Archiv für den Monat: Juni 2020

StPO III: Telekommunikationsüberwachung bei einer „Nichtkatalogtat“ nach § 100a Abs. 2 StPO, oder Verwertbarkeit

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Und zum Tagesschluss stelle ich dann noch den KG, Beschl. v. 27.11.2019 – (3) 161 Ss 151/19 (96/19). Auch schon etwas älter. Aber vom KG erst vor kurzem geschickt. Er stammt aus der „internetlosen Zeit“ des KG.

Das AG hatte den Angeklagten vom Vorwurf der Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln freigesprochen. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das LG Berlin diesen Freispruch aufgehoben und die Angeklagte wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln verurteilt. Dagegen u.a. die Verfahrensrüge, die – ebenso wie die gleichfalls erhobene Sachrüge – keinen Erfolg hatte:

„a) Die Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht wird, die Strafkammer habe ein im Hinblick auf die Telekommunikationsüberwachung bestehendes Beweisverwertungsverbot missachtet, ist bereits unzulässig, da sie nicht die Voraussetzungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erfüllt. Der Revisionsbegründung ist der Inhalt des der Telekommunikationsüberwachung zugrundeliegenden richterlichen Beschlusses nicht zu entnehmen, sodass der Senat nicht prüfen kann, ob im Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen Beschlüsse die Voraussetzungen für eine solche Überwachung vorgelegen haben (vgl. BGH NStZ 2018, 550 m.w.N.; NStZ 2008, 230).

Darüber hinaus verkennt die Revision, dass im Falle einer im Zeitpunkt ihrer Anordnung rechtmäßigen Telekommunikationsüberwachung die hieraus gewonnenen Erkenntnisse auch dann verwertbar sind, wenn sich nach den weiteren Ermittlungen hinsichtlich der gleichen prozessualen Tat nur noch der Verdacht einer Tat erweist, die sich nicht im Katalog des § 100a Abs. 2 StPO findet und die ursprüngliche Anordnung daher nicht hätte ergehen dürfen (vgl. BGH, Urteil vom 5. März 1974 – 1 StR 365/73 -, juris).

Ein Anwendungsfall des § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO, der die Verwendung von Zufallsfunden regelt, liegt in Bezug auf die Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung im Verfahren gegen die Angeklagte nicht vor, da es sich nicht um ein anderes Strafverfahren im Sinne der Vorschrift handelt. Denn die Aufklärung der Anlasstat einschließlich der Verfahren gegen Mitbeteiligte ist von der Norm nicht erfasst (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 62. Aufl., § 477 Rn. 5). Vielmehr dürfen in rechtmäßiger Weise erlangte Erkenntnisse auch hinsichtlich anderer Beteiligungsformen der zunächst angenommenen Katalogtat und auch hinsichtlich anderer Tatbeteiligter verwertet werden, soweit es sich um die gleiche prozessuale Tat handelt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 8. August 2013 – III-1 RVs 58/13 -, juris; BT-Drs. 16/5846, S. 66). Dies gilt auch dann, wenn die Angeklagte zum Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme nicht zu dem Personenkreis gehörte, gegen den sich nach § 100a Abs. 3 StPO die Anordnung richtet (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2018 – 2 StR 497/17 ?, juris; NStZ 1979, 1370). Es steht der Verwertbarkeit der Erkenntnisse daher nicht entgegen, dass die Angeklagte lediglich Beihilfe zu den Taten leistete, die Grundlage eines Beschlusses nach § 100a StPO waren.“

Wegen einer anderen Problematik komme ich noch mal auf den Beschluss zurück.

StPO II: Letztes Wort dauert 5 Tage, oder: Fristsetzung durch den Vorsitzenden erlaubt

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Die zweite Entscheidung kommt auch vom BGH. Der hat sich im BGH, Beschl. v. 27.05.2020 – 5 StR 166/20 – zum Umgehen/Vorgehen mit/beim letzten Wort des Angeklagten geäußert. Was genau in der Hauptverhandlung vorgefallen ist, lässt sich dem Beschluss nicht konkret entnehmen, aber zumindest erahnen :-). Jedenfalls hatte der Angeklagte mit seiner Revision dann (u.a.) Beschränkungen beim letzten Wort – wahrscheinlich eine Fristsetzung – gerügt. Ohne Erfolg:

„2. Dem Angeklagten wurde ausreichende Gelegenheit zum letzten Wort (§ 258 StPO) gegeben.

