Archiv für den Monat: August 2022

Einziehung II: Einziehung von 19.000 € als Wertersatz, oder: Keine Beteiligung des Nebenbetroffenen

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Die zweite „Einziehungsentscheidung“ kommt mit dem LG Berlin, Beschl. v. 10.06.2022 – (516 KLs) 251 Js 72/22 (6/22) – ebenfalls aus Berlin. Das LG hat zur Beteiligung eines Nebenbetroffenen im Einziehungsverfahren (§ 438 StPO), wenn es um die Einziehung von Wertersatz geht, Stellung genommen.

Hier der Sachverhalt:

„Mit ihrer am 22. März 2022 erhobenen und durch Beschluss der Kammer vom 10. Mai 2022 zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift legt die Staatsanwaltschaft Berlin den insgesamt fünf Angeklagten; darunter zwei Brüder des Antragstellers, der am 29. Dezember 2000 geborene pp. sowie zur Last, vom 29, auf den 30. Dezember 2021 einen erpresserischen Menschenraub in Tateinheit mit besonders schwerer räuberischer Erpressung, mit gefährlicher Körperverletzung und mit Bedrohung begangen zu haben. Durch die Tat sollen sie 19.000,00 Euro Bargeld erlangt haben.

Am 28. Februar. 2022 hat das Amtsgericht Tiergarten — (349 Gs) 251 Js 72/22 (744/22) — auf Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß §§ 73, 73c StGB in Verbindung mit §§ 111e, 111j StPO zur Sicherung der Vollstreckung der Einziehung von Wertersatz gegen die Angeklagten als Gesamtschuldner den Vermögensarrest in Höhe von 19.000,00 Euro in das bewegliche und unbewegliche Vermögen angeordnet.

Am 1. März 2022 wurde die Wohnanschrift der Brüder des Antragstellers.in der pp in pp. aufgrund der gegen diese gerichteten Durchsuchungsbeschlüsse des Amtsgerichts Tiergarten vom 24. Februar 2022 — (349 Gs) 251 Js 72/22 (678/22) — durchsucht. Dabei wurden in einem gemeinsamen Zimmer des Antragstellers und seiner beiden angeklagten Brüder auf einem Regalbrett des Kleiderschrankes ein Bargeldbetrag von 5.8000,00 Euro in 29 zusammengerollten 500-Euro-Scheinen aufgefunden. Obwohl der Antragsteller den Polizeikräften vor Ort mitteilte, dass die Geldscheine in seinem Eigentum stünden, wurden diese in Vollziehung des Vermögensarrestes gegen seinen pp. gepfändet.

Der Antragsteller macht weiterhin das Eigentum an den gepfändeten 500-Euro-Scheinen geltend und hat mit anwaltlichem Schriftsatz vom 30. Mai 2022 seine Beteiligung an dem Verfahren als Nebenbetroffener beantragt.

Das LG hat den Antrag abgelehnt:

„Der Antrag war abzulehnen, weil die Voraussetzungen für eine Beteiligung als Nebenbetroffener in der Person des Antragstellers nicht vorliegen.

Gemäß § 438 Abs, 1 S. 1 StPO ordnet das Gericht, wenn über die Einziehung eines Gegenstandes zu entscheiden ist, an, dass eine Person, . die weder Angeschuldigte ist noch als Einziehungsbeteiligte in Betracht kommt, als Nebenbetroffene an dem Verfahren beteiligt wird, soweit es die Einziehung betrifft, wenn es glaubhaft erscheint, dass dieser Person der Gegenstand gehört oder zusteht oder diese Person an dem Gegenstand. ein sonstiges Recht hat, dessen Erlöschen nach § 75 Abs. 2 S. 2 und 3 StGB im Falle der Einziehung angeordnet werden könnte.

Vorliegend ist das Verfahren bereits nicht auf die Einziehung eines oder mehrerer Gegenstände gerichtet, die dem Antragsteller gehören. Denn das Verfahren gegen die Angeklagten richtet sich auf die Einziehung von Wertersatz. Zu deren Sicherung •ist der Vermögensarrest gegen alle Angeklagten als Gesamtschuldner angeordnet worden, in dessen Vollziehung gegen den Bruder des Antragstellers das von ihm als in seinem Eigentum stehend reklamierte Bargeld am 1. März 2022 gepfändet worden ist.

Die Einziehung von Wertersatz wird in § 438 Abs. 1 StPO aber nicht erwähnt, sie berührt weder im subjektiven Verfahren noch im objektiven Verfahren nach § 424 StPO gegen den Einziehungsbeteiligten die Rechte Dritter (vgl. BT-Drs. 18/9525, 88; Schmidt, in: KK-StPO, 8. Aufl. 2019, § 438 Rn 4). Eine Beteiligung als Nebenbetroffener kommt bei ihr nicht in Betracht, weil der bloß einen staatlichen Zahlungsanspruch titulierenden Anordnung der Wertersatzeinziehung die für die Nebenbetroffenheit nach § 438 StPO ursächliche (unmittelbare) dingliche Wirkung fehlt (vgl. Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl. 2021, § 438 Rn 2). Soweit die Gesetzesbegründung auf Seite 93 ausführt, die Vorschrift regele die Beteiligung aller anderen Personen. als den Einziehungsbeteiligten, die von• der Anordnung der Einziehung oder der Wertersatzeinziehung in ihren Rechten betroffen sein können, handelt es sich — auch angesichts der dort weiter folgenden Ausführungen, die Rechtslage durch den vormaligen § 431 Abs. S. 1 StPO, der ebenfalls nur die Einziehung eines Gegenstandes. betraf, gelte fort — um ein offensichtliches redaktionelles Versehen (so auch: Schmidt und Köhler, jeweils a.a.O.).“

Einziehung I: Einstellung wegen Gesetzesänderung, oder: Was ist mit der rechtskräftigen Einziehung?

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Und dann heute mal drei Entscheidungen zu „Einziehungsfragen“. Die mit der Einziehung zusammenhängende Problematik hat ja durch die Gesetzesänderungen in 2017 erheblich an Bedeutung zugenommen. Das sieht man vo allem auch an den BGH-Entscheidungen, in denen sich der BGH immer wieder zur Einziehung äußert. Ich habe hier heute aber mal keine BGH-Entscheidungen, sondern drei Entscheidungen von Instanzgerichten.

An der Spitze zunächst der KG, Beschl. v. 25.02.2022 – 2 Ws 20/22Einziehung, Einstellung nach § 206b StPO, Rechtsfolgen – mit folgendem Sachverhalt: Das LG hatte den Angeklagten am 12.01.2018 wegen vorsätzlicher Geldwäsche in 75 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 74.597,40 EUR angeordnet. Auf die Revision des Angeklagten gegen dieses Urteil änderte der Bundesgerichtshof am 27.11.2018 den Schuldspruch unter Aufrechterhaltung der Feststellungen in eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Geldwäsche in 18 Fällen ab, setzte den als Wertersatz eingezogenen Betrag auf 59.024,49 EUR herab und hob den Rechtsfolgenausspruch im Übrigen auf. Die weitergehende Revision verwarf er. Die zu der neuen Verhandlung und Entscheidung berufene Strafkammer stellte das Verfahren am 02.04.2019 zunächst gemäß § 205 StPO ein.

Nachdem das Gesetz „zur Verbesserung der strafrechtlichen Bekämpfung der Geldwäsche“ vom 9. März 2021 (BGBl. I S. 327), durch das der die Strafbarkeit des Angeklagten begründende § 261 Abs. 1 Satz 3 a.F. StGB ersatzlos gestrichen wurde, in Kraft getreten war, stellte das LG auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren durch Beschluss vom 20.07.2021 gemäß § 206b Satz 1 StPO ein. Da die Staatsanwaltschaft Berlin die Auffassung vertrat, dass die Einziehungsentscheidung rechtskräftig und somit vollstreckbar geworden sei, erklärte das LG Berlin durch Beschluss vom 22.12.2021 auf Antrag des früheren Angeklagten die Vollstreckung der angeordneten Einziehung von Wertersatz in Höhe von 59.024,49 EUR für unzulässig. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde. Sie ist der Ansicht, dass die rechtskräftige Einziehungsentscheidung von dem Einstellungsbeschluss nicht umfasst sei.

Das Rechtsmittel hatte beim KG keinen Erfolg:

„Das Landgericht hat die Vollstreckung der angeordneten Einziehung von Wertersatz zu Recht für unzulässig erklärt, da die von dem früheren Angeklagten erhobene Einwendung gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung berechtigt ist.

1. Durch den Beschluss der Strafkammer vom 20. Juli 2021, mit dem das Verfahren gemäß § 206b Satz 1 StPO eingestellt worden ist, ist das angefochtene Urteil gegenstandslos geworden und damit insgesamt als Vollstreckungsgrundlage entfallen. Der Beschluss ist in Bezug auf die Einstellungsentscheidung nicht angefochten und damit rechtskräftig geworden. Durch die rechtskräftige Einstellung des Verfahrens – selbst wenn diese zu Unrecht erfolgt sein sollte – ist das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Januar 2018 gegenstandslos geworden, ohne dass es einer Aufhebung bedurft hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2016 – 5 StR 525/15 – ,juris zu § 206a StPO; LR-Stuckenberg, StPO 27. Aufl., § 206b Rdn. 9; KK-StPO/Schneider, 8. Aufl., § 206b Rdn. 6).

2. Dem steht auch nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt des Einstellungsbeschlusses sowohl der Schuldspruch als auch die Anordnung der Einziehung von Wertersatz, auf die sich die durch Urteil des Bundesgerichtshofes vom 27. November 2018 erfolgte Urteilsaufhebung nicht erstreckte, in Rechtskraft erwachsen waren.

a) Für den Fall einer Einstellung nach § 206a StPO wegen eines Verfahrenshindernisses hat das OLG Köln (Beschluss vom 27. Oktober 2017 – III-2 Ws 293/17 –, juris) bereits entschieden, dass auch bei horizontaler Teilrechtskraft ein entgegenstehendes Verfahrenshindernis zur Einstellung des gesamten Verfahrens führen würde. Dies gelte selbst dann, wenn dieses – wie hier – nur noch teilweise im Rechtsfolgenausspruch anhängig gewesen sei. Da dieser Grundsatz indes nur soweit gelte, wie die Einstellungsentscheidung gemäß § 206a StPO reiche, könne im Einstellungsbeschluss angeordnet werden, worauf sich das Verfahrenshindernis ausschließlich erstrecke. Ob eine isolierte Anordnung bzw. Aufrechterhaltung einer Einziehung von Wertersatz bei gleichzeitiger Einstellung des Verfahrens (im Übrigen) rechtlich zulässig ist, konnte das OLG Köln dabei aufgrund des zur Entscheidung stehenden Sachverhalts unentschieden lassen.

