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U-Haft II: Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls, oder: Anforderungen an die Begründung

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Die zweite Entscheidung kommt vom VerfGH Berlin. Der hat im VerfGH Berlin, Beschl. v. 18.10.2023 – 77/23 – über eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des KG entschieden, mit dem ein Haftbefehl wieder in Vollzug gesettzt worden ist.

Vorgeworfen wird dem Angeklagten unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, davon in sieben Fällen als Mitglied einer Bande. Die Anklage stützt sich im Wesentlichen auf Erkenntnisse, die aus sog. EncroChat-Daten gewonnen wurden.

Das LG Berlin hat die Anklage am 29.06.2023 unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen. Zugleich beschloss es, das Verfahren analog § 262 Abs. 2 StPO auszusetzen, da die Entscheidung des Rechtsstreits von europarechtlichen Fragen zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten als Beweismittel abhänge; diese wolle das Gericht zunächst – wie bereits in dem Parallelverfahren C-670/22 – dem Europäischen Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV zur Entscheidung vorlegen. Des Weiteren hob das LG einen zuvor bereits mehrfach vom LG außer und vom KG wieder in Vollzug gesetzten Haftbefehl d auf. Die erneute Aufhebung begründete es damit, dass die von § 112 Abs. 1 StPO vorausgesetzte hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit angesichts der in dem Parallelverfahren noch ausstehenden Antwort des EuGH nicht gegeben sei; überdies sei die Anordnung einer Untersuchungshaft unverhältnismäßig, da eine Hauptverhandlung in der Sache – schon vor dem Hintergrund, dass derzeit noch offen sei, wann der EuGH entscheiden werde – voraussichtlich nicht vor 2024 durchgeführt werden könne. Auf eine hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft setzte das KG den Haftbefehl des wieder in Vollzug. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass auch unter Berücksichtigung des kooperativen Verhaltens des Angeklagten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe, der nach wie vor nicht durch mildere Maßnahmen als den Vollzug der Untersuchungshaft ausgeräumt werden könne.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde,die keinen Erfolg hatte:

„Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer weder in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB (1.) noch in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 15 Abs. 5 VvB (2.).

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 24. Juli 2023 verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB. Anders als er meint, leidet die von ihm angegriffene fachgerichtliche Entscheidung an keinem verfassungsrechtlich zu beanstandenden Begründungs- oder Abwägungsdefizit.

Zwar ist dem Beschwerdeführer darin Recht zu geben, dass das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB) so ausgestaltet sein muss, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht. Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. Folglich sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. In diesem Zusammenhang hat sich das die Haftfortdauer anordnende Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB – zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu verhalten. Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (Beschlüsse vom 26. Juli 2017 – VerfGH 90 A/17 -, juris, Rn. 23 und vom 22. November 2005 – VerfGH 146/05 -, juris, Rn. 31 ff.; wie alle hier zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes abrufbar unter gesetze.berlin.de; vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschlüsse vom 4. April 2006 – 2 BvR 523/06 -, juris Rn. 18, vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08 -, juris Rn. 33 und vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 42 ff.).

Diesen Anforderungen wird der Beschluss des Kammergerichts zur (erneuten) Invollzugsetzung des Haftbefehls vom 11. August 2022 wegen Vorliegens von Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 der StPO jedoch gerecht.

So stellt das Kammergericht zur Begründung seiner Entscheidung unter Bezugnahme auf seine vorangegangenen Beschlüsse vom 28. April und 16. Juni 2023 eine ausführliche Gesamtabwägung an. Dabei berücksichtigt es u. a. auch das kooperative Verhalten des Beschwerdeführers, etwa dass dieser sich nach der Entlassung aus der Haft in Neuruppin am 20. Januar 2023 weder ins Ausland abgesetzt hat noch im Inland untergetaucht ist, sich am 4. Mai 2023 freiwillig dem Ermittlungsrichter gestellt hat und den neuerlichen Haftverschonungsauflagen bislang nachgekommen ist. Zugleich hält es in nachvollziehbarer Weise an seinen bereits in den vorangegangenen Entscheidungen vom 28. April und 16. Juni 2023 angestellten und aus Sicht des Kammergerichts auch weiterhin zutreffenden Erwägungen fest.

Soweit der Beschwerdeführer meint, das Ergebnis der Abwägungen des Kammergerichts hätte anders ausfallen müssen, führt dies noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung. Vielmehr sind die Ausführungen des Kammergerichts hinreichend ausführlich, in sich schlüssig und vertretbar und daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Die Entscheidung des 1. Strafsenats des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer auch nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 15 Abs. 5 S. 2 VvB). Die Besetzung des tätig gewordenen Spruchkörpers ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Zwar kann das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt sein, wenn die Wiederbesetzung einer freigewordenen Vorsitzendenstelle nicht in angemessener Zeit vorgenommen wird (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Dreierausschussbeschluss vom 3. März 1983 – 2 BvR 265/83 -, juris). Der 1. Strafsenat des Kammergerichts wird auch bereits seit dem 1. Januar 2023, zum Entscheidungszeitpunkt mithin schon seit knapp sieben Monaten, kommissarisch geführt. Bei der Beurteilung der Angemessenheit des Zeitraums ist jedoch zu berücksichtigen, ob die Wiederbesetzung ungerechtfertigt verzögert wird oder ob die Umstände des Einzelfalls – wie z. B. vorliegend eine Konkurrentenklage – der zügigen Auswahl und Ernennung eines geeigneten Nachfolgers entgegenstehen. Letzteres ist hier der Fall.“

U-Haft II: Wenn sich im Strafausspruch die Straferwartung realisiert, oder. Dennoch Wiederinvollzugsetzung?

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Bei der zweiten vorgestellten Entscheidung handelt es sich um den schon etwas älteren OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.03.2019 – 2 Ws 124/19 – zur erneuten Invollzugsetzung eines Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO, den mir der Kollege Loyens aus Nürnberg vor einiger Zeit geschickt hat.

Das LG hatte mit Beschluss vom 21.06.2018 die Untersuchungshaft angeordnet und mit Beschluss vom 14.9.2018 diesen Haftbefehl unter den Auflagen außer Vollzug gesetzt, dass der Angeklagte unverzüglich in pp. unverzüglich Wohnung nimmt, er dem Landgericht unverzüglich jeden Wohnungswechsel mitteilt und sich jeweils mittwochs bei der Polizeiinspektion Nürnberg-West meldet. Ihm wurde aufgegeben, gerichtlichen, polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vorladungen Folge zu leisten und seinen Reisepass beim Landgericht zu hinterlegen.

Der Kollege war dann auch im (Hauptverhandlungs)Fortsetzungstermin am 08.02.2019 erschienen. In dieser Sitzung wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft stellte in Ihrem Plädoyer den Antrag, den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren sechs Monaten zu verurteilen, von einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB jedoch abzusehen. Der Verteidiger beantragte Freispruch und stellte den Antrag, den Haftbefehl aufzuheben und den Angeklagten zu entschädigen.

Die Hauptverhandlung wurde sodann unterbrochen und Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung auf 14.2.2019 bestimmt. Ausweislich des Sitzungsprotokolls war der Angeklagte zu diesem Termin mit seinem Verteidiger erschienen. Der Angeklagte wurde wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten verurteilt. Des Weiteren hat das Landgericht am 14.2.2019 den Haftbefehl der Kammer vom 21.6.2018 nach Maßgabe des Urteils vom 14.2.2019 wieder in Vollzug gesetzt und sämtliche Beschränkungen bezüglich der Vollstreckung der Untersuchungshaft gemäß § 119 StPO aufgehoben, weil wegen der verhängten erheblichen Freiheitsstrafe ein „übersteigerter Fluchtanreiz“ bestehe und der Angeklagte einen „familiären Bezug zum Ausland“ habe. Im Übrigen werde zur Fluchtgefahr auf die Haftbefehlsbegründung vom 21.6.2018 Bezug genommen.

Dagegen dann die Beschwerde des Angeklagten, die  in der Sache Erfolg beim OLG Erfolg hatte.

Das OLG legt seiner Entscheidung die Rechtsprechung des BVerfG im BVerfG, Beschl. v. 01.02.2006 – BvR 2056/05 zugrunde. Und dann:

„3. Neu hervorgetretene Umstände können unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung (vgl. auch BVerfG NStZ 2007, 379 = StV 2008, 25) nach Erlass des Haftverschonungsbeschlusses vom 14.9.2018 bis zur Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls mit Beschluss vom 14.2.2019 jedoch nicht angenommen werden. Es sind keine nachträglich eingetretenen oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordenen Umstände ersichtlich, die die Begründung des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern würden, dass nach Sachlage keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären.

Der dem Angeklagten im Haftbefehl vom 21.6.2018 zur Last gelegte Sachverhalt entspricht dem, der sowohl von der Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift vom 27.4.2018 (ab Bl. 697 d.A. dort unter „B) Gemeinsame Straftaten von … und …“ = Bl. 707 bis 705 d.A.) und vom Landgericht im Urteil vom 14.2.2019 zu Grunde gelegt wurde. Allein auf der Grundlage des Haftbefehle und der Anklage, die noch von unerlaubtem „Handeltreiben“ mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen (in einem Fall mit unerlaubten Erwerb, im weiteren Fall mit unerlaubtem Besitz) ausgehen, bestand bei einem Strafrahmen von jeweils einem Jahr bis zu 15 Jahren unter Berücksichtigung der sieben Vorstrafen des Angeklagten, davon zwei wegen einschlägiger Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (vgl. Anklage vom 27.4.2018 zum wesentlichen. Ergebnis der Ermittlungen Bl. 709/710 d.A.) eine realistische Straferwartung von mehreren Jahren Freiheitsstrafe.

Auch wenn die Verteidigung für den Angeklagten in der Sitzung vom 8.2.2019 auf Freispruch plädiert hat, bestand für den Angeklagten spätestens seit dem in dieser Sitzung durch die Staatsanwaltschaft gestellten Verurteilungsantrags eine konkrete Strafdrohung von einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren sechs Monaten. Selbst dieser – im Vergleich zur späteren Verurteilung höhere Strafantrag – hat den Angeklagten nicht zu einer Flucht bewegt, sonst hätte er sich der am 14.2.2019 fortgesetzten Hauptverhandlung, in der die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten erfolgte, nicht gestellt. Gelegenheit zu einer Flucht hätte in der Zwischenzeit jedenfalls bestanden. Aufgrund dieses Umstande liegt es näher, dass sich der Angeklagte nach dem Hauptverhandlungstermin vom 8.2.2019 bis zum Fortsetzungstermin am 14.2.2019 trotz des gestellten Antrags auf Freispruch der Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs des Strafverfahrens durchaus bewusst war und er dennoch den Auflagen des Haftverschonungsbeschlusses nachkam.

Die vom Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) als „sehr hoch“ angesetzte Schwelle für eine Widerrufseentscheidung wird vorliegend nicht erreicht.“