Schlagwort-Archive: Zumutbarkeit

Vollstreckung II: Zulässigkeit einer Abstinenzweisung, oder: Ggf. ausnahmsweise zulässig

Bild von Warren Lee auf Pixabay

Und auch im zweiten Posting dann etwas zur Zulässigkeit einer Abstinenzweisung bei einer suchtkranken Person im Rahmen der Führungsaufsicht. Der OLG Frankfurt am Main , Beschl. v. 18.10.2023 – 7 Ws 176/23 – macht von dem Grundsatz, dass eine Abstinenzweisung bei einer suchtkranken Person im Rahmen der Führungsaufsicht nach § 68b Abs. 1 S. 1 Ziff. 10 StGB nicht zumutbar ist:

„Die beanstandete Abstinenzweisung ist gesetzlich ausdrücklich vorgesehen (§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 StGB). Sie setzt voraus, dass aufgrund bestimmter Tatsachen Gründe für die Annahme bestehen, dass der Konsum solcher Mittel zur Begehung weiterer Straftaten beitragen wird. Solche Umstände liegen, wie die Strafvollstreckungskammer in ihrem angefochtenen Beschluss zutreffend dargelegt hat und auch mit der Beschwerde nicht in Abrede gestellt werden, bei dem Verurteilten unzweifelhaft vor. Die Abstinenzweisung ist geeignet, dem entgegenzuwirken.

Entgegen der Auffassung des Verurteilten stellt die Abstinenzweisung auch nicht bereits wegen der fehlenden erfolgreichen suchttherapeutischen Behandlung eine unzumutbare Anforderung an seine Lebensführung (§ 68b Abs. 3 StGB) dar.

Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des OLG Frankfurt am Main, die im Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte steht, bei einer manifest suchtkranken Person, die nicht oder nicht erfolgreich behandelt worden ist, eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Ziffer 10 StGB in der Regel nicht zumutbar (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 15. Juni 2023 – 3 Ws 207 + 213/23 m.w.N.).

Doch kann von dieser Regel unter Umständen abgewichen werden, wenn sich der Verurteilte während des Strafvollzuges über einen längeren Zeitraum als zur Abstinenz fähig erwiesen hat (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 15. Juni 2023 – 3 Ws 207 + 213/23; 19. März 2019 – 3 Ws 112 + 115/19 und vom 30. August 2018 – 3 Ws 669/19 m.w.N.; OLG München, Beschluss vom 21. Juni 2011 – 1 Ws 488 – 494/11; OLG Köln, Beschluss vom 13. September 2010 NStZ-RR 2011, 62).

Denn es ist zu bedenken, dass die strafbewehrte Abstinenzweisung vom Gesetzgeber zu Recht als ein grundsätzlich taugliches Instrument zur Beförderung eines künftig straffreien Lebens verstanden wird. Dass sie gerade auch gegenüber Personen zulässig ist, die nach Vollverbüßung unter Führungsaufsicht stehen, belegt, dass die Abstinenzweisung auch in Fällen ungünstiger Prognose in Betracht kommt. Bei Verurteilten, denen es immerhin gelungen ist, im eng strukturierten und kontrollierten Rahmen des Strafvollzugs abstinent zu leben, kann es deshalb unter Umständen auch dann gerechtfertigt sein, eine Abstinenzweisung zu erteilen, wenn es keineswegs gesichert erscheint, dass der Verurteilte in Freiheit dauerhaft abstinent wird leben können. Andererseits gibt es Fälle, in denen es bei einer jahrelang schwer suchtmittelabhängigen Person, bei der Therapieversuche mehrfach gescheitert sind und sich auch im Strafvollzug keine wesentlichen Gesichtspunkte dafür ergeben haben, dass es ihr künftig gelingen könnte, suchtfrei zu leben, trotz eines in Bezug auf Abstinenz im Wesentlichen beanstandungsfreien Verhaltens im Vollzug, so hochgradig wahrscheinlich ist, dass der Betreffende außerhalb der eng strukturierten Bedingungen des Strafvollzugs nicht zu Abstinenz in der Lage sein wird, dass bei einer Abstinenzweisung Straftaten nach § 145a StGB regelrecht vorprogrammiert wären (st. Rspr. des OLG Frankfurt am Main, vgl. Beschlüsse vom 5. Februar 2021 – 3 Ws 6/21; 20. Januar 2022 – 3 Ws 736 + 737/21 und 15. Juni 2023 – 3 Ws 207 + 213/23).