Nach zehn Tagen Beweisaufnahme konnte er fünf Tage lang Ausführungen zu seiner Verteidigung machen. Dass er durch die Vorsitzende dabei 31 mal darauf hingewiesen wurde, dass seine Ausführungen Wiederholungen und Weitschweifigkeiten enthalten, und ihm schließlich eine Frist zur Beendigung seiner Ausführungen gesetzt wurde, lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Denn ein Vorsitzender darf nach § 238 Abs. 1 StPO einschreiten, wenn sich die Ausführungen des Angeklagten in seinem letzten Wort mit nicht zur Sache gehörenden Umständen befassen, fortwährende Wiederholungen oder andere unnütze Weitschweifigkeiten enthalten oder sonst einen Missbrauch seines letzten Wortes darstellen (BGH, Urteil vom 9. Januar 1953 – 1 StR 623/52, BGHSt 3, 368, 369). Nach mehrmaligen erfolglosen Ermahnungen ist auch der Entzug des letzten Wortes möglich (vgl. KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 258 Rn. 21; Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 258 Rn. 26 jeweils mwN).“

Nun ja – man kennt das Verfahren nicht. Aber fünf Tage letztes Wort nach zehn Tagen Beweisaufnahme ist schon heftig. Ich hatte mal beim LG Bochum zwei Tage. Auch das war ermüdend 🙂 .

StPO I: Datenübermittlung nach dem G10-Gesetz, oder: Beweisverwertungsverbot?

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Heute – am ehemaligen Feiertag „Tag der deutschen Einheit“ – stelle ich mal wieder drei StPO-Entscheidungen vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 15.01.2020 – 2 StR 352/18. Schon etwas älter, aber heute passt er 🙂 . Es geht um die Verurteilung mehrerer Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in 10 Fällen. Der BGH hat aus verschiedenenen Gründen aufgehoben. Ihm hat vor allem die Beweiswürdigung des LG Erfurt nicht gefallen.

Keine Bedenken hatte er allerdings hinsichtlich der Verwertung personenbezogener Daten, die auf § 7 G10-Gesetz beruhte:

W(1) Allerdings unterliegen dessen Angaben in seinen polizeilichen Vernehmungen auf der Grundlage der Feststellungen nicht dem von der Revision geltend gemachten Beweisverwertungsverbot.

(a) Zu Recht hat die Strafkammer im Zusammenhang mit der Übermittlung von personenbezogenen Daten nach § 7 Abs. 4 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G10-Gesetz) das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots abgelehnt. Denn § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2b, Satz 2 G10-Gesetz in der für den Tatzeitraum maßgeblichen Fassung vom 1. September 2013 sieht ausdrücklich die Zulässigkeit der Datenübermittlung auch zur Verfolgung von Straftaten vor, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht einer der genannten Katalogstraftaten begründen. Rechtmäßig übermittelte Daten können uneingeschränkt sowohl als Beweismittel als auch als Ermittlungsansatz genutzt werden, auch wenn sich – wie hier – im Laufe der Ermittlungen der zu ermittelnde Sachverhalt letztlich nicht als Katalogstraftat, sondern als anderer Straftatbestand darstellt (MünchKomm-StPO/Günther, G10, § 3 Rn. 19 mit Hinweis auf BVerfG NJW 1988, 1075). Für § 7 Abs. 4 Nr. 2 G10-Gesetz, der die Zulässigkeit der Übermittlung ausdrücklich (auch) an den Katalog des § 100a StPO knüpft (vgl. BT-Drucks. 18/4654, S. 42), kann nichts anders gelten als für Beweiserhebungen nach § 100a StPO (dazu vgl. KK-StPO/Bruns, 8. Aufl., § 100a Rn. 58 mwN; MünchKomm-StPO/Günther, § 100a Rn. 179; BeckOK-StPO/Graf, 35. Ed., § 100a Rn. 186).

