Archiv für den Monat: Dezember 2022

OWi II: Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung?, oder: War das Streckenverbot entfallen?

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Bei der zweiten OWi-Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Brandenburg, Beschl v. 17.11.2022 – 2 OLG 53 Ss-OWi 388/22. 

Er behandelt bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung die Frage des Vorsatzes in Zusammenhang mit einem sog. Zusatzschild. Alles Weitere ergibt sich aus dem Beschluss, und zwar:

„Das Amtsgericht Cottbus verhängte gegen den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerorts um 35 km/h eine Geldbuße von 240 EUR.

Nach den getroffenen Feststellungen befuhr der Betroffene am 17. Juli 2021 mit einem Pkw außerorts die Bundesautobahn 15 in Fahrtrichtung Osten/Grenze und überschritt in Höhe Kilometer 40,2 die zuvor in Trichterform und durch beidseitige Beschilderung mit Zusatzzeichen 112 („unebene Fahrbahn“) angeordnete Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um mindestens 35 km/h. Er beschleunigte vor der Messstelle bewusst von 100 km/h auf 135 km/h, weil er keine Fahrbahnschäden mehr feststellen konnte, auch andere Verkehrsteilnehmer wieder beschleunigten und er davon ausging, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung nicht mehr galt. Tatsächlich bestand die Gefahr von Fahrbahnaufwölbungen noch fort. Das Amtsgericht hat das Verhalten des Betroffenen als vorsätzlich gewertet. „Seine völlig eigenmächtige Auslegung“ könne „nicht als Irrtum zu seinen Gunsten gewertet werden.“

Der Betroffene hat durch seinen Verteidiger zur Fortbildung des Rechts die Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen dieses Urteil beantragt, die Verletzung materiellen Rechts gerügt und beanstandet, dass das Amtsgericht rechtsfehlerhaft eine vorsätzliche Tatbegehung zu Grunde gelegt habe.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

1. Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, weil es geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Die entscheidungserhebliche Frage, inwieweit eine Fehlvorstellung über das Ende einer streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkung eine vorsätzliche Tatbegehung begründet, hat grundsätzliche Bedeutung, weil in gleich gelagerten Fällen mit vergleichbaren Entscheidungen des Amtsgerichts zu rechnen ist (vgl. hierzu Göhler/Seitz/Bauer, OWiG 18. Aufl. § 80 Rn. 4, 5). Die Sache wird insoweit dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§ 80a Abs. 3 OWiG)

2. Die zugelassene Rechtsbeschwerde hat mit der Sachrüge insoweit Erfolg, als eine Überprüfung des angefochtenen Urteils hinsichtlich der subjektiven Tatseite einer Nachprüfung in der Rechtsbeschwerdeinstanz nicht standhält.

Das Amtsgericht ist rechtsfehlerhaft von einem vorsätzlichen Verhalten des Betroffenen ausgegangen. Der Betroffene hat nach den getroffenen Feststellungen die Beschilderung zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h zwar wahrgenommen und sich sodann auch bewusst — in der irrigen Annahme, diese gelte nicht fort — zur Beschleunigung auf 135 km/h entschlossen. Er hat sich insoweit jedoch nicht über die geltende Geschwindigkeitsregelung an sich geirrt, was einen — vermeidbaren — Verbotsirrtum zur Folge hätte (§ 11 Abs. 2 OWiG) und der Annahme von Vorsatz nicht entgegenstünde. Sein Irrtum betraf vielmehr äußere Umstände, die zum Tatbestand gehören und die er falsch beurteilt hat, so dass ein Vorsatz entfällt (§ 11 Abs. 1 Satz 1 OWiG).