Die Strafvollstreckungskammer, die die Führungsaufsicht ausgestaltet und eine strafbewehrte Abstinenzweisung erteilen will, hat die Gesichtspunkte der Eignung und der Verhältnismäßigkeit mit Blick auf den jeweiligen Einzelfall konkret gegeneinander abzuwägen. Dabei wird sie je nach Konstellation auch das Gewicht derjenigen Straftaten in den Blick nehmen müssen, die durch die Abstinenzweisung verhindert werden sollen (OLG Frankfurt am Main, Beschlüsse vom 15. Juni 2023 – 3 Ws 207 + 213/23 und 6. Juni 2019 – 3 Ws 326/19).

Daran gemessen stellt die angefochtene Abstinenzweisung keine unzumutbaren Anforderungen an die Lebensführung des Verurteilten und damit keinen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit dar. Die Ausführungen des Beschlusses tragen die getroffene Entscheidung, trotz der langjährigen, nicht erfolgreich behandelten Drogensucht des Verurteilten, eine strafbewehrte Abstinenzweisung zu erteilen. Die Strafvollstreckungskammer hat im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung die zu verhindernden Straftaten wie die Teilnahme im Straßenverkehr unter dem Einfluss von Alkohol und Betäubungsmitteln aufgrund der damit verbundenen Gefahren für Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer zutreffend als schwere Straftaten berücksichtigt und bei der Frage der Zumutbarkeit der Abstinenzweisung insbesondere darauf abgestellt, dass der Verurteilte erfolgreich substituiert wird und nach seinen eigenen Angaben keinerlei Suchtdruck verspürt. Sie hat zudem in ihre Entscheidung eingestellt, dass der Verurteilte weiterhin um eine therapeutische Aufarbeitung seiner langjährigen Drogensucht bemüht ist und zwischenzeitliches Scheitern einzelner therapeutischer Maßnahmen in der Vergangenheit nicht zwangsläufig nur auf seine Abhängigkeit, sondern auch auf seine anderen problematischen Persönlichkeitsanteile zurückzuführen sind. So fiel es ihm u.a. in der Vergangenheit schwer, allgemeinverbindliche Strukturen für sich zu akzeptieren (Therapiebescheinigung Therapiezentrum Waldmühle vom 2. September 2019) und hat der Verurteilte in seiner Anhörung im Rahmen der Prüfung einer Reststrafenaussetzung am 9. April 2021 für sich reklamiert, dass die damals wohl letzte Therapie im Kernbereich abgeschlossen gewesen sei und er nur deshalb „rausgeflogen“ sei, weil er wegen eines allergischen Schocks bei seinem Sohn die Klinik sofort („allerdings nach Absprache“) verlassen habe. Wenn die Strafvollstreckungskammer unter diesen Umständen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der weiteren Weisungen, insbesondere der engen Anbindung an die Bewährungshilfe, eine ausreichende Chance sieht, dass der Verurteilte einer mit Nachdruck eingeforderten Abstinenzweisung nachkommen kann, hält sich dies noch in dem Beurteilungsspielraum, den der Senat hinzunehmen hat.

Die mit der Abstinenzweisung verbundene Kontrollweisung ist ebenfalls nicht zu beanstanden und genügt insbesondere dem Bestimmtheitserfordernis.“

 

Bewährung II: Bewährungsaussetzung nach § 36 BtMG, oder: Zumutbarkeit einer Abstinenzweisung

Bild von 13smok auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung des Tages nimmt das LG Nürnberg-Fürth im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.10.2023 – 12 Qs 65/23 – im Rahmen der Bewährungsaussetzung bei einem drogenabhängigen Verurteilten zu eineAbstinenzweisung Stellung.

