Pflichtverteidigungsfragen spielen in der Praxis eine erhebliche Rolle. Zu zwei Problemen aus diesem Bereich nimmt der OLG Celle, Beschl. v. 30.05.2012 – 32 Ss 52/12 – Stellung.
Zunächst geht es um die Frage der Beiordnungsvoraussetzungen. Insoweit bringt der OLG-Beschluss nichts Neues, sondern schließt sich der h.M. in Rechtsprechung und Literatur an, wenn es im Leitsatz dazu heißt: :
Es liegt gemäß § 140 Abs. 2 ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn neben den Rechtsfolgen für die verfahrensgegenständliche Tat sonstige schwerwiegende Nachteile für den Angeklagten infolge der Verurteilung zu gewärtigen sind. Zu diesen Nachteilen gehört ein drohender Bewährungswiderruf jedenfalls dann, wenn die zu erwartende Verbüßungsdauer der in früheren Verurteilungen verhängten Freiheitsstrafen ein Jahr überschreitet.
Interessanter dann schon der zweite Bereich, der angesprochen wird, nämlich die Frage der Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme durch den unverteidigten Angeklagten bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung. Das wird in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich gesehen. Das OLG schließt sich der – m.E. zutreffenden – Auffassung an, die in diesen Fällen immer von Unwirksamkeit ausgeht. Zur Begründung:
„Der Senat neigt der Auffassung zu, eine Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts bzw. der Rechtsmittelbeschränkung anzunehmen. Anderenfalls würde der gesetzgeberischen Wertung, dass ein Angeklagter jedenfalls in den Fällen der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO ohne Verteidigung zu einer sachgerechten Wahrnehmung seiner Verteidigungsinteressen nicht in der Lage ist, nicht ausreichend Rechnung getragen. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Unwiderruflichkeit von Verzichts- oder Rücknahmeerklärungen in Bezug auf ein Rechtsmittel.“
Im Übrigen ist der Beschluss ein schönes Beispiel dafür, dass immer die Sachrüge erhoben werden, weil dann der Urteilsinhalt ggf. herangezogen werden kann, „um eine unzulässige Verfahrensrüge zulässig zu machen.“
Zwar entspricht die von der Angeklagten erhobene Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO nicht den … Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, allerdings ist das Revisionsgericht nicht gehindert, bei der Prüfung einer Verfahrensrüge – wie hier §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO – bei zugleich erhobener (zulässiger) Sachrüge den Urteilsinhalt ergänzend zu berücksichtigen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 344, Rn. 20). …
Unter Heranziehung des Urteilsinhalts , insbesondere der dort aufgeführten Vorstrafen des Angeklagten, dürfte … das Revisionsgericht über die Tatsachen verfügen, die zur Prüfung der Frage erforderlich sind, ob der Angeklagten ein Pflichtverteidiger hätte beigeordnet werden müssen.“