Ein Streckenverbot, das wie hier zusammen mit einem Gefahrenzeichen angeordnet ist, entfällt auch ohne Aufhebungszeichen (Zeichen 282) dann, wenn sich aus der Örtlichkeit zweifelsfrei ergibt, von wo an die angezeigte Gefahr nicht mehr besteht (Erläuterung Nr. 55 Satz 2 der Anlage 2 zu § 41 StVO; vgl. OLG Celle, Beschl. v. 8. November 2018 — 3 Ss [OWi] 190/18, zit. nach Juris). Über diesen Regelungsgehalt der geltenden Norm und deren rechtliche Bedeutung hat der Betroffene sich nach den Urteilsgründen nicht geirrt. Sein Irrtum bezieht sich vielmehr auf den äußeren, die Örtlichkeit betreffenden Umstand, dass die Gefahrenstelle hier entgegen seiner Annahme nicht zweifelsfrei geendet hatte, sondern die Gefahr weiterhin bestand und die streckenbezogene Geschwindigkeitsbeschränkung deshalb noch fort galt. Dem liegt eine fahrlässige Fehleinschätzung der Örtlichkeit und damit eines Umstandes zugrunde, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Bei dieser Sachlage ist für die Annahme vorsätzlichen Verhaltens kein Raum (§ 11 Abs. 1 Satz 1 OWiG). Der Betroffene handelte vielmehr fahrlässig (§ 11 Abs. 1 Satz 2 OWiG).

Die aufgrund der Sachrüge veranlasste Überprüfung der angefochtenen Entscheidung hat ansonsten materiell-rechtliche Fehler zum Nachteil der Betroffenen nicht ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

Da weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind, kann der Senat selbst abschließend entscheiden (§ 79 Abs. 6 OWiG) und den Schuldspruch ändern sowie den Rechtsfolgenausspruch entsprechend dem hier geltenden Regelsatz für fahrlässiges Verhalten festsetzen (Anhang Nr. 11.3.6 BKatV a.F.).“

OWi I: OLG Köln hebt AG Schleiden (leider) auf, oder: Kein „fair-trial-Verstoß“ bei fehlenden Rohmessdaten

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Ich hatte am Nikolaustag über das dem AG Schleiden, Urt. v, 02.09.2022 – 13 OWi-304 Js 802/22-179/22 berichtet (vgl. AG I: Geschwindigkeitsmessung mit ESO ES 8.0, oder: Nichtspeicherung von Daten verstößt gegen “fair trail”).

Am Ende des Beitrags hieß es: „Ich bin gespannt, was das OLG Köln, bei dem die Rechtsbeschwerde anhängig ist, macht.“. Inzwischen hat das OLG Köln „gemacht“ – und: Mich überrascht es nicht, was das OLG Köln „gemacht“ hat. Denn es wäre zu schön gewesen, wenn sich das OLG der Auffassung des AG angeschlossen und die Rechtsbeschwerde verworfen hätte. Das hat das OLG nicht „gemacht“, sondern es hat im OLG Köln, Beschl. v. 16.12.2022 – 1 RBs 371/22 -, den mir der 1. Bußgeldsenat des OLG Köln gestern übersandt hat, ein AG-Urteil, das eine ähnliche Problematik hatte, aufgehoben. Schade, aber man hat zumindest ein paar Tage träumen dürfen.

Was das OLG – nach Zulassung der Rechtsbeschwerde – ausführt, überrascht (auch) nicht und setzt sich m.E. nicht wirklich nicht mit den Argumenten des AG auseinander. Vorgetragen wird im Grunde das Argument: Das macnehn alle so:

„Das gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 3 OWiG als Rechtsbeschwerde statthafte und zulässige Rechtsmittel hat Erfolg.

Die Urteilsgründe tragen den Freispruch nicht. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor. Auch Messungen mit Geräten, bei denen Messdaten nicht gespeichert werden, sind verwertbar. Das verwendete Messgerät ESO ES 8.0 ist ein von der Physikalisch Technischen Bundesanstalt zugelassenes Lichtschrankenmessgerät und als standardisiertes Messverfahren anerkannt. Die Bauartzulassung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt indiziert bei Einhaltung der Vorgaben der Bedienungsanleitung und Vorliegen eines geeichten Gerätes die Richtigkeit des gemessenen Geschwindigkeitswertes. Ob dabei sogenannte Rohmessdaten gespeichert werden oder nicht, ist irrelevant. Dieser Auffassung des OLG Oldenburg (Beschluss vom 09.09.2019, 2 Ss (OWi) 233/19, juris) haben sich nahzu alle Obergerichte einschließlich des Senats angeschlossen (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 09.12.2019, 202 ObOWi 1955/19, juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.02.2020, 1 OWi 2 SsBs 122/19, juris und Beschluss vom 01.12.2021, 1 OWi 2 SsBs 100/21; OLG Hamm, Beschluss vom 25.11.2019, 3 RBs 307/19, juris; Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 06.04.2020, 1 SsRs 10/20, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 23.09.2020, 1 OLG 171 SsRs 195/19; Senat, Beschluss vom 27.09.2019, III-1 RBs 339/19).“

Dem stimmt der Senat zu und schließt sich im Übrigen den Gründen der Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 01.12.2021, Az. 1 OWi 2 SsBs 100/21, zitiert nach juris, Rn. 14 ff., an. Soweit der vorbezeichneten Entscheidung eine Geschwindigkeitsmessung mit dem Messgerät Poliscan FM1, Softwareversion 4.4.9. zugrunde liegt, sind die dortigen Erwägungen, insbesondere Rn. 17 ff., auf die vorliegend verfahrensgegenständliche Messung mit der mobilen Geschwindigkeitsmessanlage des Typs ESO ES 8.0. übertragbar. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts war das vorliegend zum Tatzeitpunkt am 27.05.2021 verwendete Messgerät mit der Softwareversion 1.1.0.2. ausgestattet, deren „Rohmessdaten“ seit der 3. Revision (28.02.2020) der von der Konformitätsbewertungsstelle der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) ausgestellten Baumusterprüfbescheinigung nicht mehr gespeichert werden. Indes kommt dem Umstand, dass das vorbezeichnete Messgerät – anders als bei früheren Softwareversionen – keine sog. „Rohmessdaten“ mehr speichert, aus den Gründen der Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken, a.a.O., keine rechtliche Relevanz zu. Da die in Rede stehenden Messdaten der verfahrensgegenständlichen Messung zu keinem Zeitpunkt gespeichert und demgemäß auch weder der Bußgeldbehörde noch dem Gericht zur Verfügung standen, beanspruchen die Gründe der Senatsentscheidung vom 27.09.2019 (Az. III-1 RBs 339/19, DAR 2019, 695), an denen der Senat festhält, auch in dieser Konstellation Geltung. Davon ausgehend ist auch die Annahme des Tatgerichts, Daten seien „mutwillig unterdrückt“ worden, nicht gerechtfertigt.“

StPO III: Revisionsbegründung in der Gegenerklärung, oder: Nachschieben von Gründen und „OU-Verwerfung“

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Und als letzte Entscheidung dann noch der BGH, Beschl. v. 23.11.2022 – 5 StR 184/22. Er stammt aus dem Rechtsmittelverfahren und ist auf eine Anhörungsrüge des Angeklagten ergangen.

Der BGH hat die Revisionen des Verurteilten und dreier Mittäter gegen ein Urteil des LG Berlin durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen und dabei nur zu einer vom Verurteilten erhobenen Verfahrensrüge ergänzende Ausführungen zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts gemacht. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner Anhörungsrüge. Der BGh führt noch einmal zur „OU-verwerfung“ aus:

„Der zulässige Rechtsbehelf hat in der Sache keinen Erfolg, weil eine Verletzung rechtlichen Gehörs nicht vorliegt. Der Senat hat bei seiner Entscheidung weder Verfahrensstoff verwertet, zu dem der Revisionsführer nicht gehört worden wäre, noch zu berücksichtigendes Vorbringen übergangen. Er hat auf die zunächst nur allgemein erhobene Sachrüge die Urteilsgründe ohnehin vollumfänglich überprüft.

Aus dem Umstand, dass der Senat die Verwerfung der Revision nicht weiter begründet und insbesondere zu – mit der Revisionsbegründung nicht ausgeführten – „konkreten sachlich-rechtlichen Fragestellungen“ keine Ausführungen gemacht hat, kann nicht auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs geschlossen werden. Die Vorschrift des § 349 Abs. 2 StPO sieht keine Begründung des die Revision verwerfenden Beschlusses vor. Das gilt auch dann, wenn – erstmals – in einer Gegenerklärung zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts die Sachrüge näher begründet wird (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. November 2019 – 1 StR 563/18; vom 24. Januar 2019 – 5 StR 619/18). Denn das System der Revisionsentscheidung im Beschlussverfahren nach § 349 Abs. 2 und 3 StPO baut darauf auf, dass der Beschwerdeführer die Gründe für die Anfechtung eines Urteils bereits in der Revisionsbegründung anführt (§ 344 Abs. 1 StPO). Hierzu nimmt die Revisionsstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift Stellung und legt – sofern sie die Beanstandungen nicht für durchgreifend erachtet – die hierfür maßgebenden Gründe in ihrem Antrag auf Verwerfung des Rechtsmittels näher dar. Folgt das Revisionsgericht einstimmig der Auffassung der Staatsanwaltschaft, so kann es die Revision durch Beschluss verwerfen, ohne dass dieser einer näheren Begründung bedarf. Dieses System kann der Beschwerdeführer nicht dadurch außer Kraft setzen, dass er seine Sachrüge während der Revisionsbegründungsfrist nicht weiter ausführt, seine Einzelbeanstandungen vielmehr erst nachschiebt, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Antragsschrift beim Revisionsgericht eingereicht hat, und dieser damit die Möglichkeit zu der gesetzlich vorgesehenen spezifizierten Stellungnahme nimmt. In diesem Fall hat der Beschwerdeführer gemäß Art. 103 Abs. 1 GG zwar Anspruch darauf, dass das Revisionsgericht seine nachgeschobenen Ausführungen zur Kenntnis nimmt und prüft; er kann jedoch nicht verlangen, dass ihm die Gründe, aus denen seine Beanstandungen für nicht durchgreifend erachtet werden, im Verwerfungsbeschluss mitgeteilt werden (BGH, Beschluss vom 21. August 2008 – 3 StR 229/08, NStZ-RR 2008, 385 mwN).“

StPO II: Verfahrensverbindung durch Vereinbarung? oder: Gleiche Ordnung der Gerichte?

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Die zweite Entscheidung, der BGH, Beschl. v. 06.07.2022 – 2 StR 53/22 – äußert sich zu einer Verbindungsentscheidung des LG, das den Angeklagten wegen „Diebstahls in 17 Fällen, in Tatmehrheit mit Betrug in 29 Fällen, wobei es in 5 Fällen beim Versuch blieb, davon in den 24 übrigen Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung, in Tatmehrheit mit Computerbetrug in 7 Fällen, wobei es in 4 Fällen beim Versuch blieb, in Tatmehrheit mit Unterschlagung in 1 Fall“ verurteilt hat. Der Angeklagte hatte Revision eingelegt. Die hatte Erfolg. Wegen eines Teils der ausgeurteilten Fälle moniert der BGH eine fehlerhafte Bewesiwürdigung und hat deshlab aufgehoben. Wegen einer anderer Fälle hat der BGH das Verfahren an das AG Fulda zurückgegeben. Dazu führt er aus:

„1. Die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II. 51 bis 56 der Urteilsgründe kann wegen eines von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses nicht bestehen bleiben. Die Strafkammer des Landgerichts Kassel war für die Entscheidung nicht zuständig.

a) Die Taten II. 51 bis 56 der Urteilsgründe waren Gegenstand einer Anklage der Staatsanwaltschaft Fulda vom 8. Oktober 2020, die zum Amtsgericht Fulda – Strafrichter – erhoben und mit Beschluss vom 30. November 2020 zur Hauptverhandlung zugelassen wurde. Bei den den Angeklagten betreffenden Fällen II. 1 bis 48 der Urteilsgründe handelt es sich um Vergehen, die die Staatsanwaltschaft Kassel am 5. Januar 2021 beim Landgericht Kassel angeklagt hat.

Nach Korrespondenz zwischen dem Amtsgericht Fulda und dem Landgericht Kassel wurde das beim Amtsgericht Fulda rechtshängige Verfahren vor Beginn der Hauptverhandlung mit Zustimmung der beteiligten Staatsanwaltschaften und nach Gelegenheit zur Stellungnahme für den Angeklagten mit Verfügung des Vorsitzenden vom 7. Mai 2021 vom Landgericht Kassel „übernommen“.

Mit Beschluss vom 27. Oktober 2021 hat das Landgericht Kassel unter Ziffer 1 der Entscheidung die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Kassel vom 5. Januar 2021 zur Hauptverhandlung zugelassen und vor der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts eröffnet. Zugleich hat die Strafkammer unter Ziffer 2 des Beschlusses vom 27. Oktober 2021 das vom Amtsgericht Fulda übernommene Verfahren zu dem bei ihm anhängigen Verfahren hinzu verbunden.

b) Die Übernahme und Verbindung ist unwirksam (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2013 – 3 StR 166/13 Rn. 3 mwN). Eine hier offensichtlich ins Auge gefasste Verfahrensverbindung gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 StPO durch Vereinbarung der Gerichte kam nicht in Betracht, weil eine solche Verbindung nur bei Strafsachen möglich ist, die bei verschiedenen örtlich zuständigen Gerichten gleicher Ordnung anhängig sind. Soll aber – wie hier ‒ eine nicht nur die örtliche, sondern auch die sachliche Zuständigkeit ändernde Verbindung erfolgen, kann dies, wenn die Gerichte nicht alle zum Bezirk des ranghöheren Gerichts gehören, nur nach § 4 Abs. 2 Satz 2 StPO durch eine Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts erfolgen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 2013 – 3 StR 166/13, Rn. 4; vom 8. Juni 2021 ‒ 4 StR 68/21, Rn. 4). Dies wäre hier allein das Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Eine solche Entscheidung ist aber nicht ergangen. Eine „Heilung“ dieses Mangels durch einen Verbindungsbeschluss des Bundesgerichtshofs im Revisionsverfahren kommt unter anderem auch deshalb nicht in Betracht.

c) Die Sache ist daher insoweit nicht beim Landgericht Kassel anhängig geworden. Das sich hieraus ergebende, nach § 6 StPO von Amts wegen zu beachtende Verfahrenshindernis bedingt die beantragte Teilaufhebung des angefochtenen Urteils in den Fällen II. 51 bis 56 der Urteilsgründe. Die Sache ist in diesem Umfang noch beim Amtsgericht Fulda rechtshängig und deshalb an dieses entsprechend § 355 StPO zurückzugeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Juni 2021 – 4 StR 68/21; vom 11. Juli 2013 – 3 StR 166/13).

StPO I: Rechtsmittel gegen Akteneinsichtentscheidung, oder: Sachgerechte Verteidigung betroffen?

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Und dann heute in der Vorweihnachswoche noch einmal drei StPO-Entscheidungen vom BGH.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 03.11.2022 – StB 46/22. In ihm hat der BGH zur Zulässigkeit eines Rechtsmittels in Zusammenhang mit Akteneinsicht des Nebenklägers Stellung genommen.

Folgender Sachverhalt: Beim OLG Dresden ist gegen den Angeklagten ein Strafverfahren u.a. anderem wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung anhängig. Am 13.06.2022 hat der Vorsitzende des mit der Sache befassten Staatsschutzsenates dem Vertreter eines Nebenklägers Einsicht in Teile der Sachakten durch Überlassung eines elektronischen Speichermediums gewährt. Mit seiner hiergegen gerichteten Beschwerde hat der Angeklagte beanstandet, entgegen § 33 StPO sei ihm zuvor kein rechtliches Gehör gewährt worden und es hätte nur eine in großen Teilen beschränkte Akteneinsicht bewilligt werden dürfen. Der Vorsitzende hat dem Rechtsmittel teilweise abgeholfen, indem er näher bezeichnete Passagen der Akten von der Einsichtnahme ausgenommen und das dem Nebenklagevertreter überlassene Speichermedium gegen Herausgabe eines der geänderten Bewilligung entsprechenden zurückverlangt hat.

Der Angeklagte verfolgt sein Rechtsmittel weiter. Der BGH hat es zurückgewiesen:

„2. Das vom Angeklagten weiter verfolgte Rechtsmittel, mit dem er nunmehr allein die Feststellung der Rechtswidrigkeit der ursprünglich vollumfänglich gewährten Akteneinsicht begehrt, ist nicht statthaft und damit unzulässig. Denn § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 4 StPO eröffnet die Beschwerde gegen von einem erstinstanzlich tätigen Oberlandesgericht erlassene Beschlüsse und Verfügungen betreffend die Akteneinsicht nur insoweit, als einem Verfahrensbeteiligten durch deren (teilweise) Versagung die sachgerechte Interessenwahrnehmung in dem Strafverfahren erschwert wird (s. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2014 – KRB 12/13, BGHSt 59, 183 Rn. 5). Grund hierfür ist, dass sich die Aufnahme von Entscheidungen über die Gewährung von Akteneinsicht in den Katalog des § 304 Abs. 4 Satz 2 StPO nur aus der besonderen Bedeutung rechtfertigt, welche die Aktenkenntnis für die Verfahrensbeteiligten hat. Bei der notwendigen restriktiven Auslegung der Vorschrift (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss vom 25. Januar 1973 – StB 76/72, BGHSt 25, 120, 121) verbietet es sich daher, die Beschwerde auch in solchen Fällen als statthaft anzusehen, bei denen – wie hier – die sachgerechte Verteidigung oder Mitwirkung des Rechtsmittelführers im anhängigen Strafverfahren nicht in Frage steht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 1989 – KRB 4/89, BGHSt 36, 338, 339; vom 18. Januar 2005 – StB 6/04, BGHR StPO § 304 Abs. 4 Akteneinsicht 3). Weder hat der Angeklagte geltend gemacht, durch den Umfang der Akteneinsicht der Nebenklage drohten ihm Nachteile im Sinne einer Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten, noch ist dies sonst ersichtlich (vgl. – für den Betroffenen im Kartellbußgeldverfahren – BGH, Beschluss vom 18. Februar 2014 – KRB 12/13, aaO, Rn. 6).

Vor diesem Hintergrund kommt es für die Entscheidung des Senats nicht darauf an, dass die Bewilligung von Akteneinsicht schon für sich genommen einen Verfahrensfehler darstellen kann, wenn sie ohne vorherige Anhörung des von dem Einsichtsersuchen Betroffenen verfügt wird (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30. Oktober 2016 – 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; vom 8. Oktober 2021 – 1 BvR 2192/21, NJW 2021, 3654 Rn. 13). Deshalb kann dahinstehen, ob – was allerdings naheliegt – dem Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers bereits durch die Darlegungen in der Abhilfeentscheidung ausreichend Rechnung getragen wird. Dort ist ausgeführt, dem Angeklagten sei „kein rechtliches Gehör gewährt“ worden; für den Vorsitzenden bestehe – dem Rechtsgedanken des § 33a StPO entsprechend – „schon im Hinblick darauf … die Möglichkeit, die getroffene Entscheidung umfassend zu prüfen und abzuändern“.