Im Rahmen der Aussetzung der weiteren Vollstreckung verhängten Freiheitsstrafen nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG zur Bewährung nach einer § 35-er-Maßnahme sindfolgende Weisungen erteilt worden:

„Die Verurteilte wird angewiesen, (…)

  1. c) keine Betäubungsmittel im Sinne des BtMG oder NPSG zu konsumieren; (…)
  2. e) sich … mindestens einmal und höchstens dreimal im Quartal … Suchtmittelkontrollen, … zum Nachweis seiner Abstinenz zu unterziehen.“

Gegen beide Weisungen legte der Verteidiger der Verurteilten sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung führte er aus, dass die Verurteilte suchtkrank sei. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„2. Sie ist auch begründet, da die angegriffenen Anordnungen gesetzeswidrig waren (§ 305a Abs. 1 Satz 2 StPO).

a) Gerichtliche Weisungen für die Bewährungszeit dürfen an die Lebensführung des Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen stellen (§ 56c Abs. 1 Satz 2 StGB). Dabei ist es grundsätzlich zulässig, den Verurteilten zur Drogenabstinenz und Abgabe von Abstinenznachweisen anzuweisen, sofern ihm dadurch spezialpräventiv zur Vermeidung künftiger Straftaten geholfen werden soll (BVerfG, Beschluss vom 21.04.1993 – 2 BvR 930/92, juris Rn. 8). Der Verurteilte muss seinen Konsum zu diesem Zweck aber grundsätzlich steuern können (Groß/Kett-Straub in MüKoStGB, 4. Aufl., § 56c Rn. 11). Das ist nicht anzunehmen, wenn bei bestehender Suchtmittelerkrankung noch keine erfolgreiche Therapie stattgefunden hat (LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 12.07.2017 – 16 Qs 15/17, BeckRS 2017, 118714 Rn. 14).

b) Unter Anwendung dieser Grundsätze sind die angegriffenen Abstinenzweisungen für die Verurteilte – derzeit – unzumutbar.

Ausweislich der Feststellungen des landgerichtlichen Urteils vom 03.09.2020 ist die Verurteilte seit ihrem zwölften Lebensjahr drogenabhängig. Eine Langzeittherapie hat sie im Jahr 2015 abgebrochen. Trotz Teilnahme an einem Substitutionsprogramm seit dem Jahr 2019 nahm sie weiterhin Heroin ein. Nach Aktenlage ist auch nach beiden eingangs genannten Verurteilungen keine erfolgreiche Behandlung der Abhängigkeitserkrankung erfolgt. Die Verurteilte wurde aus der Fachklinik … und aus der Fachklinik … auf ärztliche Veranlassung bzw. aus disziplinarischen Gründen vorzeitig entlassen. Der für sich genommen erfolgreiche Aufenthalt im …-Haus stellte demgegenüber keine „echte“ Suchtmitteltherapie dar. Zwar lebte die Verurteilte dort drogenfrei und erhielt eine Rückfallprophylaxe. Jedoch handelt es sich bei dem Haus lediglich um eine therapeutische Übergangseinrichtung. Ausweislich der bei der Akte befindlichen Selbstbeschreibung handelt es sich bei der Übergangseinrichtung um ein Angebot der Eingliederungshilfe, die suchtmittelabhängigen Menschen Unterstützung anbietet, die eine schnelle Stabilisierung ihrer Lebenssituation anstreben. Sie bietet Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung eine drei bis sechsmonatige Aufnahme an, sofern die Indikation vorliegt und Drogenfreiheit vor Aufnahme gewährleistet ist. Angeboten werden dort ein Beschäftigungsprogramm, Freizeitgestaltung und psychosoziale Betreuung (Einzel- und Gruppengespräche sowie unterschiedliche Beratungsangebote). Alles in allem handelt es sich um ein niederschwelliges Angebot zwischen oder nach einzelnen Behandlungsphasen einer Drogentherapie (vgl. allgemein zu solchen Einrichtungen Bohnen in BeckOK BtMG, 19. Ed. 15.06.2023, § 35 Rn. 14, 21). Dementsprechend besteht der Zweck der Übergangseinrichtung vornehmlich (und lediglich) darin, den Suchtkranken zu stabilisieren, nicht aber darin, ihn im technischen Sinne zu therapieren.