(b) Auch die sich anschließenden weiteren Erkenntnisse der Ermittlungsbehörde unterliegen keinem Beweisverwertungsverbot. Eine Verkennung der Sach- und Rechtslage unter willkürlicher Annahme des Verdachts eines Raubes (§ 249 StGB) liegt ersichtlich nicht vor. Vielmehr waren zum Zeitpunkt der Übermittlung und Verwertung der Hinweise zu einer Tatbeteiligung des Mitangeklagten H.   aufgrund der bereits am 9. Februar 2014 erfolgten Vernehmung des Geschädigten T.   konkrete Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass dessen Smartphone im Zuge des festgestellten Tatgeschehens im Gemeindehaus von Ba.    gewaltsam entwendet worden war. Diese Verdachtslage hatte sich durch Nachermittlungen des vertretungsweise zuständigen Oberstaatsanwalts K.   -H.   vom 11. Februar 2014 noch erhärtet. In seiner sich hieran anschließenden Beschuldigtenvernehmung wurde dem Mitangeklagten H.    dieser Tatverdacht zutreffend eröffnet. Hierauf hat sich der in seiner Willensentschließung und -betätigung nicht beeinträchtigte Mitangeklagte H.   aus freien Stücken zur Sache eingelassen, womit diese Angaben gleichfalls keinem Beweisverwertungsverbot unterliegen.“

Wie gesagt: Ansonsten hat dem BGH die Beweiswürdigung des LG nicht gefallen.

OWi III: (Zu) kurzfristige Rücknahme des Einspruchs ==> Kosten?, oder: Erkundigungspflicht des Gerichts?

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Die letzte Entscheidung des Tages kommt mit dem OLG Bremen, Beschl. v. 22.04.2020 – 1 SsBs 65/19 – aus dem Norden. Die Entscheidung passt ganz gut zu dem vorhin vorgestellten KG, Beschl. v. 13.03.2020 – 3 Ws (B) 50/20 – (vgl. dazu OWi II: Erkundigungspflicht des Gerichts vor Verwerfungsurteil?, oder: Willkommen im 21. Jahrhundert). In meinen Augen führt auch dieser Beschluss zum Kopfschütteln.

Folgender Sachverhalt: Die Verwaltungsbehörde hat gegen den Betroffenen einen Bußgeldbescheid erlassen. Auf den Einspruch des Betroffenen beraumte das AG Bremen Hauptverhandlung an für den 25.07.2019 um 10:00 Uhr. Am 25.07.2019 ging um 09:02 Uhr per Telefax beim AG die Rücknahme des Einspruchs ein. Die Hauptverhandlung begann um 10:00 Uhr. Da weder der Betroffene noch sein Verteidiger erschienen und der zuständigen Richterin die Rücknahme des Einspruchs nicht zur Kenntnis gelangte, verwarf sie den Einspruch des Betroffenen mit Urteil vom 25.07.2019 nach § 74 Abs. 2 OWiG. Der Betroffene legte gegen das Urteil „Rechtsmittel“, ein. Das OLG hat das Urteil des AG aufgehoben, da nach Einspruchsrücknahme der Einspruch nicht mehr durch Urteil verworfen werden durfte. Die Kosten der Rechtsbeschwerde hat es aber dem Betroffenen auferlegt:

„Die Kosten des Beschwerdeverfahrens waren dem Betroffenen gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 467 Abs. 2 StPO aufzuerlegen, denn er hat sie durch eine schuldhafte Säumnis verursacht.Die Säumnis muss zwar grundsätzlich eine Frist oder einen Termin betreffen; allgemein nachlässiges Verhalten bei der Verteidigung oder Prozessverschleppung genügen nicht (BVerfG NStE Nr. 4 zu § 467; Pfeiffer Rn. 5; Degener in SK-StPO Rn. 8). Eine derartige Säumnis liegt aber auch dann vor, wenn das Ausbleiben zwar durch triftige Gründe gerechtfertigt war, der Betroffene dem Gericht jedoch nicht rechtzeitig von der Verhinderung Kenntnis gegeben hat, obwohl ihm dies nach den Umständen möglich war (KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, StPO § 467 Rn. 4). Entsprechend verhält es sich dann, wenn die Rücknahme des Einspruchs so spät erfolgt, dass damit gerechnet werden muss, dass sie den zuständigen Spruchkörper vor dem Beginn der Hauptverhandlung nicht mehr erreicht. Ergangen ist das angefochtene Urteil nur, weil er Betroffene seinen Einspruch so kurz vor der Hauptverhandlung zurückgenommenen hat, dass die zuständige Richterin nicht rechtzeitig davon erfahren hat. Eingegangen ist die Rücknahme per Fax knapp eine Stunde vor Beginn der Hauptverhandlung. Nach den üblichen Geschäftsabläufen in einem derart großen Gericht wie dem Amtsgericht Bremen konnte der Betroffenen nicht davon ausgehen, dass die zuständige Richterin davon noch rechtzeitig vor der Verhandlung erfahren würde.“

