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Bei der zweiten Entscheidung aus dem „Corona-Komplex“, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.03.2021 – 2 Rb 34 Ss 2/21. Es geht um die Verfassungsmäßigkeit und Auslegung des Aufenthaltsverbots im öffentlichen Raum in der baden-württembergischen Corona-Verordnung von Frühjahr 2020.
Das AG Heidelberg hat den Betroffenen wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 100 € und wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 500 € verurteilt.
Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen stand der Betroffene am 05.04.2020 zunächst um 16:20 Uhr mit zwei und dann um 18:00 Uhr mit drei anderen jeweils nicht zu seinem Hausstand gehörenden Personen an zwei verschiedenen Örtlichkeiten im öffentlichen Raum zusammen, mit denen er sich unterhielt, wobei die Kommunikation über das Mindestmaß der gebotenen Höflichkeit im Sinn eines „Hallo, wie geht’s“ hinausging. Der Abstand zwischen den Personen betrug bei dem ersten Vorkommnis etwa einen Meter, bei dem späteren Vorkommnis etwa anderthalb Meter.
Die Verurteilung ist auf §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 9 Nr. 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17.03.2020 in der vom 29.03.2020 bis 09.04.2020 geltenden Fassung gestützt.
Das OLG hat die Rechtsbeschwerde zugelassen und eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG angeregt:
Es nimmt zunächst zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-VA Stellung und bejahr diese. Dazu hier nur der Leitsatz, das man das auch alles schon mal gelesen hat:
Das Infektionsschutzgesetz ermächtigte in verfassungsrechtlich zulässiger Weise die Landesregierungen zu Regelungen durch Rechtsverordnung, im Frühjahr 2020 aus Anlass der Corona-Pandemie den Aufenthalt im öffentlichen Raum zu beschränken und Verstöße hiergegen als Ordnungswidrigkeit auszugestalten.
„Zur Sache“ führt das OLG dann aus:
„bb) Der § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO vom 17.03.2020 in der zur Tatzeit geltenden Fassung zukommende Regelungsgehalt ist dabei durch Auslegung zu ermitteln.
(1) Bei der Auslegung einer Norm bildet der Wortlaut zugleich Ausgangspunkt und Grenze (BVerfGE 71, 108; 92, 1). Mit dem Begriff „Aufenthalt“ wird dabei nicht mehr als die zeitlich begrenzte Anwesenheit an einem Ort umschrieben (vgl. nur https://www.duden.de/rechtschreibung/Aufenthalt). Soweit § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO vom 17.03.2020 an den Aufenthalt mit anderen Personen anknüpft, ergibt sich daraus nicht ohne Weiteres, wie die Verbindung zwischen den beteiligten Personen sein muss, um diese Voraussetzung zu erfüllen. Denn dies erlaubt sowohl ein Verständnis, bei dem es auf eine räumliche Nähe und/oder aber eine innere Verbindung der Personen (vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 14.04.2020 – 19 K 1816/20 = BeckRS 2020, 5775) ankommt. Insoweit gibt auch die Zusammenschau mit § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO, der zu anderen Personen einen Mindestabstand von 1,5 Metern vorschrieb, keinen Aufschluss, weil sich dem Text – anders als etwa bei der Regelung der Abstands- und Kontaktregelungen in §§ 2, 9 der Corona-VO vom 23.06.2020 – kein eindeutiger Bestimmungsgehalt im Sinn eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses entnehmen lässt.
(2) Dem Amtsgericht ist danach beizupflichten, dass dem Gesetzeszweck entscheidende Bedeutung für die Bestimmung des Regelungsgehalts zukommt. Allerdings führt dies zu einem von der Bewertung des Amtsgerichts abweichenden Auslegungsergebnis.
Nach den bei Erlass der Verordnung bestehenden noch eingeschränkten wissenschaftlichen Erkenntnissen kam dem Einhalten eines räumlichen Abstandes zwischen den Menschen entscheidende Bedeutung zu, um eine Übertragung des Virus im Weg der Tröpfcheninfektion zu verhindern, wobei ein Abstand von 1,5 Metern als ausreichend erachtet wurde (und wird). Diesem Zweck diente nicht nur die Abstandsregel des § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO, sondern letztlich auch die mit der Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO angestrebte Kontaktbeschränkung. Dem wird ein Verständnis, wonach es für den Aufenthalt mit einer anderen nicht dem eigenen Haushalt zugehörigen Person allein auf eine innere Verbindung zwischen den Personen (im Sinn eines nicht nur zufälligen Zusammentreffens, VG Karlsruhe a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.) ohne Berücksichtigung des räumlichen Abstands ankommt, nicht gerecht.
Zwar wäre nach dem Wortlaut und dem systematischen Verhältnis zu § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO auch ein Verständnis möglich, wonach der Verordnungsgeber das Zusammenkommen mehrerer Personen allein deshalb verhindern wollte, weil dabei die Gefahr besteht, dass hinreichende Mindestabstände – wenngleich auch häufig unbeabsichtigt – gerade nicht verlässlich eingehalten werden. Als Hinweis auf einen entsprechenden Willen des Verordnungsgebers kann gesehen werden, dass in der ab dem 04.05.2020 geltenden Fassung der Corona-Verordnung durch § 9 Nr. 1 CoronaVO nicht mehr wie zuvor der Verstoß sowohl gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 CoronaVO als auch gegen das Abstandsgebot nach § 3 Abs. 1 Satz 2 CoronaVO, sondern nurmehr der Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 CoronaVO bußgeldbewehrt war.
Unabhängig davon, ob dies im Text der zum Tatzeitpunkt geltenden Verordnungsfassung hinreichend zum Ausdruck kommt, kann jedoch auch dann nicht auf eine räumliche Komponente verzichtet werden, da sonst auch Fallgestaltungen erfasst würden, bei denen keine Infektionsgefahr bestand, zum Beispiel, wenn sich zwei für sich genommen erlaubte Personengruppen auf der Straße begegneten und mit mehreren Metern Abstand zueinander (z.B. von einer Straßenseite zur anderen) unterhielten. Denn im Falle der verlässlichen Wahrung eines eine Übertragung der Krankheit ausschließenden Mindestabstands ist das Verbot einer Ansammlung nicht mehr zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich und damit nicht mehr von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt (OLG Hamm a.a.O.). Auch unter dem Gesichtspunkt der an eine Norm zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen (dazu OLG Oldenburg NdsRpfl 2021, 66) ist es nach Auffassung des Senats geboten, zur Bestimmung des Maßes der räumlichen Komponente auf die in § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO getroffene Bestimmung zurückzugreifen, der die wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde liegt, dass das Übertragungsrisiko bei Einhaltung eines Mindestabstandes von 1,5 Metern minimiert ist (ebenso AG Reutlingen COVuR 2020, 611; vgl. auch OLG Koblenz a.a.O.).
(3) Bestätigt wird dieses Auslegungsergebnis nicht zuletzt dadurch, dass der Verordnungsgeber in späteren Fassungen der Corona-Verordnung – so auch in der zum Urteilszeitpunkt geltenden Fassung – den gesetzestechnisch missglückten Regelungstext in diesem Sinn umgestaltet hat, ohne dass damit ersichtlich eine inhaltliche Änderung einhergehen sollte.
Diese Rechtsauffassung wird auch vom 1. Bußgeldsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe in einem nicht veröffentlichten Beschluss vom 04.02.2021 (1 Rb 21 Ss 833/20) – allerdings nicht tragend – geteilt.
2. Auf Grundlage dieser vom amtsgerichtlichen Urteil abweichenden Beurteilung der rechtlichen Grundlage kann das Urteil schon auf die Sachrüge keinen Bestand haben, so dass es auf die daneben erhobenen verfahrensrechtlichen Beanstandungen nicht mehr ankommt.
a) Bezüglich der Tat II. 2. des Urteils (angenommener vorsätzlicher Verstoß um 18:00 Uhr) ergibt sich schon aus den getroffenen Feststellungen nicht zweifelsfrei, dass es zu einer Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern gekommen ist.
b) Hinsichtlich der weiteren Tat II. 1. (angenommener fahrlässiger Verstoß um 16:20 Uhr) soll der Abstand nach den getroffenen Feststellungen zwar bei nur etwa einem Meter gelegen haben. Doch bestehen erhebliche Bedenken, ob diese Feststellung von der dazu vorgenommenen Beweiswürdigung getragen wird. Mit der Feststellung hat das Amtsgericht die Entfernungsangabe des Zeugen Bender übernommen, der diese jedoch ausdrücklich als Schätzung bezeichnet hat. Dies lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres mit den von ihm auf einem Lichtbild (AS. II 97) eingetragenen Standorten der beteiligten Personen in Einklang bringen, die dem Senat wegen der hierauf erfolgten Verweisung gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 3 StPO zugänglich sind. Nach Auffassung des Senats hätte es deshalb näherer Feststellungen zu den räumlichen Verhältnissen am Tatort bedurft. Jedenfalls bei einer im Grenzbereich liegenden Unterschreitung des nach der Rechtsauffassung des Senats maßgeblichen Mindestabstandes kann dies zudem Einfluss auf die Beurteilung des Schuldgehalts haben und sich damit auf die Bemessung des Bußgeldes auswirken.
Da es zweifelhaft erscheint, dass in einer neuen Hauptverhandlung überhaupt noch Feststellungen getroffen werden können, die eine Unterschreitung des Mindestabstandes von 1,5 Metern als Voraussetzung für eine Verurteilung belegen, und auf der Grundlage des Akteninhalts jedenfalls eine klare Unterschreitung des Mindestabstandes jeweils nicht vorgelegen haben dürfte, erscheint eine Fortsetzung des Verfahrens nicht sachdienlich. Bei dieser Sachlage könnte das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG (mit der Kostenfolge gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 1 StPO) beendet werden.“