Hiervon ausgehend sieht die Kammer keine hinreichend tragfähige Grundlage dafür, dass die Verurteilte ihren Drogenkonsum momentan ausreichend steuern kann. Demgemäß waren die angegriffenen Weisungen aufzuheben.“

Zur Pauschgebühr im Loveparadeverfahren, oder: Mehr als 40 EUR/Stunde für Einarbeitung gibt es nicht

© PhotoSG – Fotolia.com

Am „Gebührenfreitag“ stelle ich zunächst eine Entscheidung des OLG Düsseldorf zur Pauschgebühr vor, und zwar den OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.03.2021 – III-3 AR 90/20.

Pauschgebühr und OLG Düsseldorf, mahnt ahnt: Da kann nichts Gutes kommen. Denn ich erinnere: Da waren die, die zunächst die sog. 500-Blatt-Formel“ propagiert haben (OLG Düsseldorf, RVGreport 2016, 99 = StRR 2015, 359 = JurBüro 2015, 637 = Rpfleger 2015, 668; RVGreport 2016, 178; RVGreport 2016, 138), diesen Lichtblick in der Pauschgebührrechtsprechung, dann aber sehr schnell – nach einem Wechsel im Senatsvorsitz – wieder einkassiert haben (OLG Düsseldorf RVGreport 2017, 10; 2017, 57; 2018, 213). Von daher: Die Entscheidung v. 31.03.2021, die nach dem Loveparadeverfahren ergangen ist, überrascht nicht. Jedenfalls mich nicht.

Zur Sache: Die Kollegin Zipperer, die mir den Beschluss geschickt hat, war Nebenklägerbeistand im Loveparade-Verfahren. Sie hat nach Abschluss des Verfahrens eine Pauschgebühr nach § 51 RVG in Höhe von 285.000 EUR für das gesamte Verfahren beantragt. Hilfsweise hat sie Pauschgebühren für einzelne Verfahrensabschnitte, nämlich anstelle der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG eine Pauschgebühr von 108.180 EUR, anstelle der Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG eine Pauschgebühr von 38.351,98 EUR sowie eine Pauschgebühr von 140.962,50 EUR anstelle von Terminsgebühren Nrn. 4114, 4116, 4118 VV RVG geltend gemacht. Die Hauptverhandlung in dem Verfahren hat in der Zeit vom 8.12. 2017 bis zum 4.5.2020 an insgesamt 184 Sitzungstagen stattgefunden, von denen die Antragstellerin an 169 Tagen teilgenommen hat. Das OLG hat anstelle der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG eine Pauschgebühr von 40.000 gewährt:

Das OLG verweist zunächst auf die Rechtsprechung des BVerfG und seine Rechtsprechung zu § 51 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 68, 237, 255; BVerfG NJW 2007, 3420; BVerfG NJW 2019, 3370 m.w.N.; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.06.2015, III-3 AR 65/14, und vom 19.04.2018, III-3 AR 256-259/16). Und dann:

1. In Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Staatskasse vom 29. Januar 2021, und unter Beachtung der von dem Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze, sieht auch der Senat die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Pauschvergütung lediglich anstelle der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG gemäß § 51 RVG als gegeben an, und zwar in der vorgeschlagenen Höhe von 40.000 Euro.

