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StPO I: Ist der Grundsatz der Öffentlichkeit verletzt? oder: Zentraler Aushang im Eingangsbereich reicht

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Am letzten Arbeitstag dieser (Kar)Woche bringe ich heute StPO-Entscheidungen, und zwar jeweils von OLGs.

Den Opener macht das KG, Urt. v. 21.12.2022 – (3) 121 Ss 165/22 (67/22) – zum Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 169 GVG). Der Angeklagte hatte gegen das Berufungsurteil Revision eingelegt und die Verfahrensrüge erhoben.  Mit der hatte er geltend gemacht, das LG habe nach Maßgabe von § 338 Nr. 6 StPO gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz verstoßen, weil die Berufungshauptverhandlung am Sitzungstag in einen anderen Saal verlegt worden und am ursprünglichen Sitzungssaal kein entsprechender Hinweis angebracht gewesen sei.

Dazu das KG:

„1. Die Verfahrensrüge, das Landgericht habe wegen eines vor dem ursprünglichen Sitzungssaal nicht angebrachten Hinweises auf den geänderten Sitzungsort den Grundsatz der Öffentlichkeit nach Maßgabe von § 338 Nr. 6 StPO verletzt, ist jedenfalls unbegründet.

a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 169 Abs. 1 Satz 1 GVG) erfordert es, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten davon Kenntnis zu verschaffen, wann und wo ein erkennendes Gericht eine Hauptverhandlung abhält (vgl. BGH NStZ 1982, 476; OLG Schleswig, Beschluss vom 31. März 2022 – II OLG 15/22 -, juris). Der Hinweis auf eine bestimmte Verhandlung hat grundsätzlich in Form eines Aushangs zu erfolgen, damit jeder interessierte Zuschauer die Möglichkeit erhält, die gewünschte Verhandlung zu verfolgen (vgl. OLG Koblenz NZV 2011, 266; OLG Zweibrücken NJW 1995, 333; Kissel/Mayer, GVG 10. Aufl., § 169 GVG Rdn. 47).

Entgegen der missverständlichen – vom Wortlaut der Entscheidungsgründe abweichenden – Formulierung des Leitsatzes zum Beschluss des OLG Schleswig vom 31. März 2022 (a.a.O.) bedarf es nicht stets eines zusätzlichen Aushangs vor dem Sitzungssaal (so aber – ohne Begründung – Kissel/Mayer a.a.O.), wenn Zuschauer auf andere Weise zumutbar in Erfahrung bringen können, wann und wo eine bestimmte Hauptverhandlung stattfindet (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 65. Aufl., § 169 Rdn. 4a), namentlich dann, wenn dies aus einem im Eingangsbereich des Gerichts angebrachten Aushang unzweifelhaft hervorgeht. Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass gerade in großen und unübersichtlichen Gerichtsgebäuden (wofür das Kriminalgericht Moabit exemplarisch ist) die Möglichkeit für die Öffentlichkeit, sich ohne besondere Schwierigkeiten über Ort und Zeit einer Hauptverhandlung zu informieren, in zumutbarer Weise nicht durch Aushänge an den Sälen eröffnet wird, sondern vielmehr durch einen zentralen Aushang im Eingangsbereich des Gerichts. Andernfalls wären Besucher gezwungen, das Gerichtsgebäude nach einer bestimmten Sitzung “abzusuchen”. Zugleich wären sie damit dem Risiko ausgesetzt, zu spät zur Sitzung zu erscheinen.

b) Den dargelegten Anforderungen zur Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist die von der Strafkammer durchgeführte Berufungshauptverhandlung gerecht geworden. Ausweislich der dienstlichen Äußerung der Kammervorsitzenden vom 31. Oktober 2022 befanden sich an den Gerichtstafeln der beiden dem Publikumsverkehr zugänglichen Eingänge (Wilsnacker Straße und Turmstraße) Aushänge, die am Sitzungstag auf den (korrekten) Saal und den Sitzungsbeginn der anberaumten Berufungshauptverhandlung hinwiesen. Dass vor dem Saal, in dem die Sitzung ursprünglich stattfinden sollte, kein Hinweis auf die in einen anderen Saal verlegte Hauptverhandlung angebracht war, hatte keinen Einfluss auf die bestehenden Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit über Ort und Zeit der Sitzung, mag der fehlende Verlegungshinweis auch wegen der davon abweichenden Ladung von Verfahrensbeteiligten zu einer vermeidbaren Verzögerung der Berufungshauptverhandlung geführt haben.“

Fassungslos! Aufbewahrung von Erbrochenem für den Sachverständigen?