Ich habe Bedenken, ob die Entscheidung des OLG allgemein zutreffend ist. Denn sie legt dem Betroffenen die Haftung für Vorgänge auf, die er nicht beeinflussen kann. Denn wie soll der Betroffene letztlich sicher stellen, dass seine – in der Tat kurzfristige – Rücknahme den zuständigen Richter rechtzeitig erreicht? Eine telefonische Nachricht an den Richter dürfte keinen Erfolg haben, denn der befindet sich in der Sitzung. Natürlich kann der Betroffene durch eine entsprechende Nachricht auf seiner Rücknahme „Bitte sofort vorlegen!“ o.Ä. versuchen zu erreichen, dass die Rücknahme von der Posteingangsstelle zur Geschäftsstelle gebracht wird, die dann (hoffentlich) den Richter informiert. Wenn man aber die Abläufe bei Gericht kennt, muss man m.E. bezweifeln, ob das klappt. Andererseits: Warum verlangt man nicht vom Gericht, dass es sich auf der Geschäftsstelle nach einem Eingang erkundigt, der das Ausbleiben des Betroffenen erklärt? Das Gericht hat vor seiner Verwerfungsentscheidung eine Wartepflicht, die sich für solche Erkundigungen gut nutzen ließe. Aber das hatten wir ja schon, siehe den KG, Beschl. v. 13.03.2020 – 3 Ws (B) 50/20.

OWi II: Erkundigungspflicht des Gerichts vor Verwerfungsurteil?, oder: Willkommen im 21. Jahrhundert

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt auch vom KG. Das hat im KG, Beschl. v. 13.03.2020 – 3 Ws (B) 50/20  – in einer Verfahren betreffend die Rechtsbeschwerde gegen ein verwerfungsurteil dazu Stellung genommen, ob und wann der Amtsrichter, wenn der Betroffene ausbleibt, sich informieren muss, ob ggf. ein Entbindungsantrag und/oder ein sonstiger Antrag des Betroffenen, der sein Ausbleiben entschuldigen könnte, eingegangen ist. Hier war es so, dass ein Verlegungsantrag der Verteidigerin des Betroffenen zwar am Sitzungstag etwa 1 ¼  Stunden vor Sitzungsbeginn im elektronischen Postfach des AG eingegangen war, dieser die Geschäftsstelle des Gerichts ausweislich eines entsprechenden richterlichen Vermerks jedoch erst drei Tage nach der Sitzung erreicht hatte. Das KG meint dazu:

„Das Gericht darf den Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG nur verwerfen, wenn der Betroffene ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben ist. Entscheidend ist nicht, ob sich der Betroffene entschuldigt hat, sondern ob er entschuldigt ist. Daher muss der Tatrichter von Amts wegen prüfen, ob Umstände ersichtlich sind, die das Aus-bleiben des Betroffenen genügend entschuldigen (vgl. zu § 329 StPO BGHSt 17, 391). Ergeben sich konkrete Hinweise auf einen Entschuldigungsgrund, so muss er ihnen nachgehen. Da erfahrungsgemäß die Geschäftsstelle eines Gerichts auch noch kurz vor einem Termin davon verständigt wird, dass der Betroffene verhindert sei, muss sich der Tatrichter, wenn überraschend weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum Termin erschienen sind, aufgrund seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass eines Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissern, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt (vgl. BayObLG VRS 83, 56; OLG Köln VRS 102, 382; OLG Stuttgart Justiz 1981, 288). Das Rechtsbeschwerdegericht hat daher grundsätzlich zu prüfen, ob der Tatrichter dieser Aufklärungspflicht nachgekommen ist (vgl. BayObLG a.a.O.). War auf der Geschäftsstelle bereits ein Entschuldigungsschreiben oder eine entsprechende fernmündliche Nachricht über eine Verhinderung des Betroffenen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über die Verwerfung des Einspruchs bei Gericht eingegangen, ist die fehlende Kenntnis des Richters belanglos (vgl. Senat NZV 2009, 518; 2003, 586 und Beschluss vom 4. September 2000 – 3 Ws (B) 373/00 -, juris; OLG Köln VRS 102, 382; OLG Stuttgart aaO; OLG Brandenburg NStZ-RR 1997, 275; Senge in Karlsruher Kommentar, OWiG 5. Aufl., § 74 Rdn. 35).