In seinen Entscheidungen vom 25. Juli 2020 (III-3 AR 37/19), vom 8. Oktober 2020 (III-3 AR 39/20), vom 22. Oktober 2020 (III-3 AR 65120) und 11. Januar 2021 (III-3 AR 78/20) hatte der Senat die jeweils gewährte Pauschvergütung von 40.000 Euro auf einen von den ebenfalls im Loveparade-Verfahren tätigen Pflichtverteidigern bzw. Nebenklägerbeiständen plausibel und glaubhaft vorgetragenen Einarbeitungsaufwand von ca. 1000 Stunden gestützt. Im vorliegenden Verfahren geht der Senat davon aus, dass die Antragstellerin sich ebenfalls mit einem ähnlichen Zeitaufwand in die auch für sie identischen Verfahrensakten eingearbeitet hat. Soweit die Antragstellerin geltend macht, sie sei mit dieser Arbeit sogar 1.500 Stunden beschäftigt gewesen, ist dieser deutliche Mehraufwand nicht nachvollziehbar. Es erscheint nicht rechtfertigt, die bisherige Gleichbehandlung zahlreicher Verteidiger und Nebenklägerbeistände in diesem Punkt aufzugeben und der Antragstellerin eine über 40.000 Euro hinausgehende Pauschgebühr anstelle der gesetzlichen Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG zuzubilligen.

2. Soweit die Antragstellerin darüber hinaus eine Pauschgebühr anstelle der gesetzlichen Terminsgebühren nach Nr. 4114 VV RVG beansprucht, sind die Voraussetzung des § 51 RVG nicht erfüllt.

Mit Blick auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung (vgl. oben Ziffer 1. 1.) stellt der Senat darauf ab, ob die Höhe des Entgelts für die im Rahmen der Hauptverhandlung entfaltete Tätigkeit wegen für längere Zeit währender ausschließlicher oder fast ausschließlicher Inanspruchnahme für den Pflichtverteidiger von existenzieller Bedeutung ist. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats (vgl. dazu im Einzelnen Beschluss Vom 23. Juni 2015, III-3 AR 65/14, sowie vom 19. April 2018, III-3 AR 256-259/16) beurteilt sich dies im Kern nach der Dichte der Hauptverhandlungstage, und zwar mit Blick auf die hiervon _abhängenden grundsätzlichen Möglichkeiten des Pflichtverteidigers zum Engagement in anderen Mandaten. Die Bejahung einer jedenfalls fast ausschließlichen Inanspruchnahme durch die Haupt-verhandlung kommt unter Zugrundelegung einer fünftägigen Arbeitswoche grundsätzlich nicht schon bei Prozesswochen mit zwei ganztägigen Verhandlungen, sondern erst bei solchen mit jedenfalls drei ganztägigen Verhandlungen in Betracht. In Wochen mit dreitägiger Verhandlung ergibt sich unter Zubilligung einer Vor- und Nachbereitungszeit von insgesamt einem weiteren Tag, der in einem derartigen Umfangsverfahren grundsätzlich angemessen erscheint, eine etwa 80-prozentige — und damit fast ausschließliche — Auslastung als Pflichtverteidiger.