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Ich habe lange nicht mehr geschrieben, dass ich „fassungslos“ bin über einen Gerichtsbeschluss. Jetzt ist es aber mal wieder so weit, obwohl: Ich hätte auch schreiben können: Es ist „zum Kotzen“, wie manche Gerichte mit Angeklagten umgehen – und das böse „Wortspiel“ hätte sogar gepasst.

Auslöser für meinen Zorn ist ein Beschluss der 10. großen Strafkammer des LG Augsburg (auch das noch). Dort wird seit dem 17.09.2012 gegen einen Angeklagten die Hauptverhandlung wegen Steuerhinterziehung u.a. durchgeführt. Gegen den Angeklagten besteht ein Haftbefehl, der aber außer Vollzug gesetzt ist.  Am 22.07.2013 beantragen die Verteidiger wurde Vorlage eines Attestes, das dem Angeklagten eine akute Gastroenteritis bescheinigte; es wird die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins vom 22.07.2013 beantragt. Diesem Antrag kommt die 10. Strafkammer des LG Augsburg nach. Am 24.07.2013 befragte der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. S. den Angeklagten telefonisch nach seinem Gesundheitszustand und teilte dem Gericht anschließend mit, dass er den Angeklagten nicht für verhandlungsfähig halte. Daraufhin beauftragte die Vorsitzende der 10. Strafkammer am 24.07.2013 den Sachverständigen Dr. S., den Angeklagten persönlich zu untersuchen und dem Angeklagten auszurichten, dass er das aufgrund seiner Erkrankung an diesem Tag Erbrochenes in einem Eimer aufzubewahren und dem Sachverständigen Dr. S. zur Untersuchung desselben zu übergeben habe. Gleichzeitig wurde der Hauptverhandlungstermin vom 24.07.2013 abgesetzt und weitere Verhandlungstermine auf den 05.08., 12.08., 10.09., 13.09., 17.09. und 20.09.2013 anberaumt.  Der Angeklagte wurde am Abend des 24.07.2013 von dem Sachverständigen Dr. S. untersucht. Das in einem verschlossenen Gefäß aufbewahrte Erbrochene des Angeklagten untersuchte der Sachverständige nicht.

Der Angeklagte legt Beschwerde gegen die Terminsverfügung vom 24.07.2013 ein und beantragte zudem die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verfügung der Vorsitzenden vom 24.07.2013, wonach er das von ihm Erbrochene in einem Eimer aufzubewahren und dem Sachverständigen ggf. für eine Untersuchung zur Verfügung zu stellen habe.

Die Strafkammer hilft wegen der Terminsverfügung ab, legt aber im Übrigen dem OLG München vor. Und da holt sie sich dann – zutreffend – „eine Packung ab“. Denn das OLG sieht im OLG München, Beschl. v. 10.09.2013 – 3 Ws 661 und 662/13 – die Anordnung der Vorsitzenden als rechtswidrig an und findet harsche Worte, um das zu begründen:

„Der Beschwerdeführer wurde jedenfalls in seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art 2 Abs. 1 GG) tiefgreifend beeinträchtigt. Dabei ist zu sehen, dass er sich als Angeklagter, gegen den ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl besteht, dieser Maßnahme nicht entziehen konnte, vielmehr die Vorführung zum nächsten Verhandlungstermin befürchten musste. Durch die getroffene Maßnahme wurde der Angeklagte entwürdigt und erniedrigt, es war einer der intimsten Bereiche des Angeklagten betroffen. Die Anordnung war getroffen worden, um die mit Attest vom 22.07.2013 bescheinigte akute Gastroenteritis des Angeklagten zu objektivieren. Eine Untersuchung des Erbrochenen war hierfür nicht zweckdienlich und fand dementsprechend im Rahmen der körperlichen Untersuchung durch den Sachverständigen auch nicht statt. Auch wenn es sich vorliegend weder um eine prozessual überholte Verhaftung noch um eine Durchsuchungsanordnung, zu denen die überwiegende Anzahl der entsprechenden Gerichtsentscheidungen ergangen ist, handelt, sind gleichwohl die genannten Grundrechte des Angeklagten tiefgreifend berührt, zumal die Anforderungen an das Gewicht des Grundrechtseingriffs auch nicht überspannt werden dürfen (BVerfG Beschluss vom 28.02.2013 2 BvR 612/12).

 Die am 24.07.2013 getroffene Maßnahme war nicht erforderlich und grob unverhältnismäßig. Die Erkrankung des Angeklagten begann am 20.07.2013, die angegriffene Anordnung wurde bereits am. 24.07.2013 getroffen, also am 5. Tag der Erkrankung des Angeklagten. Ausweislich der Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. vom 29.07.2013 tritt bei derartigen Erkrankungen regelmäßig innerhalb von wenigen Tagen eine wesentliche Besserung ein. Hier war jedoch zu berücksichtigen, dass der Angeklagte 79 Jahre alt ist und bereits erhebliche gesundheitliche Vorbelastungen hat. Insofern hätte die Erwägung nahe gelegen, dass eine derartige Erkrankung bei dem Angeklagten auch in Anbetracht der Wetterverhältnisse zum fraglichen Zeitpunkt (schwül und heiß) etwas länger andauern, kann als die üblichen wenigen Tage. Es konnte also noch nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Angeklagte dem Verfahren durch Krankheit entziehen will, und deshalb schon am 5. Tag seiner Erkrankung ein Mindestmaß an Sicherheit hinsichtlich dieser Erkrankung gewonnen werden musste. Ob die Sachlage anders zu beurteilen wäre, wenn sich der Angeklagte mehrere Wochen auf eine solche Erkrankung berufen hätte, war vom Senat nicht zu entscheiden. Jedenfalls war die am 24.07.2013 getroffene Anordnung vom Ermessensspielraum der Vorsitzenden bei der Verfahrensleitung nicht mehr gedeckt, weil sie weder damals schon veranlasst noch auch nur annähernd verhältnismäßig war.

Dem ist wenig hinzuzufügen, außer der Frage: Was denkt man sich als Vorsitzende eigentlich, wenn man eine solche Anordnung trifft? Oder denkt man gar nicht? Sieht man nicht, dass man einen 79-Jährigen Angeklagten vor sich hat, der – unabhängig vom gegen ihn erhobenen Vorwurf – Rechte und auch als Angeklagter seine Menschenwürde behält. Sorry, man fasst es nicht, zumindest ich nicht. Daher: Fassungslos.

Richtig oder falsch – jedenfalls kann es um viel Geld gehen, oder: Folgen eines Umzugs

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Manchmal muss man eine Entscheidung zweimal lesen, und dann ist man sich immer noch nicht sicher, ob sie richtig ist oder nicht. So m.E. den AG Tiergarten, Beschl. v. 06.09.2012 – (283 Ds) 1 OP Js 1265/10 (246/10), der eine gebührenrechtliche Frage behandelt, die – und da hat der Kollege, der mir den Beschluss geschickt hat, Recht – bisher in der Rechtsprechung noch nicht entschieden ist.