b) In Bezug auf eine Einstellung nach § 206b StPO, bei der es sich um eine materiell-rechtliche Entscheidung handelt, die der Sache nach ein freisprechendes Erkenntnis ist (vgl. LR-Stuckenberg, a.a.O. Rdn. 3; MüKo/Wenske, StPO, § 206b Rdn. 1; KK-StPO/Schneider a.a.O. Rdn. 1; SK-StPO/Paeffgen, 5. Aufl., § 206b Rdn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl., § 206b Rdn. 2 m.w.N.; SSW-StPO/Rosenau, 4. Aufl. a.a.O. Rdn. 2; Radtke/Hohmann/Reinhart, StPO, Rdn. 1; Graf/Ritscher, StPO 4. Aufl. Rdn. 1), ist die Frage – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden worden.

Einigkeit besteht darin, dass die – zur Verfahrensvereinfachung eingeführte – Vor-schrift auch dann anwendbar ist, wenn Teilrechtskraft eingetreten ist (vgl. LR-Stuckenberg a.a.O. Rdn. 9; MüKo/Wenske a.a.O. Rdn. 10; KK-StPO/Schneider a.a.O. Rdn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rdn. 5; SSW-StPO/Rosenau a.a.O. Rdn. 4; Radtke/ Hohmann/Reinhart a.a.O., Rdn. 5; Graf/Ritscher a.a.O. Rdn. 2). Die rechtskräftige Entscheidung nach § 206b StPO beendet das Verfahren endgültig und führt zum vollständigen Verbrauch der Strafklage (vgl. LR-Stuckenberg a.a.O. Rdn. 22; MüKo/Wenske a.a.O. Rdn. 30; KK-StPO/Schneider a.a.O. Rdn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rdn. 12; SSW-StPO/Rosenau a.a.O. Rdn. 7; SK-StPO/Paeffgen a.a.O. Rdn. 15; Radtke/Hohmann/Reinhart a.a.O. Rdn. 9; Graf/Ritscher a.a.O. Rdn. 1; a.A. KMR/Seidl, StPO, § 206b Rdn. 16).

c) Dies und die freispruchersetzende Funktion des § 206b StPO sprechen dafür, in dem vorliegenden Widerstreit zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Anliegen der Rechtskraftwirkung auf der einen und dem Gebot der Gerechtigkeit auf der anderen Seite letzterem den Vorzug zu geben. Auch wenn die Rechtssicherheit – ebenso wie die Gerechtigkeit – ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsgrund-satzes ist und einen Eigenwert verkörpert, der nur aus zwingenden Gründen aufgegeben werden sollte, sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die Bestandsgewähr bei Änderung der Rechtslage für ein teilrechtskräftiges Urteil geringer ist als für ein vollrechtskräftiges (vgl. BGHSt 20, 116).

Im Rechtsmittelverfahren gilt der Rechtsgedanke des § 354a StPO. Ergibt die hiernach im Rahmen des § 2 Abs. 3 StGB grundsätzlich immer anzustellende Prüfung, dass die Strafbarkeit durch eine Gesetzesänderung ganz entfallen ist, kann das Rechtsmittelgericht an dieser Erkenntnis trotz Rechtskraft des Schuldspruchs nicht vorübergehen. Die Verhängung einer Strafe ist in diesem Fall unzulässig (vgl. BGH a.a.O.; BayObLG, Urteil vom 19. Januar 1961 – Rev.Reg. 4 St 9/61 –). Ein Schuldspruch ohne Strafe ist dem geltenden Strafrecht (von hier nicht einschlägigen Sonderfällen abgesehen) jedoch grundsätzlich fremd (vgl. BayObLG, a.a.O.). § 2 Abs. 3 StGB führt in diesem Fall auch bei Rechtskraft des Schuldspruchs insgesamt zur Aufhebung der Verurteilung (vgl. OLG Köln NJW 1971, 628 zu § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB a.F.). Gilt jedoch der Grundsatz, dass, solange ein Teil des Verfahrens noch nicht rechtkräftig abgeschlossen ist, die Wirkung eines Gesetzeswechsels im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB auch die bereits rechtskräftigen Teile des Verfahrens erfasst (vgl. OLG Frankfurt NJW 1973, 1514 zu § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB a.F.), muss dies – im Hinblick auf § 2 Abs. 5 StGB – auch im vorliegenden Verfahren hinsichtlich der rechtkräftigen Anordnung der Wertersatzeinziehung gelten.