Hier liegt der Fall jedoch anders. Der Verlegungsantrag der Verteidigerin ging zwar am Sitzungstag, dem 13. Dezember 2019, etwa 1 ¼  Stunden vor Sitzungsbeginn im elektronischen Postfach des Amtsgerichts Tiergarten ein, hat die Geschäftsstelle des Gerichts ausweislich eines entsprechenden richterlichen Vermerks jedoch erst am 16. Dezember 2019 erreicht. Dass der Amtsrichter vor seiner Verwerfungsentscheidung auf andere Weise vom Verlegungsantrag Kenntnis erlangt hat, ist der Akte nicht zu entnehmen und vom Betroffenen auch nicht vorgetragen worden, so dass eine positive Kenntnis des Richters ausscheidet.

Er muss sich auch nicht, wovon der Betroffene offenbar ausgeht, etwaiges Wissen von Mitarbeitern des Gerichts (hier der Postannahmestelle des Amtsgerichts, die die Eingänge von elektronischen Schriftsätzen nach § 32a StPO verwaltet) zurechnen lassen. Denn Anknüpfungspunkt ist § 77 Abs. 1 OWiG, wonach allein das erkennende Gericht die Pflicht zur Aufklärung und Nachforschung trifft. Abzustellen ist deswegen – wie dargelegt – allein darauf, ob der erkennende Richter bei Beschlussfassung Kenntnis vom Verlegungsantrag hat bzw. hätte haben können. Die ihn treffende Nachforschungspflicht vor Verwerfung eines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG gebietet es nicht, dass er bei allen möglichen und zugelassenen Einlaufstellen für digitale und physikalische Post ermittelt, ob Hinweise für eine Entschuldigung vorliegen (vgl. Senat NZV 2015, 253; OLG Bamberg NZV 2009, 355; OLG Köln VRS 93. 357; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 17. Aufl., § 74 Rdn. 31; Senge a.a.O.). Erkundigungen, die über Nachforschungen auf der Geschäftsstelle hinausgehen, können insbesondere bei großen Gerichten, wie dem Amtsgericht Tiergarten als dem größten Amtsgericht Deutschlands, angesichts eines üblicherweise dynamisch und komplex verlaufenden Sitzungstages nicht verlangt werden (vgl. Senat a.a.O.). Will der Betroffene, dass Anträge oder eilbedürftige Nachrichten den erkennenden Richter rechtzeitig erreichen, bleibt es ihm unbenommen, sich an die Geschäftsstelle des Gerichts zu wenden.“

Na ja, das kann man auch anders sehen. Warum sollte der Amtsrichter die Wartezeit vor der Verwerfung des Einspruchs nicht dazu verwenden (müssen), sich nach ggf. eingegangenen Entbindungsanträgen o.Ä. zu erkundigen. Und wenn ich den Satz: „Will der Betroffene, dass Anträge oder eilbedürftige Nachrichten den erkennenden Richter rechtzeitig erreichen, bleibt es ihm unbenommen, sich an die Geschäftsstelle des Gerichts zu wenden.“ lese, kann ich nur lachen. Vielleicht versucht man ja mal vom Senat, die Geschäftsstelle zu erreichen und die zu bitten, den Richter über den eingegangenen Antrag zu informieren. Ich denke, ich denke das Unternehmen wird in vielen Fällen zum Scheitern verurteilt sein. Zudem: Was soll der elektonische Postverkehr, wenn es dann offenbar drei Tage dauert, um einen Antrag von der Posteingangsstelle an die Geschäftsstelle zu transportieren. Willkommen im 21. Jahrhundert.