In der Sache ging es um einen Pflichtverteidiger, der in Berlin seinen Kanzleisitz hat, dort beigeordnet wird, dann aber seinen Sitz nach Köln verlegt. Er vertritt den Angeklagten weiter, reist von Köln an und macht die Reisekosten als Auslagen geltend. Der Rechtspfleger setzt sie ab, das AG gewährt sie dem Pflichtverteidiger mit der Begründung:

„Hiergegen wendet sich der Pflichtverteidiger mit seiner sofortigen Beschwerde vom 27.06.2012. Diese ist als fristgerecht eingelegte Erinnerung zu behandeln (§ 56 RVG) und hat im wesentlichen Erfolg, da der Ausschlusstatbestand der Vorbemerkung 7 Abs. 3 Satz 2 VV-RVG auf den Auslagenersatzanspruch eines Pflichtverteidigers unanwendbar ist. Die Auslegung der Vorbemerkung 7 VV-RVG belegt eindeutig, dass diese von einem zivilrechtlichen Auftragsverhältnis zwischen Anwalt und Auftraggeber ausgeht. Dies zeigt Absatz 1 der  Vorbemerkung in dem auf die Aufwendungsersatzvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches Bezug genommen wird. Das Verhältnis des Staates zum Pflichtverteidiger ist jedoch kein zivilrechtliches Auftragsverhältnis sondern ein öffentlich-rechtliches Pflichtverhältnis.

Auch eine analoge Anwendung des Vorbemerkung 7 VV-RVG auf das Pflichtverteidigerverhältnis kommt nicht in Betracht. Die vom Pflichtverteidiger geltend gemachten Auslagen für Reisekosten etc. sind nach dem RVG grundsätzlich erstattungsfähig . Der Ausschlusstatbestand der Vorbemerkung 7 Abs. 3 VV-RVG stellt damit eine Ausnahmeregel dar. Zwar können auch Ausnahmeregeln grundsätzlich analogiefähig sein. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Analogie sich in den Grenzen der Wertung des Grundtatbestandes bewegt und dass mit ihr die Ausnahme nicht zur Regel erhoben wird. Das zivilrechtliche Auftragsverhältnis Mandant — Rechtsanwalt unterscheidet sich aber grundlegend vom öffentlich— rechtlichen Pflichtverhältnis Staat — Pflichtverteidiger. Dies zeigt sich bereit bei Begründung und Beendigung beider Verhältnisse. Während der Mandant in der Wahl seines Vertragspartners völlig frei ist und sowohl Anwalt wie auch Mandant das Verhältnis grundsätzlich jederzeit durch Kündigung beenden können verhält es sich bei der Pflichtverteidigung anders. Schon bei deren Begründung können dem Auswahlermessen des beiordnenden Richters durch die Benennung eines Anwaltes durch den Angeschuldigten enge Grenzen gesetzt werden. Auch die Beendigung einer Pflichtverteidigung ist nur in Ausnahmefällen zulässig. Auch die Höhe der Vergütung des Anwaltes fällt in beiden Konstellationen unterschiedlich aus. Insgesamt unterscheiden sich beide Verhältnisse daher derart, dass keine Möglichkeit einer analogen Anwendung der Vorbemerkung 7 VV-RVG auf das Pflichtverteidigerverhältnis möglich ist.“

Richtig oder falsch, das ist die Preisfrage. Die Argumentation des AG ist m.E. nicht zwingend. Aus dem Wortlaut der Vorbem. 7 VV RVG ergibt sich m.E. auch nicht, dass die Regelung nur für das Zivilrecht pp. gilt. M.E. muss man hier doch wohl anders argumentieren/vorgehen: Wenn der Pflichtverteidiger nach Beiordnung seinen Sitz verlegt, dann stellt sich die Frage, ob er ggf. zu entpflichten ist, was nicht ganz einfach sein dürfte. Wenn er aber nicht entpflichtet wird, dann sind ihm auch die Fahrt-/Reisekosten für die Anfahrt von seinem (nun auswärtigen) Kanzleisitz zum Gerichtsort zu erstatten (§ 46 RVG).

Bin gespannt, was das LG Berlin aus der Sache macht. Denn die Staatskasse wird den Beschluss wohl kaum rechtskräftig werden lassen. Denn es kann um viel Geld gehen. Man stelle sich nur vor, dass die Hauptverhandlung an mehreren Tagen stattfindet, zu denen der Verteidiger anreist…