Im Loveparade-Verfahren hat die Hauptverhandlung nicht für „längere Zeit“ an zumindest drei Tagen in der Woche stattgefunden. Nur einmal (20. November bis 20. Dezember 2018) wurde über einen zusammenhängenden Zeitraum von fünf Kalenderwochen an jeweils drei Tagen in der Woche verhandelt. Allerdings hat die Antragstellerin an diesem Sitzungsblock nicht durchgängig teilgenommen. Nach ihrem eigenen Vortrag (Anlage 1 zum Pauschgebührenantrag vom 28. Dezember 2020) hat sie an den Sitzungen vom 4., 5. und 6. Dezember 2018 nicht teilgenommen, sondern an ihrer Stelle Rechtsanwältin pp. Aber selbst abgesehen davon ist hier von einer Unzumutbarkeit im Sinne von § 51 Abs. 1 RVG der gesetzlichen Terminsgebühren nicht auszugehen, und zwar bereits mit Blick auf die zeitliche Länge der gesamten Hauptverhandlung in der Zeit vom 8. Dezember 2017 bis zum 4. Mai 2020. In dieser Zeit hat die Antragstellerin an 169 von insgesamt 184 Verhandlungstagen teilgenommen. Dafür steht der Antragstellerin jeweils eine Terminsgebühr zu, die zudem für einen Großteil der Hauptverhandlungstage noch durch die Längengebühren nach Nrn. 4116 und auch 4117 VV RVG erhöht war. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich die 169 Sitzungstage der Antragstellerin wegen zahlreicher, oft mehrwöchiger Sitzungsunterbrechungen über einen Zeitraum von 125 Wochen erstreckt haben. Somit hat sie pro Woche durchschnittlich nur an 1,35 Sitzungen teilgenommen. Selbst unter Anrechnung einer dieser durchschnittlichen wöchentlichen Sitzungsanzahl angemessenen Vor- und Nachbereitungszeit von einem halben Tag ergibt sich, dass die Antragstellerin dadurch noch nicht einmal zur Hälfte ihrer gesamten Arbeitszeit ausgelastet war. Eine etwa 80-prozentige (vier Arbeitstagen entsprechende) — und damit fast ausschließliche — Auslastung der Antragstellerin wird selbst unter ergänzender Berücksichtigung ihrer Anreise aus Neunkirchen am Sand zu den Sitzungsblöcken nicht erreicht. Gegen eine jedenfalls fast ausschließliche Befassung der Antragstellerin mit dem Loveparade-Verfahren spricht zudem ihr eigener Vortrag, während der laufenden Verhandlung seien ihr für die Bearbeitung anderer Mandate „gerade einmal 249,8 Tage oder 1,9 Tag(e) pro Woche“ verblieben. In der Gesamtbetrachtung kann von einer – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorauszusetzenden – Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz nicht ausgegangen werden.

3. Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen konnte der Antragstellerin eine pauschalierte (Haupt-) Verfahrensgebühr nach Nr. 4112 VV RVG ebenfalls nicht zuerkannt werden. Bei einer Verhandlungsdichte von durchschnittlich nur 1,35 Sitzungen pro Woche ist nicht anzunehmen, dass die Arbeitskraft der Antragstellerin durch weitere Tätigkeiten aus dem Abgeltungsbereich der Verfahrensgebühr jedenfalls fast ausschließlich in Anspruch genommen wurde.“

Dazu nur Folgendes:

1. Mich überrascht, wie schnell das OLG den Vortrag der Kollegin, sie habe 1.500 Stunden für die Einarbeitung gebraucht, vom Tisch wischt. Da reicht ein einfaches „Nicht nachvollziehbar“ und der Hinweis auf die Gleichbehandlung mit anderen Antragstellern, der mich nun gar nicht überzeugt. Wenn man darauf abgestellt hätte, dass die Antragstellerin zu der höheren Einarbeitungszeit nicht ausreichend vorgetragen hat, könnte ich es noch verstehen, dass das OLG es bei den 40.000 EUR belässt. Nur zur Erinnerung: Das macht dann bei 1.000 Stunden, von denen das OLG ausgeht, einen Stundensatz von 40 EUR aus. Dafür würde ein Handwerker kaum tätig werden.