3. Ob es rechtlich zulässig wäre, nicht nur selbständige Verfahrensteile im Sinne der § 155, § 264 StPO (vgl. MüKo/Wenske a.a.O. Rdn. 26), sondern auch die Anordnung der Einziehung von Wertersatz von der Einstellung gemäß § 206b StPO auszunehmen, kann dahinstehen, da sich weder dem Tenor noch den Gründen des Einstellungsbeschlusses vom 20. Juli 2021 eine derartige Beschränkung, die im Übrigen von der Staatsanwaltschaft auch nicht beantragt worden ist, entnehmen lässt. Einer solchen ausdrücklichen Herausnahme hätte es aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit aber bedurft (vgl. Müko/Wenske a.a.O.) Der Umstand allein, dass mit dem Einstellungsbeschluss zwar der Haftbefehl, nicht jedoch der Arrestbeschluss vom 22. November 2017 aufgehoben worden ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn dessen Aufhebung ist – anders als diejenige des Haftbefehls – bei einer Einstellung nach § 206b Satz 1 StPO – aufgrund der Möglichkeit eines selbständigen Einziehungsverfahrens gemäß § 435 StPO nicht zwingend (vgl. LR-Stuckenberg a.a.O. Rdn. 17).“

Rechtsbeschwerde III: Zunächst Entbindung von der HV, oder: Gesinnungswandel – ich will doch, bin aber krank

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Und als dritte Entscheidung dann noch ein Beschluss, der vom KG stammt. Da hatte dann aber die Rechtsbeschwerde mal Erfolg.

Das AG hatte nach Einspruch der Betroffenen Termin zur Hazptverhandlung auf den 21.09.2021 anberaumt. Zu dem Termin waren der Betroffene und sein Verteidiger erschienen . Während der Hauptverhandlung ist der Betroffene dann durch Beschluss des AG auf seinen Antrag von der (weiteren) Anwesenheit in der Hauptverhandlung entbunden worden. In deren weiteren Verlauf wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und für den 30.09.2021 Termin zur Fortsetzung anberaumt. Bei Wideraufruf der Sache erklärte der Verteidiger dem AG, der Betroffene wolle nun doch zur Hauptverhandlung erscheinen und sich zum Sachverhalt persönlich äußern, sei daran jedoch wegen einer akuten Erkrankung gehindert. Nach einer kurzen Unterbrechung der Hauptverhandlung hat der Verteidiger dem Gericht ein am 30.09.2021 von einer Fachärztin für Allgemeinmedizin erstelltes Attest überreicht, das folgenden Inhalt hat:

“Herr D. ist am heutigen Tage bei mir in der Praxis erschienen und hat folgende Beschwerden mitgeteilt: Husten, Kopf- und Gliederschmerzen, Brustschmerzen bei Atmung und Fieber. Nach einer umfangreichen Untersuchung wurde folgende Diagnose gestellt: akute spastische Bronchitis. Aus ärztlicher Sicht und Beurteilung ist Herr D. vom 30.09.21 bis voraussichtlich zum 06.10.21 verhandlungsunfähig erkrankt.”

Zugleich hat der Verteidiger den Antrag gestellt, die Hauptverhandlung auszusetzen, hilfsweise zu unterbrechen, da der erkrankte Betroffene an der Hauptverhandlung teilnehmen wolle. Daraufhin hat das AG auf § 74 Abs. 1 OWiG verwiesen, weil der Betroffene von seiner Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden worden sei. Es hat die Hauptverhandlung fortgesetzt und den Betroffenen wegen eines vorsätzlichen Geschwindigkeitsverstoßes zu einer Geldbuße von 240,- EUR verurteilt.

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte Erfolg. Das KG hat im KG, Beschl. v. 17.03.2022 – 3 Ws (B) 37/22 – das AG-Urteil aufgehoben:

„Der Zulassungsantrag und die Rechtsbeschwerde haben Erfolg.

1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) aufzuheben.

a) Die Rüge ist zulässig, insbesondere entspricht sie den Darlegungsanforderungen von §§ 80 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 StPO. Danach müssen die den Mangel begründenden Tatsachen so genau bezeichnet und vollständig angegeben werden, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein auf Grund der Begründungsschrift ohne Rückgriff auf die Akte erschöpfend prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen – ihre Erweisbarkeit vorausgesetzt – zutreffen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2013 – 2 StR 34/13 – juris; Senat, Beschlüsse vom 27. Januar 2021 – 3 Ws (B) 7/21 – und 5. Februar 2019 – 3 Ws (B) 3/19 – m.w.N.).

aa) Das Anwesenheitsrecht des Betroffenen wird durch die in § 73 Abs. 2 OWiG geregelte Möglichkeit, den Betroffenen von seiner Pflicht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 1 OWiG zu entbinden, nicht berührt (vgl. Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 73 Rdn. 17 m.w.N.). Ebenso wenig wie ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG bei entschuldigtem Ausbleiben ergehen darf, darf in Abwesenheit des Betroffenen eine Hauptverhandlung durchgeführt werden, wenn er teilnehmen will und ihm ein Erscheinen unmöglich oder unzumutbar ist und er deshalb Terminsverlegung beantragt hat (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 20. September 1999 – Ss 452/99 -, juris m.w.N.; BayObLG VRS 50, 224; NStZ 1995, 39; OLG Karlsruhe VRS 59, 450 u. 91, 193; Senge in KK-OWiG 5. Aufl., § 73 Rdn. 9 m.w.N.). Das gilt selbst dann, wenn der Betroffene durch einen Verteidiger vertreten ist, es sei denn, dass dieser sich gleichwohl mit einer Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen einverstanden erklärt (vgl. OLG Köln a.a.O.). Gibt der Betroffene trotz antragsgemäßer Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen zu erkennen, dass er von seinem Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung Gebrauch machen will und ist er dazu ohne eigenes Verschulden außerstande, darf in seiner Abwesenheit nicht nach § 74 Abs. 1 OWiG verhandelt werden (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1998, 516; Senge a.a.O. m.w.N.). Krankheit entschuldigt auch in so gelagerten Fällen das Ausbleiben, wenn sie nach Art und Auswirkung eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar macht; eine Verhandlungsunfähigkeit muss nicht vorliegen (vgl. OLG Köln a.a.O. und VRS 72, 442, 444; 75, 113; 83, 444, 446; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 331; OLG Hamm NStZ-RR 1998, 281).

bb) Dem folgend muss das Beschwerdevorbringen Angaben dazu enthalten, dass der Betroffene in einer anberaumten Hauptverhandlung nicht anwesend war, das Gericht aber gleichwohl zur Sache verhandelt hat, obwohl der vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundene Betroffene dem Gericht seinen Willen, an dieser teilzunehmen, mitgeteilt hat. Daneben muss der Betroffene mitteilen, auf Grund welcher konkreten Tatsachen, die dem Gericht bekannt waren oder zumindest hätten bekannt sein müssen, es für ihn unzumutbar oder unmöglich war, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, sowie ob und gegebenenfalls wie er sich in der versäumten Hauptverhandlung verteidigt hätte.

cc) Macht der vom persönlichen Erscheinen entbundene Betroffene geltend, er sei krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, kann für die Anforderungen an das Rügevorbringen nichts Anderes gelten als in Fällen von Verwerfungsurteilen nach § 74 Abs. 2 OWiG. Deswegen sind vom Betroffenen die jedenfalls nach allgemeinem Sprachgebrauch zu benennende Art der Erkrankung, die konkrete Symptomatik und die daraus zur Terminszeit resultierenden konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen vorzutragen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 7. Februar 2022 – 3 Ws (B) 328/21 -, juris, 24. Juli 2020 – 3 Ws (B) 166/20 -, 5. Juni 2018 – 3 Ws (B) 161/18 – m.w.N., 24. Oktober 2016 – 3 Ws (B) 504/16 – und 16. Februar 2015 – 3 Ws (B) 80/15 -; OLG Hamm NZV 2014, 140 sowie NZV 2009, 158). Des Weiteren hat der Betroffene bei dieser Rüge vorzutragen, ob das Tatgericht vom Entschuldigungsgrund Kenntnis hatte oder hätte haben müssen oder das Vorbringen rechtsfehlerhaft bewertet hat. Nur wenn die eine dieser Möglichkeiten belegenden tatsächlichen Umstände dargelegt sind, kann das Rechtsbeschwerdegericht beurteilen, ob das Fernbleiben des Betroffenen unverschuldet war (vgl. Senat, Beschluss vom 5. Juni 2018 a.a.O.).

dd) Das Antragsvorbringen erfüllt die dargelegten Voraussetzungen. Insbesondere hat der Betroffene hinreichend dargelegt, wegen seiner dem Amtsgericht bekannten Erkrankung am beabsichtigten Erscheinen im Fortsetzungstermin verhindert gewesen zu sein. Dass der Betroffene den auf seinen Entbindungsantrag erlassenen stattgebenden Beschluss nicht wörtlich wiedergegeben hat, steht der Zulässigkeit seiner Rüge nicht entgegen. Denn zum einen hat das Amtsgericht, wie in der Antragsschrift mitgeteilt, in einem offenkundig vor dem Fortsetzungstermin vom 30. September 2021 verfassten Schreiben an den Betroffenen ausdrücklich auf den am 21. September 2021 erlassenen Entbindungsbeschluss und die dadurch für den Betroffenen entfallene Erscheinenspflicht hingewiesen. Zum anderen ist in den Blick zu nehmen, dass im vorliegenden Fall nicht der Erlass eines Verwerfungsurteils trotz Entbindung des Betroffenen von seiner Erscheinenspflicht gerügt wird, sondern die Verletzung seines Anwesenheitsrechts, die auch dann – und gerade dann – gegeben wäre, wenn das Gericht keinen Entbindungsbeschluss nach § 73 Abs. 2 OWiG erlassen hätte und eine Abwesenheitsentscheidung nach § 74 Abs. 1 Satz 1 OWiG ohnehin ausgeschlossen wäre. Der Mitteilung des Wortlauts der Entbindungsentscheidung bedurfte es daher im vorliegenden Fall nicht.

b) Die Rüge ist auch begründet. Zwar ist der Vortrag des Betroffenen, er sei akut erkrankt gewesen, für sich genommen ohne Aussagekraft. Hinzu tritt jedoch, dass die von der Ärztin mitgeteilte Diagnose akute spastische Bronchitis einen durch die internationale Krankheitsklassifizierung unter ICD-10 J.20 erfassten Krankheitszustand beschreibt, der regelmäßig mit erschwerter Atmung, Kurzatmigkeit, krampfartigem Husten und in der Folge schneller Erschöpfung einhergeht. Bei etwa 90% der Fälle ist die Bronchitis viralen Ursprungs, weswegen erhöhte Ansteckungsgefahr besteht (vgl. Helmholtz Munich in https://www.lungeninformationsdienst.de/krankheiten/virale-infekte/akute-und-chronische-bronchitis/grundlagen/index.html). Hinzu tritt, dass der Betroffene nach der – auch zur Zeit des Fortsetzungstermins gültigen – Verfügung des Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten in Verbindung mit § 12 Abs. 2 der vierten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Landes Berlin – vorbehaltlich abweichender sitzungspolizeilicher Anordnungen nach § 176 GVG oder sonstiger verfahrensleitender Maßnahmen des Vorsitzenden – verpflichtet war, im Gerichtsgebäude eine geeignete medizinische Schutzmaske zu tragen, was ihm das Atmen zusätzlich erschwert hätte. Bei einer derartigen Erkrankung war es dem Betroffenen deshalb nicht zuzumuten, zum Fortsetzungstermin zu erscheinen. Das Amtsgericht hätte folglich ohne ihn nicht weiterverhandeln dürfen, sondern wäre stattdessen verpflichtet gewesen, die Hauptverhandlung zumindest (erneut) zu unterbrechen. Dass es dies nicht getan, sondern gleichwohl in Abwesenheit des Betroffenen in der Sache weiterverhandelt hat, erweist sich als Verletzung des dem Betroffenen zustehenden Anwesenheitsrechts und seines damit verknüpften Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör.

c) Zu keinem anderen Ergebnis käme man, wenn man dem Vortrag des Verteidigers, der Betroffene wolle nun doch an der Hauptverhandlung teilnehmen, den Erklärungswert eines konkludenten Verzichts auf die Entbindung vom persönlichen Erscheinen beimisst (so Seitz/Bauer a.a.O. Rdn. 19). Denn auch dann wäre dem Gericht die Befugnis zur Abwesenheitsverhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG genommen (vgl. Senge a.a.O. Rdn. 21). Das Tatgericht muss in Fällen der Rücknahme des Entbindungsantrags den Entbindungsbeschluss aufheben und ohne (weitere) Verhandlung zur Sache ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG erlassen (zur Anwendbarkeit von § 74 Abs. 2 OWiG auf Fortsetzungstermine vgl. Senat, Beschlüsse vom 16. März 2017 – 3 Ws (B) 68/17 – und 5. November 2014 – 3 Ws (B) 575/14 – m.w.N.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. August 2020 – 6 Kart 10/19 (OWi) -; alle juris), wofür aber im vorliegenden Fall – wie bereits dargelegt – mangels unentschuldigten Fernbleibens des Betroffenen kein Raum war. Dass das Amtsgericht gleichwohl weiterverhandelt und ein Sachurteil erlassen hat, erweist sich – wie dargelegt – als rechtswidriger Eingriff in den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör.“

Rechtsbeschwerde II: Wenn Messunterlagen fehlen, oder: Anforderungen an die Verfahrensrüge

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Köln, Beschl. v. 29.04.2022 – III-1 RBs 97/22 – nimmt das OLG Köln noch einmal Stellung zur Begründung der Rechtsbeschwerde, mit der geltend gemacht wird, dass vom AG Messunterlagen nicht beigezogen worden sind. Das OLG führt aus – was nicht überrascht:

„1. Die Rüge der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt durch Gerichtsbeschluss (§§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 338 Ziff. 8 StPO) ist bereits nicht in einer § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Weise ausgeführt.

Mit ihr wird beanstandet, dass der Verteidigung „Messunterlagen“ nicht zur Verfügung gestellt worden seien und namentlich ein auf Vervollständigung der Akte mit weiteren „Messunterlagen“ abzielender Antrag der Verteidigung auf Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung zu Unrecht abgelehnt worden sei.

a) Bedenken gegen die Zulässigkeit der Rüge erweckt bereits der Umstand, dass die Rechtsbeschwerde einen Beschluss des Amtsgerichts Kerpen vom 13. Juli 2021 Bedeutung bemisst (S. 3 Mitte der Rechtsbeschwerdebegründung), ohne dessen Inhalt mitzuteilen.

b) Dem in offener Begründungsfrist zur Akte gelangten Vorbringen mangelt es aber jedenfalls an einer ausreichenden Klarstellung der Angriffsrichtung der Rechtsbeschwerde (dazu allg. Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 64. Auflage 2020, § 344 Rz. 20).

Nach diesem hatte der Verteidiger bereits gegenüber der Verwaltungsbehörde die streitgegenständliche Messung betreffende Unterlagen (s. insbesondere S. 2 unten der Rechtsbeschwerdebegründung) angefordert. Weiter ergibt sich, dass dem Verteidiger bzw. dem von diesem beauftragten Sachverständigen Messunterlagen – namentlich die die Messung der Betroffenen betreffenden so genannten „Rohmessdaten“ – zur Verfügung gestellt worden sind. Vor diesem Hintergrund wäre die Rechtsbeschwerde gehalten gewesen, im Einzelnen darzulegen, welche Unterlagen zur Verfügung gestellt worden sind und welche Unterlagen noch vermisst wurden und werden. Daran fehlt es. Vielmehr spricht die Rechtsbeschwerdebegründung nahezu durchgängig allgemein von „Unterlagen“, „Messunterlagen“, „Daten“ und „Auskünften“. Von den nunmehr – mit Schriftsatz vom 21. April 2022 – in den Fokus gerückten Rohmessdaten der gesamten Messreihe ist lediglich an einer Stelle der Rechtsbeschwerdebegründung, nämlich auf S. 7 2. Abs. und lediglich im Kontext mit angeblich nicht bestehenden datenschutzrechtlichen Bedenken im Falle von deren Herausgabe die Rede. Dass speziell die Vorlage dieser Daten vermisst wird, ergibt sich hieraus nicht.

Der Verteidiger hat auch die Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Amtsgerichts Kerpen vom 24. August 2021 nicht zum Anlass genommen, im vorbezeichneten Sinne klarzustellen, welche Unterlagen im Zeitpunkt des Aussetzungsantrags noch vermisst wurden. Auch in diesem Zusammenhang ist wiederum lediglich allgemein von „Messunterlagen“ bzw. „amtlichen Unterlagen“ die Rede. Ob die Verwendung des Begriffs „Einzelmesswerte“ (S. 12, 3. Abs.) sich auf die Herausgabe der gesamten Messreihe beziehen soll, bleibt angesichts des Kontextes mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Blutalkoholkonzentration unklar….“

Rechtsbeschwerde I: Nicht gewährte Akteneinsicht, oder: „eine vorläufige Begründung“ gibt es nicht

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Und heute dann ein wenig Verfahrensrecht, und zwar drei Entscheidungen zur Begründung der Rechtsbeschwerde. Die Ausführungen der OLG haben dann aber auch Auswirkungen auf die Begründung einer Revision.

Ich beginne mit dem KG, Beschl. v. 01.03.2022 – 3 Ws (B) 38/22 – zur Rechtsbeschwerde bei nicht gewährter Akteneinsicht. Das AG hat den Betroffenen wegen einer vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße verurteilt und ein Fahrverbot angeordnet. Hiergegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die durch zwei Schriftsätze seines Verteidigers begründet worden ist. Im zweiten Schriftsatz, der außerhalb der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist eingegangen ist, ist zugleich Wiedereinsetzung in die Frist. Weder der Wiedereisetzungsantrag noch die Rechtsbeschwerde hatten beim KG Erfolg.

„1. Der Antrag des Betroffenen, ihm Wiedereinsetzung in die Frist zur Rechtsbeschwerdebegründung zu bewilligen, ist unzulässig.

a) Es steht schon in Frage, ob der Betroffene, der die Rechtsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist der §§ 79 Abs. 3 OWiG, § 345 Abs. 1 StPO mit mehreren ausgeführten Verfahrensrügen und der ebenfalls ausgeführten Sachrüge begründet hat, überhaupt eine Frist versäumt hat (vgl. BGH NStZ 2000, 326). Jedenfalls fehlt es für die Wiedereinsetzung zur Anbringung der weiteren Verfahrensrügen an der Darlegung, dass der Verteidiger sich in angemessener Weise um rechtzeitige Akteneinsicht bemüht hat. Das Wiedereinsetzungsgesuch verhält sich hierzu gar nicht und führt nur aus, die Akte sei erst am 27. Dezember 2021 „angewiesen“ und am 6. Januar 2022 „als Päckchen zugestellt“ worden. Das Gesuch lässt aber nicht erkennen, dass, warum und in Bezug auf welche nun vorgetragenen Umstände überhaupt eine Fristsäumnis mit dem geschilderten Umstand in Zusammenhang steht. Schon gar nicht verhält sich die Antragsschrift dazu, dass die Fristsäumnis unverschuldet war. Der BGH hat verschiedentlich entschieden, dass es „mit Blick auf das drohende Fristversäumnis“ Aufgabe des Rechtsanwalts ist, an die Erledigung eines unbeschiedenen Akteneinsichtsersuchens zu erinnern (vgl. BGH NStZ 2000, 326; bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1985, 492; vgl. auch OLG Koblenz VRS 70, 282 und Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl., § 44 Rn 7b). Dies ist hier nicht fristgerecht (§ 45 Abs. 1 StPO) vorgetragen worden.

Lediglich informatorisch ist anzumerken, dass die mit 22. Dezember 2021 datierende (schriftliche) Wiederholung des Akteneinsichtsgesuchs trotz Fristenlaufs und erkennbarer Eilbedürftigkeit erst am 28. Dezember 2021 beim Amtsgericht (per beA) einging. Diese Erinnerung hat sich nicht ausgewirkt, weil die Akte, wie der Rechtsmittelführer mitteilt, bereits per Verfügung vom 27. Dezember 2021 übersandt worden ist. Zudem war am 28. Dezember 2021 mit einer rechtzeitigen Aktenübersendung ohnehin kaum zu rechnen, denn die Rechtsmittelbegründungsfrist endete bereits mit Ablauf des 2. Januar 2022.

b) Unbehelflich ist der im Schriftsatz vom 25. Februar 2022 enthaltene Hinweis, in der „vorläufigen Rechtsbeschwerdebegründung vom 22.12.2021“ seien weitere Ausführungen „ausdrücklich vorbehalten“ worden. Weder kennt das Prozessrecht die hier in Anspruch genommene „vorläufige Rechtsbeschwerdebegründung“ noch können verspätete Ausführungen „vorbehalten“ bleiben. Vielmehr kann die Rechtsbeschwerdebegründungsfrist nicht verlängert werden (vgl. BGH NStZ 1988, 20 [Revision]), schon gar nicht durch einseitige Erklärung („Vorbehalten“) des Rechtsmittelführers. Im Grundsatz statthaft ist allerdings die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die eine schuldlose Fristsäumnis erfordert, an deren Darstellung es hier, wie ausgeführt, gerade fehlt.

2. Die Rechtsbeschwerde ist aus den Gründen der dem Betroffenen zugänglich gemachten Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 8. Februar 2022 offensichtlich unbegründet (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO). Der Schriftsatz des Verteidigers vom 25. Februar 2022 lag vor, gab aber zu einer anderen Bewertung keinen Anlass.

Die Stellungnahme der Generalstaatsanwalt nur punktuell ergänzend bemerkt der Senat:

a) Soweit die Rechtsbeschwerde einen Aktenvermerk („… nach Urteilszustellung m.d.B. um erneute Aktenübersendung nach Ablauf der Rechtsbeschwerdefrist“) so versteht, dass die Aktenübersendung zur Behinderung der Verteidigung bewusst verzögert wurde, irrt sie. Die Verfügung stammt, wie der Dienstbezeichnung des Unterzeichners zu entnehmen ist („Erster Oberamtsanwalt“), von der Amtsanwaltschaft Berlin und betrifft nicht den Akteneinsichtsantrag der Verteidigung, sondern die Aktenübersendung an die Behörde. Schon der Grundsatz der Gewaltenteilung verböte es, dass die Anklagebehörde das Gericht anweist, das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen in einer bestimmten Weise auszuüben. Erkennbar ist dies auch nicht geschehen.

b) Eine „in der Verhandlung zu Protokoll gegebene Rüge“ (Verteidigerschrift vom 25. Februar 2022) wahrt Form und Frist einer Verfahrensrüge nicht. Die Rügen sind vielmehr nach Urteilserlass in der Form und der Frist der §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344, 345 StPO anzubringen.

c) Die Verteidigung irrt auch, wenn sie meint, ein Aussetzungsantrag und der darauf ergangene Beschluss seien ins Urteil aufzunehmen. Ersichtlich werden hier Urteil (§ 267 StPO) und Protokoll (§ 273 StPO) irrig vermengt. Die Aufnahme eines Aussetzungsantrags und seiner Bescheidung ins Urteil wäre überflüssig und falsch. Es ist vielmehr Aufgabe des Verteidigers, in der Rechtsbeschwerde entsprechend vorzutragen (§ 79 Abs. 3 OWiG i. v. m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). In Bezug auf die Darstellung des Rechtsmittels, die wahr und vollständig sein muss, kommt dem Protokoll positive und negative Beweiskraft zu (§ 274 StPO).

d) Das Rechtsmittel vermischt die Inbegriffsrüge, die Videoprints seien nicht prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden, mit der Darstellungsrüge, das Urteil nehme unzulässig auf die Prints Bezug (Verteidigerschrift vom 22. Dezember 2021). Diese Vermischung verstellt dem Verteidiger den Blick auf die Voraussetzungen der beiden Rügen.

aa) Die Inbegriffsrüge (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 261 StPO) ist unzulässig (§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Zwar beanstandet das Rechtsmittel, für sich betrachtet ordnungsgemäß, der auf den Prints enthaltene Text sei nicht verlesen worden. Die Rüge muss aber darüber hinaus dartun, dass der angeblich verwertete Beweisstoff nicht anderweitig prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist (vgl. BVerfG NJW 2005, 1999; BGH wistra 1990, 197; Senat VRS 139, 213; OLG Köln NStZ-RR 1997, 367). Solchen Vortrag lässt die Rechtsbeschwerde vermissen. Darüber hinaus, dies wird hier nur informatorisch erwähnt, legen die Urteilsgründe nahe, dass der Inhalt bzw. das Ergebnis der auf den Prints ersichtlichen Buchstaben- und Zahlenfolge über den ViDistA-Auswertebericht (UA S. 3, 4) eingeführt worden ist. Die Urteilsausführungen gehen hier – ersichtlich zur Erhöhung der Transparenz und zur Überzeugung des Betroffenen – weit über das hinaus, was bei einem standardisierten Messverfahren zu erwarten ist.

bb) Von der Inbegriffsrüge (eine Verfahrensrüge) zu unterscheiden ist die Beanstandung, auf eine Abbildung sei unter Verstoß gegen §§ 46 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 3 StPO und damit unwirksam verwiesen worden. Diese Sachrüge, ihre Erhebung unterstellt, bliebe aber erfolglos, weil das Urteil auch ohne den Text- und Zahlenteil der Bilder und überhaupt auch gänzlich ohne diese Bilder verständlich und nachvollziehbar wäre.

e) Die Feststellung der Fahrereigenschaft ist sachlich-rechtlich fehlerfrei. Das Amtsgericht hat den polizeilichen Zeugen geglaubt, diese hätten sich vom Täter den Führerschein zeigen lassen und anhand dessen seine Identität festgestellt (UA S. 3). Die Führerscheindaten sind zudem aktenkundig gemacht worden (UA S. 3). Ausführungen der Rechtsbeschwerde, der „Vortrag zur Fahrereigenschaft“ sei zu „bestreiten“ (Verteidigerschrift vom 25. Februar 2022 S. 3), gehen nicht nur am Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung, sondern auch an den Grundstrukturen des Strafprozessrechts vorbei. Erst recht verkennen sie das Wesen der Rechtsbeschwerde.

f) Ein Großteil der weiteren Beanstandungen ist, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer gründlichen Stellungnahme zutreffend hingewiesen hat, urteilsfremd und daher unbeachtlich.“

Nun ja und mit Verlaub: So ganz viel Ahnung scheint der Verteidiger vom Rechtsbeschwerderecht nicht gehabt zu haben.