpunkt der Fortsetzung nach dem „Rechtsgespräch“ den Hinweis, dass „eine Verständigung jedoch nicht erzielt wurde“. Der Angeklagte machte keine Angaben zur Sache; zu einer Verfahrensabsprache kam es auch später nicht.

Der Beschwerdeführer macht geltend, Inhalt und Ablauf der Gespräche nicht näher vortragen zu können. Sein Verteidiger habe ihm im Anschluss an das „Rechtsgespräch“ lediglich mitgeteilt, dass es für ihn „nicht gut aussehe“ und die Staatsanwaltschaft nicht unter fünf Jahren Freiheitsstrafe beantragen werde. Deshalb habe er ihm geraten zu schweigen. Im Revisionsverfahren erbat der Beschwerdeführer Auskunft von der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft über Inhalt und Ablauf des „Rechtsgesprächs“. Diese erklärte hierauf in einer E-Mail: „Da (…) aus meiner Sicht ein minder schwerer Fall nicht vorlag, vertrat ich die Auffassung, dass von einer Mindeststrafe von fünf Jahren auszugehen sei. Ich meine auch zu erinnern, dass das Gericht die Auffassung äußerte, dass sich nach derzeitiger Lage ein minder schwerer Fall zumindest nicht aufdrängen würde“.

Aus dem Verfahrensablauf und den Angaben der Sitzungsvertreterin folgert der Beschwerdeführer, dass das „Rechtsgespräch“ verständigungsbezogene Erörterungen zum Gegenstand hatte und der Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO unterstand.

b) Die Verfahrensrüge ist schon unzulässig, weil das Revisionsvorbringen nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind für eine zulässige Verfahrensrüge die den Mangel begründenden Tatsachen so vollständig und genau anzugeben, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Revisionsbegründung prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorläge, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 11. September 2007 – 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38, 40). Für die Rüge einer Verletzung von § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO ist danach erforderlich, dass Tatsachen vorgetragen werden, aus denen sich ergibt, dass ein nach dieser Vorschrift mitteilungspflichtiges Gespräch stattgefunden hat und dessen wesentlicher Inhalt in der Hauptverhandlung nicht oder nicht ausreichend mitgeteilt und protokolliert wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2022 – 2 StR 269/21). Notwendig ist deshalb die bestimmte Behauptung von Tatsachen, die eine Überprüfung dahin gestatten, ob dabei ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum standen, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in einen Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht wurden, damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung nahelag und somit die Mitteilungspflicht ausgelöst wurde (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. September 2015 – 3 StR 310/15, NStZ 2016, 362; vom 7. März 2017 – 5 StR 493/16, NStZ 2017, 424).

bb) Diesen Anforderungen genügt die Revision nicht.

(1) Es fehlt bereits an einem konkret behaupteten vollständigen Verfahrensgeschehen. Die bloße Wiedergabe vage erinnerter und nur möglicher Verfahrensabläufe (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 1964 – 3 StR 60/63, BGHSt 19, 273, 275) ersetzt den notwendigen bestimmten Tatsachenvortrag nicht (vgl. im Einzelnen KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 344 Rn. 33 mwN).

(2) Dessen ungeachtet wäre auch anhand der mitgeteilten Stellungnahme der Staatsanwaltschaft für das Revisionsgericht nicht abschließend zu überprüfen, ob es sich um verständigungsbezogene oder lediglich um unverbindliche sonstige verfahrensfördernde Erörterungen gehandelt hat, die nicht auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung abzielten (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 14. April 2015 – 5 StR 9/15, NStZ 2015, 535, 536). Denn als Gegenstände unverbindlicher Erörterungen, die das Gericht ohne Verständigungsbezug allein als Ausdruck eines transparenten kommunikativen Verhandlungsstils führen kann, sind etwa Rechtsgespräche und Hinweise auf die vorläufige Beurteilung der Beweislage oder die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses für unbedenklich erachtet worden (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168, 228; BGH, Beschluss vom 14. April 2015 – 5 StR 9/15, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilung 4; vom 7. März 2017 – 5 StR 493/16). Dies gilt gleichermaßen für die Klärung der – einer Verständigung entzogenen (vgl. BVerfG, aaO, S. 228; BGH, Beschluss vom 25. April 2013 – 5 StR 139/13, NStZ 2013, 540) – Vorfrage, ob überhaupt die Möglichkeit der Verständigung bei Annahme eines minder schweren Falles in Betracht kommt, ohne dass ein Prozessverhalten des Angeklagten in Rede steht (vgl. BGH, Beschluss vom 18. August 2021 – 5 StR 199/21, NStZ 2022, 55, 56). Ob der Gesprächsgegenstand hier bereits über diese abstrakte Vorfrage einer möglicherweise erwogenen Verständigung hinausging, vermag der Senat ohne Vortrag näherer Inhalte nicht abschließend zu prüfen.

(3) Nichts anderes gilt vor dem Hintergrund des übrigen Revisionsvorbringens (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Juli 2014 – 1 StR 210/14, NStZ 2015, 48; vom 21. März 2017 – 1 StR 622/16, NStZ 2017, 482, 483), das sich auf die pauschale Behauptung beschränkt, auf Initiative des Gerichts sei „ein Rechtsgespräch“ (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. April 2014 – 3 StR 24/14, NStZ 2014, 529 f.; vom 23. Juni 2022 – 2 StR 269/21, NStZ-RR 2022, 355) durchgeführt, eine Verständigung „jedoch nicht erzielt“ worden (vgl. KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 243 Rn. 112 mwN).

(4) Der Beschwerdeführer behauptet schließlich auch nicht, dass es ihm oder seinem Revisionsverteidiger unmöglich gewesen wäre, nähere Informationen zum Verfahrensgeschehen bei seinem Instanzverteidiger einzuholen (vgl. hierzu BVerfG [Kammer], Beschluss vom 22. September 2005 – 2 BvR 93/05, StraFo 2005, 512, 513; BGH, Urteil vom 3. August 2022 – 5 StR 203/22; Beschluss vom 23. November 2004 – 1 StR 379/04, NStZ 2005, 283; Hamm/Pauly, Die Revision in Strafsachen, 8. Aufl. Rn. 408 mwN).“

StPO III: Wenn ein Arrest schon sechs Jahre dauert, oder: (Endlich) Aufhebung wegen Zeitablaufs

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Und als dritte und letzte Entscheidung dann noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.05.2023 – 12 Qs 16/23 –, der in einem Arrestverfahren ergangen ist. Folgender Sachverhalt:

Am 19.05.2017 wurde der Beschuldigte, ein italienischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Italien, von Beamten des Zollfahndungsamtes M einer Kontrolle unterzogen. Dabei wurde bei ihm Bargeld gefunden und vorläufig sichergestellt. Das Zollfahndungsamt informierte die italienischen Behörden hierüber; tatsächlich führte da bereits die Staatsanwaltschaft A (Italien) gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung. Am 17.05.2018 erließ das AG in Erfüllung des daraufhin eingegangenen italienischen Rechtshilfeersuchens einen Arrestbeschluss gegen den Beschuldigten über 249.050 EUR. Auf dessen Grundlage wurde das sichergestellte Bargeld i.H.v. 200.000 EUR gepfändet. Die Verteidigerin des Beschuldigten beschwerte sich gegen den Arrest. Am 22.01.2019 verwarf das OLG Nürnberg ihre weitere Beschwerde schließlich als unbegründet.

Am 10.01.2023 stellte die Verteidigerin beim AG erneut den Antrag, den Arrestbeschluss aufzuheben. Das lehnte das AG ab. Der Antrag sei unzulässig, weil der Arrestbeschluss vom 17.05.2018 durch Ausschöpfung des Rechtswegs in materielle Rechtskraft erwachsen sei und keine neuen Tatsachen vorlägen, die dessen Abänderung rechtfertigen.

Dagegen legte die Verteidigerin Beschwerde ein, die beim LG Erfolg hatte.

Wegen der Frage der Zuständigkeit – LG oder OLG? – verweise ich auf den verlinkten Volltext. Das LG hat – m.E. zutreffend – seine Zuständigkeit bejaht.Zur Begründetheit führt das LG dann aus:

„3. Der Sachentscheidung der Kammer steht die Rechtskraft des Beschlusses des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 22. Januar 2020 nicht entgegen. Dieser ist zwar formell rechtskräftig; seine materielle Rechtskraft steht jedoch unter dem Vorbehalt der Abänderbarkeit.

Formelle Rechtskraft liegt vor, wenn eine Entscheidung mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbar ist. Materielle Rechtskraft führt demgegenüber zu einer Sperrwirkung in dem Sinne, dass der Gegenstand der getroffenen gerichtlichen Sachentscheidung nicht erneut zum Gegenstand einer neuen Sachentscheidung gemacht werden kann (vgl. Beulke in SSW-StPO, 5. Aufl., Einleitung Rn. 341 f.). Die auf weitere Beschwerde (§ 310 Abs. 1 Nr. 3 StPO) ergangene Entscheidung des Oberlandesgerichts über einen Arrest erwächst zwar in formelle, aber nur eingeschränkt auch in materielle Rechtskraft. Ändern sich die zugrundeliegenden Verhältnisse nämlich derart, dass der ursprünglichen Entscheidung die Grundlage entzogen wird, kann der Arrest später aufgehoben werden (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., Einleitung Rn. 166). Für den zivilprozessualen Arrest ist das ausdrücklich in § 927 Abs. 1 ZPO geregelt (vgl. G. Vollkommer in Zöller, ZPO, 34. Aufl., Vorbemerkungen zu §§ 916-945b Rn. 13). Beim strafprozessualen Arrest gilt nichts anderes. Der Annahme umfassender materieller Rechtskraft steht der vorläufige Charakter des Arrestes entgegen. Jede zum Arrest getroffene Entscheidung ist gleichsam eine Momentaufnahme und die Anforderungen an die Rechtfertigung seiner Aufrechterhaltung steigen mit der Dauer seines Vollzugs (BVerfG, Beschluss vom 17. April 2015 – 2 BvR 1986/14, juris Rn. 12; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. August 2021 – Ws 718/21, juris Rn. 14; OLG Hamm, Beschluss vom 23. Juni 2022 – III-5 Ws 94/22, juris Rn. 33). Gegenstand der neu vorzunehmenden Sachprüfung ist demgemäß auch nicht Frage der ursprünglichen Rechtmäßigkeit des Arrestes, sondern die Frage, ob der Arrest im Zeitpunkt der jetzt anstehenden Entscheidung noch rechtmäßig ist.

4. Der Arrest war aufzuheben, weil er nicht mehr als verhältnismäßig angesehen werden konnte (zum Übermaßverbot als Maßstab vgl. Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 111e Rn. 8 f. m.w.N.).

Entgegen der Annahme des Amtsgerichts stellt allein schon der Zeitablauf, der seit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg eingetreten ist, ein Novum dar, das zur neuen Sachentscheidung über den Arrest berechtigt. Es trägt eine neue – negative – Bewertung seiner Verhältnismäßigkeit. Dem Beschuldigten ist das gepfändete Geld seit nunmehr sechs Jahren (vorläufig) entzogen. Es wurde am 19. Mai 2017 vorläufig sichergestellt. Der Arrestbeschluss, der am 17. Mai 2018 vom Amtsgericht Nürnberg erlassen wurde und der seitdem vollzogen wird, besteht seit fünf Jahren. Das Oberlandesgericht hat den Sachverhalt am 22. Januar 2019 beurteilt. In der ganzen Zeit ist keine Entscheidung eines italienischen Gerichts ergangen, die zu einer Übergabe des gepfändeten Geldes nach Italien berechtigen würde. Die Anfragen der hiesigen Staatsanwaltschaft wurden von italienischer Seite entweder nicht beantwortet oder die von dort angekündigten Erledigungstermine sind fruchtlos verstrichen. So erhielt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 23. Mai 2019 die Mitteilung, gegen den Beschuldigten sei in Italien Anklage erhoben worden und am 11. Juni 2019 solle seine erste gerichtliche Anhörung stattfinden. Die Sachstandsanfragen vom 5. Dezember 2019 und 4. März 2020 blieben unbeantwortet. Am 18. Mai 2020 teilte die italienische Seite mit, die Sache sei noch bei Gericht und es sei nicht mit einem Abschluss vor Ende des Jahres zu rechnen. Am 17. Februar 2021 teilte sie mit, es sei mit einem Verfahrensabschluss im Januar 2022 auszugehen. Am 10. Oktober 2021 fragte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth an, ob die italienischen Behörden ein Ersuchen nach Art. 10 Abs. 1 RB-Sicherstellung stellen wollen. Diese antworteten darauf nicht, ließen aber am 15. Dezember 2021 wissen, weitere Gerichtstermine seien im Zeitraum Januar bis März 2022 angesetzt, sodass ein Verfahrensabschluss im April 2022 möglich sei. Am 13. September 2022 wiederholte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ihre Anfrage. Am 6. Dezember 2022 ging eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft A ein, wonach die gerichtliche Anhörung des Beschuldigten am 6. und 20. Dezember 2022 fortgesetzt werden solle, allerdings sei damit zu rechnen, dass die Einziehungsentscheidung wegen voraussichtlicher Rechtsmittel nicht vollstreckbar sein würde. In einer Mitteilung der italienischen Behörden vom 15. Februar 2023 hieß es, ein Urteil solle am 7. März 2023 ergehen. Seitdem gingen hier keine weiteren Informationen ein. Die Aufrechterhaltung des Arrestes war nach alldem am Maßstab des deutschen Rechts nicht mehr zu rechtfertigen (Beispiele zur zulässigen Dauer des Arrestes bei Cordes, NZWiSt 2021, 45, 49 f. m.w.N.).

5. Die Kammer hat eine aufgrund des Arrestes ausgebrachte Forderungspfändung bereits aufgehoben (Beschluss vom 22. Februar 2023 – 12 Qs 75/22, juris, dazu instruktiv Bittmann, ZWH 2023, 81); nun wird auch gepfändete Bargeld auszukehren sein.“

StPO II: Durchsuchung wegen Steuerhinterziehung, oder: Nur „dürftige Beschreibung“ des Tatvorwurfs

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Die zweite Entscheidung des Tages, der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 07.062023 – 12 Qs 24/23 – kommt aus dem schier unerschöpflichen Reservoir der Entscheidungen betreffend Durchsuchungsmaßnahmen.

Der Ermittlungsrichter des AG hatte gegen den Beschuldigten einen auf § 102 StPO gestützten Durchsuchungsbeschluss. Es sollte u.a. in seinem Wohnhaus nach diversen Unterlagen gesucht werden. Begründet war der – von der Steuerfahndung dem Ermittlungsrichter vorformuliert vorgelegte – Beschluss wie folgt:

„Der Beschuldigte wird beim Finanzamt unter der Steuernummer … geführt. Nach Erkenntnissen der Steuerfahndung erzielt der Beschuldigte ausschließlich Einkünfte aus der Beteiligung an der … oHG und geringe Einkünfte aus Kapitalvermögen. In seinem Eigentum befinden sich zwei Grundstücke. Seine in den Steuerbescheiden zu Grund gelegte Einkommenslage in den Jahren 2015 bis 2019 entspricht weder seinem Lebensstandard noch den Geldströmen aus seinen Bankkonten. Der Beschuldigte ist daher verdächtig folgende Steuerstraftaten begangen zu haben:

Hinterziehung der Einkommensteuer … 2015-2019 … der Gewerbesteuer und der Umsatzsteuer … 2015-2019“

Die Durchsuchung wurde vollzogen; die Durchsicht der aufgefundenen Papiere dauerte an. Gegen den Durchsuchungsbeschluss legte der Beschuldigte Beschwerde ein, die beim LG ERfolg hatte:

„1. Da die Durchsuchung in Form der Durchsicht nach § 110 StPO andauert, ist der Antrag, die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung festzustellen, dahin umzudeuten, dass der Durchsuchungsbeschluss aufgehoben wird.

2. Die Aufhebung hatte zu erfolgen, weil der Durchsuchungsbeschluss den an ihn zu stellenden Mindestanforderungen nicht genügt.

a) Der Durchsuchungsbeschluss dient dazu, die Durchführung der Maßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten. Dazu muss er den Tatvorwurf und die gesuchten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Zwangsmaßnahme durchzuführen ist. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie dies nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist. Der Betroffene wird auf diese Weise zugleich in den Stand versetzt, die Durchsuchung zu kontrollieren und etwaigen Ausuferungen von vornherein entgegenzutreten. In dem Beschluss muss zum Ausdruck kommen, dass der Ermittlungsrichter die Eingriffsvoraussetzungen selbstständig und eigenverantwortlich geprüft hat. Dazu ist zu verlangen, dass ein dem Beschuldigten angelastetes Verhalten geschildert wird, das den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes, die die Strafbarkeit des zu subsumierenden Verhaltens kennzeichnen, müssen benannt werden. Mängel bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden Umschreibung des Tatvorwurfs und der zu suchenden Beweismittel können im Beschwerdeverfahren nicht geheilt werden (BVerfG, Beschluss vom 19.04.2023 – 2 BvR 2180/20, juris Rn. 28 f. m.w.N.).

b) Diesen seit langem geklärten Maßstäben genügt der angegriffene Beschluss nicht. Es fehlt schon eine hinreichende Beschreibung der vorgeworfenen Straftaten. Die Steuerhinterziehung ist ein Erklärungsdelikt. Strafbar macht sich, wer die Steuern falsch (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) oder pflichtwidrig nicht (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) erklärt. Hier ist nach der Beschlussbegründung noch nicht einmal klar, ob der Beschuldigte unrichtige Angaben gemacht hat oder ob die (wann und mit welchem Inhalt auch immer) ergangenen Steuerbescheide wegen Nichterklärung aufgrund von Schätzungen erlassen wurden. Ein Normzitat, das die Begehungsweise klären könnte (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO?), findet sich in dem Beschluss nicht. Sollten unrichtige Angaben gemacht worden sein, so ist nicht klar, wann was erklärt wurde und zu welcher Steuerfestsetzung dies geführt hat.

Für die Kammer ist ein Grund für die Dürftigkeit der Beschreibung des Tatvorwurfs nicht erkennbar. Der bei der Akte befindliche Verdachtsprüfungsvermerk enthält genügend tatsächliches Material, das dafür herangezogen werden könnte, die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes zu verbalisieren. Das ist unterblieben. Die Kammer könnte angesichts dieses Mangels eine Überzeugung, der Ermittlungsrichter habe die Eingriffsvoraussetzungen selbstständig und eigenverantwortlich geprüft, nicht intersubjektiv vermittelbar begründen.

3. Die weiter beantragte Herausgabe der sichergestellten Asservate hat zu erfolgen, weil die Aufhebung des Durchsuchungsbeschlusses der vorläufigen Sicherstellung die Grundlage entzogen hat (BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – StB 17/22, juris Rn. 11).“

StPO I: Folgen rechtsstaatswidriger Tatprovokation, oder: „Aufstiftung“, oder erhebliche Einwirkung?

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Heute dann ein Tag mit StPO-Entscheidungen betreffend das Ermittlungsverfahren. Also nichts vom BGH, sondern aus der landgerichtlichen Rechtsprechung.

Ich starte mit dem LG Halle, Urt. v. 14.12.2022 – 16 KLs 540 Js 17049121 (16/21) – ja, schon etwas älter. Aber: Das Urteil behandelt mal eine interessante Konstellation, zu der es – m.E. – recht wenig „positive“ Entscheidungen gibt, nämöich die Frage der Folgen der rechtsstaatswidrigen Tatprovokation.

Das LG hat zu dem fraglichen „Tatkomplex“ folgende Feststellungen getroffen:

„Der Angeklagte erwarb in der Vergangenheit kleinere Mengen Methamphetamin zwischen 10 bis 15 g, wobei er stets einen Teil der Betäubungsmittel (etwa 6 g) zum gewinnbringenden Weiterverkauf und den restlichen Teil zum Eigenkonsum bestimmte. Durch den gewinnbringenden Weiterkauf an im Einzelnen unbekannt gebliebene Abnehmer wollte er sich eine dauerhafte, zusätzliche Einnahmequelle verschaffen, um insbesondere seinen Eigenkonsum von Betäubungsmitteln zu finanzieren.

In Kenntnis des Umstands, dass er nicht über die zum Umgang mit Betäubungsmitteln erforderliche Erlaubnis des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte verfügte, kam es im Mai 2021 zu folgendem Betäubungsmittelgeschäft mit der bei der KPI Jena geführten Vertrauensperson „Maik“, die der Angeklagte für einen Betäubungsmittelabnehmer hielt:

Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im März 2021 fragte pp,  ein Bekannter des Angeklagten, bei diesem nach, ob er Methamphetamin besorgen könne. An dem Methamphetamin habe ein Bekannter (des pp.) namens „Maik“ Interesse.

Daraufhin vermittelte pp ein Treffen, an welchem der Angeklagte, „Maik“ und pp. teilnahmen. Das Treffen fand an einem nicht mehr genau feststellbaren Tag im März 2021 in der Lengefelder Straße in Sangerhausen unweit einer Spielothek statt. Bei dem Treffen erklärte „Maik“ dem Angeklagten unvermittelt, dass er mit Drogen Geld verdienen wolle und er deshalb daran interessiert sei, dass der Angeklagte ihm ein Kilogramm Methamphetamin besorge. Daraufhin erwiderte der Angeklagte, dass das „nicht seine Preisklasse bzw. Liga“ sei und er eine so große Menge Methamphetamin nicht besorgen könne. Aufgrund der ablehnenden Reaktion des Angeklagten war das Treffen bereits nach wenigen Minuten beendet und „Maik“, pp. sowie der Angeklagte gingen ohne Vereinbarung auseinander.

Da sich pp. eine Provision für die Vermittlung des Geschäfts zwischen dem Angeklagten und „Maik“ erhofft hatte, fragte er in der Folgezeit wiederholt mit Nachdruck beim Angeklagten wegen des Geschäfts nach, der aber stets ablehnend reagierte. An einem ebenfalls nicht mehr genau feststellbaren Tag im März 2021 suchte pp. den Angeklagten in dessen Gartenlaube auf, insistierte abermals und erklärte aber nunmehr, dass „Maik“ auch mit einer Lieferung von „nur“ 300 g Methamphetamin einverstanden sei. Dieses Mal ließ sich der Angeklagte von pp. überreden und gab diesem zu verstehen, dass er 300 g Methamphetamin für „Maik“ besorgen könne.

Am 19.05.2021 rief „Maik“ um 17:30 Uhr beim Angeklagten an und teilte diesem mit, dass er dessen Telefonnummer kurz zuvor von pp. erhalten habe. Außerdem fragte er den Angeklagten, ob dieser noch am selben Abend die 300 g Methamphetamin besorgen und ihm übergeben könne. Daraufhin kontaktierte der Angeklagte den inzwischen rechtskräftig verurteilten pp. aus Halle, der dem Angeklagten noch am selben Abend gegen 22:00 Uhr 300 g Methamphetamin lieferte. Um 22:14 Uhr rief „Maik“ beim Angeklagten an und vereinbarte mit diesem als Übergabeort den Bahnhof in Sangerhausen. Nachdem der Angeklagte den Parkplatz am Bahnhof in Sangerhausen erreicht hatte, stieg er zwischen 22:15 Uhr und 22:30 Uhr in das dort abgestellte Auto des „Maik“, setzte sich auf den Beifahrersitz und holte aus seiner Unterhose eine bunte Papiertüte, in welcher sich drei Folientüten mit jeweils 99,5 g, 99, 4 g und 99,3 g Methamphetamin mit einer Gesamtmasse von 243 g reiner Methamphetamin-Base befanden. Beim Verwiegen der einzelnen Folientüten durch „Maik“ erfolgte der Zugriff durch die Polizeibeamten.“

Das LG hat das Verfahren insoweit wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt:

„Hinsichtlich der Tat II. 1. der Urteilsgründe sowie der Anklage war das Verfahren gemäß §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO einzustellen. Insoweit stand dem Verfahren wegen Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK ein — von Amts wegen zu beachtendes — Verfahrenshindernis entgegen, da das Tatgeschehen von einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation geprägt war.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist das Gebot des fairen Verfahrens gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK durch eine polizeiliche Tatprovokation verletzt, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch einen Amtsträger oder eine von diesem geführte Vertrauensperson in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt. Ein in diesem Sinne tatprovozierendes Verhalten ist anzunehmen, wenn ein Verdeckter Ermittler oder eine polizeiliche Vertrauensperson mit dem Ziel, eine Tatbereitschaft zu wecken oder die Tatplanung zu intensivieren, über das bloße „Mitmachen“ hinaus mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt. Auch bei bereits bestehendem Anfangsverdacht kann die Rechtsstaatswidrigkeit einer Tatprovokation dadurch begründet sein, dass die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist. Im Rahmen der erforderlichen Abwägung sind insbesondere Grundlage und Ausmaß des gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, aber auch Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme sowie die eigenen, nicht fremdgesteuerten Aktivitäten des Betroffenen in den Blick zu nehmen (BGH, Urteil vorn 16.12.2021 —1 StR 197/21 m. w. N. juris).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verletzt eine polizeiliche Provokation Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn sich die Ermittlungsperson nicht auf eine „weitgehend passive“ Strafermittlung beschränkt hat (EGMR, Urteile vom 15.10.2020 —40495/15, 40913/15, 37273/15 — und vom 23.10.2014 — 54648/09 —, jeweils juris). Dabei ist zu prüfen, ob es objektive Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Täter an kriminellen Aktivitäten beteiligt oder tatgeneigt war (EGMR, Urteile vom 15.10.2020 — 40495/15, 40913/15, 37273/15 — und vom 23.10.2014 — 54648/09 —, jeweils juris). Für die Frage, ob eine Person tatgeneigt war, sind im Einzelfall u. a. die erwiesene Vertrautheit des Betroffenen mit aktuellen Preisen von Betäubungsmitteln, dessen Fähigkeit, solche kurzfristig zu beschaffen, sowie seine Gewinnbeteiligung bedeutsam (EGMR, Urteile vom 23.10.2014 — 54648/09 — und vom 15.10.2020 —40495/15, 40913/15, 37273/15 —, jeweils juris). Bei der Differenzierung zwischen einer rechtmäßigen Infiltrierung durch eine Ermittlungsperson und der (konventionswidrigen) Provokation einer Straftat ist weiterhin maßgeblich, ob auf den Angeklagten Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. Dabei ist unter anderem darauf abzustellen, ob die Ermittlungsperson von sich aus Kontakt zu dem Täter aufgenommen, ihr Angebot trotz anfänglicher Ablehnung erneuert oder den Täter mit den Marktwert übersteigenden Preisen geködert hat (EGMR, Urteile vom 23.10.2014 — 54648/09 — und vom 15.10.2020 — 40495/15, 40913/15, 37273/15 —, jeweils juris).

Eine Straftat kann auch dann auf einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation beruhen, wenn sich der Täter aufgrund der Einwirkung des Verdeckten Ermittlers auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung einlässt oder hierdurch seine Bereitschaft wecken lässt, eine Tat mit einem erheblich höheren Unrechtsgehalt zu begehen („Aufstiftung“). In einem solchen Fall kommt es darauf an, ob der Täter auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung ohne Weiteres eingeht, beziehungsweise sich geneigt zeigt, die Tat mit dem höheren Unrechtsgehalt zu begehen oder an ihr mitzuwirken, Geht die qualitative Steigerung der Verstrickung des Täters mit einer Einwirkung durch die Ermittlungsperson einher, die von einiger Erheblichkeit ist, so liegt ein Fall der unzulässigen Tatprovokation vor (BGH, Urteil vom 16.12.2021 —1 StR 197/21 m. w. N. juris).

An diesen Maßstäben gemessen überschritt die der KPI Jena zuzurechnende Einflussnahme der Vertrauensperson „Maik“ auf das als Tat 1 angeklagte Geschehen die durch den Grundsatz des fairen Verfahrens und das Rechtsstaatsprinzip gezogenen Grenzen.

Der wegen Betäubungsmitteldelikten polizeibekannte, allerdings nicht wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz vorbestrafte Angeklagte handelte zwar bereits vor dem als Tat 1 angeklagten Verkaufsvorgang mit Methamphetamin, dies aber nur in Mengen, die den Grenzwert der nicht geringen Menge nicht überstiegen. Er war damit zwar bereits auf unterer Ebene des Vertriebsgeschehens in den Betäubungsmittelhandel verstrickt, weshalb insoweit auch ein Anfangsverdacht weiterer Tatneigung bestand, dies aber bis zum Eingreifen der Vertrauensperson „Maik“ nur bezüglich überschaubarer Betäubungsmittelmengen im untersten zweistelligen Grammbereich, wobei ein Teil dieser geringen Mengen auch noch zum Eigenkonsum bestimmt war. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte auch hinsichtlich deutlich oberhalb der geltenden Grenzwerte für nicht geringe Mengen, insbesondere um einen „Quantensprung“ über den bisher gehandelten Mengen liegender und damit qualitativ gänzlich anders einzuordnender Geschäfte tatgeneigt gewesen sein könnte, als die Vertrauensperson „Maik“ ihn erstmals darauf ansprach, ob er auch ein Kilogramm Methamphetamin verkaufen könne, hat die Kammer nicht festzustellen vermocht. Im Gegenteil zeigt die sehr deutliche ablehnende Reaktion des Angeklagten auf die erste Anfrage der Vertrauensperson „Maik“, wonach das Geschäft „nie im Leben“ zustande komme, weil das nicht seine „Preisklasse“ bzw. „Liga“ sei, dass der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich einer ganz erheblich über dem Grenzwert der nicht geringen Menge liegenden Lieferung von mehreren Hundert Gramm Methamphetamin nicht tatgeneigt war. Der Angeklagte kam nach dem Scheitern des Geschäfts über ein Kilogramm Methamphetamin auch nicht etwa selbst auf das von der Vertrauensperson „Maik“ bekundete Erwerbsinteresse größeren Umfangs zurück und schlug diesem ein Geschäft über eine deutlich geringere, aber immer noch erheblich über der bisher von ihm gehandelte Menge vor. Vielmehr war es die Vertrauensperson „Maik“, die den Angeklagten vermittels des gemeinsamen Bekannten pp. auf die Möglichkeit der Abwicklung eines größeren Betäubungsmittelgeschäfts in der Größenordnung von 300 g Methamphetamin ansprach, woraufhin sich der Angeklagte im Ergebnis erst nach mehrfachem Drängen zur Verschaffung dieser Menge Methamphetamin bereit erklärte.

In der Gesamtschau stellt sich die Einwirkung der Vertrauensperson „Maik“ als „Aufstiftung“ des Angeklagten zur Begehung einer Drogenstraftat, die dieser sonst nicht begangen hätte, und nicht mehr als „weitgehend passive Ermittlungstätigkeit“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesgerichtshofs dar.“

Vollzug III: Nichtraucherschutz im (U-Haft)Vollzug, oder: Fürsorgepflicht der JVA

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Und die dritte Entscheidung betrifft dann den U-Haft-Vollzug, und zwar dort die Frage nach dem Nichtraucherschutz.

Der Beschwerdeführer befand sich vom 22.09.2022 bis 14.03.2023 in Untersuchungshaft in der JVA X und wandte sich mehrfach mit Anträgen, die die Durchsetzung des Rauchverbots in der JVA zum Inhalt hatten, an diese. Mit Schreiben vom 28.12.2022 stellte er einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und beantragte u.a. die Umsetzung des Nichtraucherschutzgesetzes durch die JVA X, Feststellung der Rechtswidrigkeit und Ortsbegehung sowie Sicherstellung der Videoaufnahmen durch das Gericht. Er fügte dem Antrag eine Skizze bei, die die räumlichen Verhältnisse der Abteilung D, in welcher er zum Antragszeitpunkt eine Zelle hatte, zeigt. Hierzu gab er an, seine Mitgefangenen würden im Gang zwischen den Zellen auf einer Tischtennisplatte sitzen und Zigaretten/Tabak konsumieren. Die Abteilung sei zeitweise komplett mit grauem Rauch durchzogen und „versinke in Zigaretten-/Tabakgestank“. Wenn er seine Zelle zum Duschen oder Aufschluss verlasse, sei er dem Rauch auf der Abteilung vollkommen ausgesetzt. Wenn seine Zelle geschlossen sei, ziehe der Zigaretten- bzw. Tabakrauch durch den unteren Schlitz der Zellentür in seine Zelle, da die rauchenden Gefangenen weiterhin Aufschluss hätten und rauchen würden.

Am 14.03.2023 wurde der Beschwerdeführer in die JVA Z verlegt.

Die JVA X nahm zum Antrag des Beschwerdeführers dahin Stellung, dass der Schutz von Nichtrauchern beachtet werde. Das AG hat denn den Antrag abgelehnt. Die Beschwerde hatte mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 07.06.2023 – 12 Qs 40/23 – Erfolg:

„1. Im Rahmen der Zulässigkeit ist das Rechtsschutzinteresse trotz Erledigung der behaupteten Beeinträchtigung durch Verlegung des Beschwerdeführers gegeben. Bei einer Verletzung des Nichtraucherschutzes, der – wie vorliegend durch den Beschwerdeführer beschrieben – zu einer länger andauernden Beeinträchtigung geführt haben soll, liegt ein schwerwiegender Grundrechtseingriff vor. Dieser gebietet es, eine gerichtliche Klärung herbeizuführen, auch wenn die Beeinträchtigung tatsächlich nicht mehr fortbesteht. Nur so kann verhindert werden, dass Rechte und insbesondere Grundrechte in bestimmten Fallgestaltungen in rechtsstaatlich unerträglicher Weise systematisch ungeschützt bleiben (BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 20 m.w.N.).

2. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die JVA X hat ihre Fürsorgepflicht verletzt, indem sie nicht durch geeignete Maßnahmen verhindert hat, dass der Beschwerdeführer in seiner Zelle einer erheblichen Rauchbelästigung ausgesetzt war.

a) Nach Art. 58 Abs. 3 BayStVollzG, der für die Untersuchungshaft entsprechend gilt (Bratke/Krä in BeckOK Strafvollzug Bayern, 18. Ed. 1.4.2023, BayUVollzG Art. 25 Rn. 6), ist der Schutz der Nichtraucher, soweit es bauliche und organisatorische Maßnahmen ermöglichen, zu gewährleisten. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 Nr. 1 lit. b des Bayerischen Gesetzes zum Schutz der Gesundheit (GSG) ist das Rauchen in Innenräumen der Gebäude der Behörden des Freistaats Bayern verboten. Nach Art. 5 Nr. 1, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GSG kann die Anstaltsleitung das Rauchen in Einzel-, Gemeinschaftshafträumen und anderen Gemeinschaftsräumen gestatten (Arloth in BeckOK Strafvollzug Bayern, 18. Ed., Art. 58 BayStVollzG Rn. 11). Dies gilt jedoch nicht, wenn aus baulichen oder sonstigen Gründen eine räumliche Trennung von Rauchern und Nichtrauchern in Aufenthaltsräumen im Bereich eines Anstaltsbetriebes nicht möglich ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 25 f. m.w.N.).

b) Der Beschwerdeführer hat die von ihm gerügte Verletzung des Nichtraucherschutzes hinreichend konkret vorgetragen. Danach kam es laufend zu einer Rauchbelästigung, da die Mitgefangenen, deren Zellen über einen längeren Zeitraum aufgeschlossen waren, fortwährend rauchten und der Rauch durch den Schlitz an seiner Zellentür in seine Zelle gelangte bzw. auf dem Gemeinschaftsflur präsent war, wenn der Beschwerdeführer seine Zelle verließ. Da es sich dem Vortrag des Beschwerdeführers nach um eine ständige Belästigung handelte, kann im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes nicht verlangt werden, dass er – entsprechend einem Lärmprotokoll – einzelne Vorkommnisse genau dokumentiert.

Die JVA X ist dem Vortrag des Beschwerdeführers insoweit entgegengetreten, als sie in ihrer Stellungnahme vom 29.03.2023 ausführte, auf den Gemeinschaftsflächen bestünde Rauchverbot und etwaige Verstöße würden – soweit sie bekannt seien – disziplinarisch geahndet. Die Kammer hat hierzu ergänzend einen Dienstleiter der JVA X befragt. Dieser gab an, der Beschwerdeführer habe sich auf einer kleinen Abteilung befunden, in welcher Mitgefangene untergebracht gewesen seien, die arbeiten durften. Diese Mitgefangenen hätten sich tagsüber frei bewegen dürfen, was zur Folge gehabt habe, dass ihre Zellentüren häufig geöffnet wurden bzw. offenstanden. Da es den Gefangenen erlaubt sei, in ihrer eigenen Zelle zu rauchen, dringe dieser Rauch durch die offenen Türen auf den Gemeinschaftsflur und könne auch durch die Türschlitze in die Zellen der weiteren Gefangenen gelangen. Dies macht den Vortrag des Beschwerdeführers, wonach Rauch in seine Zelle dringe und auf dem Gemeinschaftsflur vorhanden sei, plausibel. Die Kammer geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer – unabhängig von der Frage, ob Mitgefangene tatsächlich nicht nur in ihren Zellen, sondern auch auf dem Flur geraucht haben – jedenfalls für einen erheblichen Zeitraum dem Rauch, der von den Zellen der Mitgefangenen durch geöffnete Türen austrat und durch den Schlitz der Zellentür in die Zelle des Beschwerdeführers eintrat, ausgesetzt war.

c) Der Schutz vor Passivrauchen war jedenfalls in der Zelle des Beschwerdeführers, in der er sich nicht nur kurzfristig aufhielt, zu gewährleisten. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund seiner Inhaftierung einer Beeinträchtigung seiner Gesundheit nicht in gleicher Weise entziehen kann, wie eine Person, die sich auf freiem Fuß befindet und ohne Weiteres den Ort wechseln kann, um einer Raucheinwirkung zu entgehen. Angesichts der nicht auszuschließenden gesundheitsgefährdenden Wirkungen des Passivrauchens greift die gemeinschaftliche Unterbringung eines Rauchers und eines Nichtrauchers – jedenfalls wenn der Betroffene ihr nicht zustimmt – in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ein. Der nichtrauchende Gefangene hat Anspruch auf Schutz vor Gefährdung und erheblicher Belästigung durch das Rauchen von Mitgefangenen und Aufsichtspersonal (BayObLG, Beschluss vom 17.11.2020 – 204 StObWs 277/20, juris Rn. 25 f. m.w.N.).

Auf welche Weise die JVA den Nichtraucherschutz umsetzen hätte müssen, hat die Kammer nicht zu entscheiden. Die JVA hat jedenfalls im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens mit geeigneten Maßnahmen dafür zu sorgen, dass dort einsitzende Nichtraucher auf ihrer Zelle keiner Beeinträchtigung durch Zigarettenrauch ausgesetzt sind. Die Kammer verkennt nicht, dass die effektive Umsetzung des Nichtraucherschutzes angesichts der Vielzahl an Rauchern in der JVA nicht einfach ist. Im Falle der Unterbringung eines Nichtrauchers in einer Abteilung, in der sich Gefangene mehr oder weniger frei bewegen können und es somit zu offenstehenden oder häufig geöffneten Türen kommt, muss die JVA jedenfalls mit zusätzlichen Maßnahmen sicherstellen, dass kein Zigarettenrauch in die Zelle von nichtrauchenden Mitgefangenen eindringt.“