2. Hinsichtlich der Terminsgebühren kann man sicherlich streiten, ob die von der Antragstellerin geltend gemachte Pauschgebühr angemessen war, was sich ohne genaue Kenntnis der durchschnittlichen Hauptverhandlungsdauer kaum beurteilen lässt. Jedenfalls erscheint es mir aber zu kurz gegriffen, insoweit nur auf die Anzahl der Hauptverhandlungstage abzustellen und die Dauer der einzelnen Hauptverhandlungen überhaupt nicht in den Blick zu nehmen. Da hilft der Hinweis auf die „Längenzuschläge“ nur wenig. Man hätte an der Stelle dann doch vielleicht ein paar Worte des OLG zur Frage des sog. Gesamtgepräges des Verfahrens erwartet. Das ist eine Überlegung, die bei anderen OLG schon eine Rolle gespielt hat (vgl. OLG Celle RVGreport 2011, 177 = StRR 2011, 240; OLG Hamm JurBüro 2007, 308; OLG Hamm, Beschl. v. 2.1.2007 – 2 (s) Sbd. IX 150/06). Geholfen hätte vielleicht auch ein Einmalbetrag oder eine Art „Übergangsgeld“, der in der Rechtsprechung des OLG Koblenz eine Rolle spielt (RVGreport 2017, 217; Beschl. v. 17.9.2019 und v. 19.12.2019 – 1 AR 97/19). Von alle dem nichts, sondern nur kühle Rechnerei, warum die „Auslastung“ nicht hoch genug war.

Zumutbarkeit/Höhe Pauschgebühr, oder: „Düsseldorfer Altbier“ wird nicht angerechnet

entnommen wikimedia.com
By Ray eye – Own work, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3834179

Als zweite gebührenrechtliche Entscheidung stelle ich den OLG München, Beschl. v. 16.11.2017 – 1 AR 413/17 – vor. Den hat mir der Kollege Wamser aus Passau übersandt. Es geht um die Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 51 RVG. Als der Kollege die Übersendung eines  Pauschgebührbeschlusses durch das OLG München angekündigt hat, hatte ich nur gedacht: Oh ha, OLG München zur Pauschgebühr nach § 51 RVG, das ist fast so schlimm wie das OLG Frankfurt am Main. Denn beide OLG sind in meinen Augen besonders restriktiv bei der Bewilligung. Nun, ganz so schlimm war es dann doch nicht. Denn das OLG hat immerhin einen Zuschlag von 50% auf die gesetzlichen Gebühren gewährt. Ob das ausreicht, lassen wir mal, da sich aus dem Beschluss (mal wieder) nicht die Einzelheiten der Inanspruchnahme ergeben dahin gestellt.

Im Übrigen im Beschluss die Formulierungen, die wir fast immer lesen, wenn es um eine Pauschgebühr geht. Die gesetzlichen Gebühren sind zumutbar, die Gewährung einer Pauschgebühr ist die Ausnahme usw.:

„Die Bewilligung einer Pauschvergütung ist daher die Ausnahme, die bei besonders umfangreichen und schwierigen Verfahren unzumutbare Sonderopfer des beigeordneten Rechtsanwalts vermeiden soll. Es ist nicht Zweck der Pauschgebühr, den Pflichtverteidiger wirtschaftlich dem Wahlverteidiger gleich zu stellen. Nur in extrem aufwändigen Verfahren, die in jeder Hinsicht auch Verfahren in den Schatten stellen, bei denen eine Pauschgebühr schon angezeigt ist, kommt eine Bewilligung in Höhe der Wahlverteidigergebühren in Betracht. Ihre Überschreitung ist so gut wie immer ausgeschlossen.“

Das ist m.E. so nicht richtig.

Aber eine Formulierung im Beschluss war dann doch „bemerkenswert“, und zwar.

„Auch unter Berücksichtigung der mit Schriftsätzen vom 23.10.2017 und 04.11.2017 vorgetragenen Argumente des Antragstellers erscheint jedoch ein Zuschlag von 50 % auf die gesetzlichen Gebühren ausreichend und angemessen, wobei dem Antragsteller darin gefolgt werden kann, dass das erhaltene Düsseldorfer Altbier nicht anzurechnen ist.hat mich dann doch stutzig gemacht.“

„Bemerkenswert“ nicht deshalb, weil eine Anrechnung von „Erhaltenem“/erhaltenen Zahlungen nicht im Rahmen der Bewilligung der Pauschgebühr erfolgt, sondern im Festsetzungsverfahren. Das kann einem OLG schon mal durchgehen. Nein bemerkenswert, wegen der Art der empfangenen Leistung – nämlich „Düsseldorfer Altbier“. Ich habe deswegen dann beim Kollegen nachgefragt, der mir mitgeteilt hat:

„Hallo Herr Kollege, im Verfahren ging es um Gewerbe- und bandenmäßigen Betrug durch den Verkauf fiktiver Aktien im Telefonvertrieb mit phantastischen Gewinnaussichten. Vor einer „normalen“ Kammer des LG Passau fanden 8 Hauptverhandlungstermine statt. Das Verfahren endete mit Verurteilungen aller Angeklagten. Die Pflichtverteidigervergütung wurde mit dem Standardsatz „Vorschüsse und Zahlungen nach § 58 Abs. 3 RVG habe ich nicht erhalten. Später eingehende Zahlungen, die für die Pflicht zur Rückzahlung der Gebühren an die Staatskasse von Bedeutung sind, werde ich der Staatskasse anzeigen“ beantragt. Im Rahmen des Antrages auf die Pauschvergütung hat dann die Bezirksrevisorin eine detaillierte Darlegung von allem im Mandat erlangten begehrt. Diese Darlegung bekam sie gerne. Erlangt wurde lediglich das Düsseldorfer Altbier gemäß meinem Schreiben, das ich Ihnen glaublich beigefügt hatte und das dann in den Beschluss mündete.

Aus meiner Stellungnahme:
„Zahlungen Dritter sind an mich nicht erfolgt. Soweit erinnerlich wurden mir durch einen Bekannten des Angeklagten im Laufe des Verfahrens einige Flaschen Düsseldorfer Altbier geschenkt, das dieser wohl selbst braut. Der genaue Wert ist mir unbekannt, dürfte sich aber im unteren 2-stelligen Eurobereich bewegen. Der Vorgang wurde nicht als Gewährung einer Vergütung aufgefasst, sondern als – vergeblichen – Versuch mich als künftigen Kunden für rheinische Brauprodukte zu gewinnen.“

Damit klärt sich also die „Altbierfrage“. Zumindest Humor scheint man beim OLG München gelegentlich zu haben 🙂 .

Abstinenzweisung, oder: Keine Strafbarkeit selbstschädigenden Verhaltens

© Spencer - Fotolia.com

© Spencer – Fotolia.com

Sog. „Abstinenzweisungen“, z.B. betreffend Drogen – häufig im Rahmen der Anordnung der Führungsaufsicht (§ 68f ff. StGB) anzutreffen – sind bei den davon betroffenen Probanden sehr unbeliebt. Die (obergerichtliche) Rechtsprechunggeht aber davon aus, dass eine Weisung, die dahin geht, keine Betäubungsmittel bzw. keinen Alkohol zu konsumieren, für sich genommen keinen Verstoß gegen Grundrechte darstellt. Die  Abstinenzweisung muss aber im Einzelfall verhältnismäßig sein, was eine Abwägung zwischen den betroffenen Gemeinwohlbelangen und den Rechten des Verurteilten voraussetzt. Insoweit werden als ohne Weiteres zulässig angesehen Abstinenzweisungen gegenüber zum Verzicht auf den Konsum von Alkohol oder anderer Suchtmitteln fähige Personen. Hingegen ist bei nicht- oder erfolglos therapierten langjährigen Suchtkranken eine Abwägung erforderlich, bei der insbesondere zu berücksichtigen ist, inwieweit die Aussicht besteht, den mit der Abstinenzweisung verfolgten Zweck zu erreichen, ob und inwieweit der Suchtkranke sich Therapieangeboten geöffnet hat und welche Straftaten im Falle weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten sind. Auch § 145a StGB spielt eine Rolle. Das kann man alles noch einmal nachlesen im BVerfG, Beschl. v. 30.03.2016 – 2 BvR 496/12, in dem es zu Unzumutbarkeit/Unverhältnismäßig dann konkret u.a. heißt: