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Der Rechtsmittelverzicht des nicht verteidigten Angeklagten – immer unwirksam?

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In der Rechtsprechung der OLG wird darum gestritten, ob im Fall der notwendigen Verteidigung der Rechtsmittelverzicht des nicht verteidigten Angeklagten immer unwirksam ist oder nur, wenn weitere Voraussetzungen hinzu kommen. In der Frage hat jetzt das KG Stellung bezogen und sich im KG, Beschl. v. 02.05.2012 – 4 Ws 41/12 – der – m.E. zutreffenden – Auffassung angeschlossen, die in diesen Fällen den Rechtsmittelverzicht immer als unwirksam ansieht. Dazu heißt es:

„b. Zwar ist ein Rechtsmittelverzicht grundsätzlich als Prozesserklärung unwiderruflich und unanfechtbar. Vorliegend fehlte es jedoch an der nach § 140 Abs. 2 StPO notwendigen Mitwirkung eines Verteidigers.

 Im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO gibt schon die Straferwartung von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers (vgl. Meyer-Goßner, StPO 54. Aufl., § 140 Rdn. 23 m.w.Nachw.); bei einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ist eine solche zwingend geboten. Damit war der Beschwerdeführer vor Abgabe der Prozesserklärung des Rechtsmittelverzichts ohne den bei der Verhandlung vor dem Jugendschöffengericht vorgeschriebenen Beistand eines Verteidigers; ihm fehlte folglich die rechtstaatlich unverzichtbare Rechtsberatung. Infolge dieser gravierenden, gemessen an den Anforderungen an ein faires Verfahren nicht hinnehmbaren Einschränkung der Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers muss sein Rechtsmittelverzicht als von Anfang an unwirksam gewertet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 2002 – 5 StR 617/01 –; OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2009 – 5 Ws 91/09 -; KG, Beschluss vom 18. Juli 2007 – 3 Ws 355/06 -) [alle bei juris]. Die Gegenmeinung (vgl. Hanseatisches OLG Beschluss vom 30. Januar 1996 – 1 Ws 29/96 -; Beschluss vom 17. Mai 2005  – 1 Ss 61/05 ; OLG Brandenburg Beschluss vom 7. Februar 2000 – 1 Ss 4/00 – [alle bei juris]), die im wesentlichen darauf abstellt, dass der eindeutig ausgesprochene Rechtsmittelverzicht nur in wenigen Ausnahmefällen angefochten werden kann und ein solcher nicht vorliegt, wenn der Angeklagte sich der Bedeutung und Tragweite seiner Entscheidung bewusst war, kann aus vorrangigen rechtsstaatlichen Gründen nicht überzeugen. Angesichts der Bedeutung der Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers ist deshalb auch unerheblich, dass er ausweislich des Protokolls mit dem Urteil zufrieden war und erst, als der Widerruf der Strafaussetzung drohte, an eine Einlegung eines Rechtsmittels gedacht hat (vgl. BGH aaO.).“

Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts auch beim „Deal“?

Nach der Neuregelung der Absprachepraxis in § 257c StPO wird unterschieden zwischen der Verständigung i.S. der StPO und dem sog. (unzulässigen) Deal. Unter ersterem versteht man eine Verständigung i.S. der StPO, bei der die gesetzlichen Vorgaben und Regeln eingehalten worden sind, unter letzterem eine Verständigung, die den gesetzlichen Vorgaben nicht entspricht. Fraglich und umstritten ist, ob auf den Deal auch die Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO  Anwendung findet. Mit der Frage setzt sich der OLG Celle, Beschl. v. 27.19.2011 –1 Ws 381/11 – auseinander. Die Ausführungen des OLG sind zwar „nicht tragend“, lassen aber die Auffassung des Senats deutlich erkennen:

Inwieweit die Regelung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO auf Verständigungen „praeter legem“ Anwendung findet, ist umstritten und derzeit obergerichtlich nicht entschieden (ausdrücklich offen gelassen in BGH, Beschl. v. 27. Oktober 2010, 5 StR 419/10, NStZ 2011, 473). Für zulässig erachtet hat der BGH die Rücknahme einer Revision, die am Tage der Verkündung gegen ein auf einer Verständigung beruhendes Urteil eingelegt wurde, binnen einer Stunde nach deren Einlegung (Beschl. vom 14. April 2010, 1 StR 64/10, BGHSt 55, 82). In den Entscheidungsgründen wird allerdings ausdrücklich betont, dass dies keine Umgehung der gesetzlichen Vorschriften sei, weil für den Angeklagten bei Einlegung und anschließender Rücknahme eines Rechtsmittels eine andere Entscheidungssituation gegeben sei als bei einer in der Hauptverhandlung u.U. vorschnell abgegebenen Verzichtserklärung.

Vereinzelt wird vertreten, dass die Regelung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO nur auf die Fälle einer Verständigung i. S. d. § 257c StPO bzw. solche Verständigungen, die zumindest die „Essentialia“ der Verständigungsordnung wahren, beschränkt sei, um die Rechtsunsicherheit nicht unnötig zu beeinträchtigen. So seien schon zuvor Verständigungen, die nicht gesetzlichen bzw. höchstrichterlichen Anforderungen genügten, für insgesamt unbeachtlich gehalten worden (Bittmann, wistra 2009, 414; ders. NStZ-RR 2011, 102ff.).

Diese Rechtsauffassung ist jedoch nur schwer mit der Entstehungsgeschichte der Norm des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO in Einklang zu bringen. Noch vor der gesetzlichen Regelung hatte der Große Senat für Strafsachen beim BGH am 3. März 2005 (BGHSt 50, 40) entschieden, dass ein Rechtsmittelverzicht nach unzulässigen Urteilsabsprachen, die eben einen solchen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand haben, unwirksam ist, wenn der Angeklagte zuvor nicht qualifiziert belehrt wurde. Nachdem im Gesetzgebungsverfahren diese qualifizierte Belehrung nach der Vorgabe des BGH als ausreichend erachtet wurde (Regierungsentwurf, BT-Drs 16/12310; Bundesratsentwurf, BT-Drs 16/4197), entschied sich der Gesetzgeber letztlich auf Empfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drs 16/13095) für die gänzliche Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts in der Form des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO. Zweck dieser Regelung war eine Ausdehnung der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts auf alle Urteile, denen eine Verständigung vorausging, nicht hingegen eine Einschränkung gegenüber der früheren Rechtsprechung.

Deswegen wird mit guter Begründung vertreten, dass die Regelung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO erst Recht auf solche Absprachen bzw. Verständigungen Anwendung finden muss, die den gesetzlichen Vorgaben des § 257c StPO nicht entsprechen und die es in dieser Form eigentlich gar nicht geben dürfte (so Kudlich, Gutachten zum 68. DJT, S. C 55f; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2630 m.w.N.)

Mich überzeugt es. Mal sehen, was andere Revisionsgerichte mit der Frage machen.

Ohne Verteidiger – Rechtsmittelverzicht unwirksam

Das OLG Naumburg, Beschl. v.19.09.2011 – 2 Ws 254/11 befasst sich mit einer die Praxis immer wieder beschäftigenden Frage, nämlich der Wirksamkeit des unverteidigten Angeklagten in den Fällen der notwendigen Verteidigung. Das OLG sieht diesen Verzicht als unwirksam an und erteilt damit den Stimmen in der Rechtsprechung eine Absage, die für die Annahme von Unwirksamkeit noch weitere Umstände erfordern. Dabei gibt er sogar frühere entgegenstehende Rechtsprechung des OLG Naumburg auf, wenn es heißt.

Zwar kann ein Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich nicht widerru­fen, angefochten oder sonst zurückgenommen werden. Indes ist die Verzichtserklärung unwirksam, wenn im Falle notwendiger Verteidigung kein Verteidiger mitgewirkt hat, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor über­eilten Erklärungen hätte abhalten können (Meyer-Goßner, a.a.O., § 302 Rn. 25a m.w.N. zur Rspr.). Der hiervon abweichenden Ansicht, in solchen Fällen setze die Un­wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zusätzlich besondere Umstände voraus, auf­grund derer Bedenken bestehen, dass der Angeklagte sich der Bedeutung und der Tragweite seiner Erklärung bewusst gewesen ist (OLG Hamburg, NStZ 1997, 53, 54; OLG Brandenburg, StraFo 2001, 136), ist entgegenzuhalten, dass § 140 Abs. 2 StPO nicht nur vor, sondern auch nach der Urteilsverkündung Bedeutung hat (KG, NStZ-RR 2007, 209; OLG Hamm, StV 2010, 67; Meyer-Goßner a.a.O.). Der in einer früheren Entscheidung vertretenen Ansicht des 1. Senats des Oberlandesgerichts Naumburg (NJW 2001, 2190) folgt der Senat aus dem genannten Grund nicht.“

Dass die Voraussetzungen für die Annahme notwendiger Verteidiger vorlagen – Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung – lag m.E. auf der Hand. Das ist ja nun schon was. Von daher verstehe ich das AG nicht, warum man den Rechtsmittelverzicht in einer solchen Situation überhaupt entgegen nimmt. Wenn schon kein Verteidiger, dann aber zumindest Abwarten und dem Angeklagten die Gelegenheit geben, sich seine Entscheidung zu überlegen.

Als „neuer“ Verteidiger muss man solche Entscheidungen auf dem berühmten „Schirm haben“. Der unwirksame Verzicht hat nämlich zur Folge, dass die Revision durchgeführt werden kann und auch wohl erfolgreich sein wird.

Der Rechtsmittelverzicht des unterbevollmächtigten Verteidigers

Das OLG Oldenburg sagt zum Rechtsmittelverzicht des unterbevollmächtigten Verteidigers im Bußgeldverfahren:

Ein unterbevollmächtigter Verteidiger kann in einer Bußgeldsache auch dann wirksam auf Rechtsmittel verzichten, wenn sich eine Vertretungsvollmacht im Zeitpunkt des Rechtsmittelverzichtes nicht bei der Akte befindet, eine Ermächtigung zum Verzicht aber erteilt worden war.

vgl. OLG Oldenburg, Beschl. v. 31.01.2011 – 2 Ss Bs 175/10.

Was denn nun? Verständigung ja oder nein – Widerspruch im Protokoll?

Aufgrund der die Protollfragen in Zusammenhang mit einer Verständigung regelnden neuen Vorschrift des § 273 Abs. 1a StPO muss sich aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ergeben, dass entweder eines Verständigung zustandegekommen ist (Abs. 1a Satz 1 und 2) oder, dass eine Verständigung nicht getroffen worden ist (sog. Negativattest in Abs. 1a S. 3). Sagt das Protokoll weder das eine noch das andere, ist es widersprüchlich und lückenhaft und verliert insoweit seine Beweiskraft. Diese zu erwartende Entscheidung kommt heute vom BGH in dem Beschl. v. 29.09.2010 – 2 StR 371/10, der, was die Bedeutung unterstreicht, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen ist.

In der Sache ging es (mal wieder) um einen Rechtsmittelverzicht, dessen Unwirksamkeit geltend gemacht worden ist. Wir befinden uns, wenn das Protokoll keine ausreichende Beweiskraft hat, im Freibeweisverfahren mit der Folge, dass – so auch der BGH – der Angeklagte, der sich auf die Unwirksamkeit eines von ihm erklärten Rechtsmittelverzichts wegen einer vorausgegangenen Verständigung beruft, wenn das Protokoll dazu schweigt, um dem Revisionsgericht eine Überprüfung im Freibeweisverfahren zu ermöglichen, im einzelnen darlegen muss, in welchem Verfahrensstadium, in welcher Form und mit welchem Inhalt die von ihm behauptete Verständigung zustande gekommen ist.