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Pauschgebühr, oder: Ist sie durch das Doppelte der Wahlanwalthöchstgebühren gedeckelt?

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Als zweite Entscheidung bringe ich dann heute den OLG München, Beschl. v.01.06.2017 – 1 AR 209/17 -1 AR 222/17. Es geht in dem Verfahren, in dem er ergangen ist, um die Bewilligung eines Vorschusses auf eine demnächst zu gewährende Pauschvergütung. Nun, in meinen Augen ist Pauschvergütung beim OLG München schwer, m.E. fast unmöglich. So auch in diesem Verfahren, in dem es wegen der Zuständigkeiten zunächst ein wenig hin und her gegangen ist. Der Kollege hatte den Antrag nämlich zunächst beim BGH gestellt. Grund: Er vertritt 15 Nebenklageberechtigte in dem Ermittlungsverfahren des GBA wegen des „Oktoberfestattentats“ vom 26.09.1980, bei dem dreizehn Menschen ermordet und über 200 verletzt wurden. Der Kollege ist mit Beschlüssen der Ermittlungsrichterin beim BGH vom 8.9.2016 als Verletztenbeistand beigeordnet (§§ 406g Abs. 1. Abs. 3 S, 1 Nr. 1 StPO (a.F.), 397a Abs. 1 StPO). Für die Entscheidung über den Antrag des Kollegen hatte sich die Ermittlungsrichterin des Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 08.06.2016 für nicht zuständig erklärt (vgl. BGH, Beschl. v. 08.06.2016 – 3 BGs 197/16).

Vorschuss gibt es – natürlich – nicht:

2. Der somit (nur) in Betracht kommende Vorschuss setzt nach dem Wortlaut des § 51 Abs. 1 S. 5 RVG voraus, dass dem Rechtsanwalt „insbesondere wegen der langen Dauer des Verfahrens und der Höhe der zu erwartenden Pauschgebühr nicht zugemutet werden kann, die Festsetzung der Pauschgebühr abzuwarten“ (Hervorh OLG). Daran fehlt es.

a) Vorliegend ist der Antragsteiler seit knapp 35 Jahren für Geschädigte des Oktoberfestattentats tätig, Für seine Tätigkeit im vorliegenden Verfahren wurde er im Jahre 2008 – mithin vor 9 Jahren ¬(erneut) mandatiert. Nach eigenen Angaben hat er für seine Tätigkeit während des gesamten Zeitraumes keine Zahlungen erhalten. Bereits aus diesem Grund erscheint es für ihn nicht unzumutbar, die – nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens allerdings naheliegende – Festsetzung einer Pauschgebühr abzuwarten.

b) Ein Vorschuss ist ein Ausgleich dafür, dass der Pflichtverteidiger, während er das Pflichtverteidigermandat bearbeiten muss, keine oder nur unbedeutende Umsätze erzielen kann (zit. BVerfG. B. vom 01. Juni 2011 — 1 BvR 3171/10 — dort Rn. 37., juris) und dadurch in eine wirtschaftlich existenzgefährdende Lage gerät. Der Staat darf den hoheitlich in Anspruch genommenen Pflichtverteidiger nicht sehenden Auges in eine existenzgefährdende Situation bringen, indem er ihm den Vorschuss auf die mit Sicherheit zu erwartende Pauschvergütung vorenthält und ihn auf eigene Anstrengungen zur Beseitigung der Existenzgefährdung verweist (eilt. BVerfG a.a.O. Rn_ 39). Der Senat hält daher – unabhängig davon, ob eine reale ,Existenzgefährdung“ verlangt werden kann – jedenfalls Angaben des Antragstellers zu erheblichen Einschränkungen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit. als Rechtsanwalt, die er durch die Ausübung seines Pflichtmandats erlitten hat. für geboten Trotz eines entsprechenden Hinweises an den Antragsteller vom 08.02.2017 fehlt es daran vorliegend jedoch vollständig. Aus den vom Antragsteller vorgetragenen und glaubhaft gemachten bisherigen Tätigkeiten (mindestens 880 Stunden, entsprechend 110 Arbeitstage in 34 Jahren) ergibt sich jedenfalls keine Belastung, die ihn währenddessen an der Übernehme und Bearbeitung anderer Mandate nachhaltig und auf Dauer gehindert hätte.

c) Auch die Höhe des beantragten hohen Vorschusses geht im Übrigen fehl, da dieser die letztlich zu erwartende Pauschgebühr nicht überschreiten darf.

Eine solche ist zwar angesichts des exorbitanten Umfanges des überaus bedeutsamen Verfahrens und des glaubhaft gemachten, hohen Aufwandes des Antragstellers zu erwarten. Eine Pauschgebühr wird wegen der Vorschrift des § 42 Abs. 1 S. 4 RVG jedoch in der Regel das Doppelte der denn Wahlbeistand zustehenden Höchstgebühren nicht überschreiten können. Der Senat ist der Auffassung, dass die gesetzlich vorgesehene Höchstgrenze einer Pauschgebührenfestsetzung für Wahlverteidiger – nämlich eine Verdoppelung der Höchstgebühren – für Pflichtverteidiger (und -beistände) grundsätzlich nicht überschritten werden kann. Immerhin ist die Bestellung zum Pflichtverteidiger eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken. Dass der Vergütungsanspruch des Pflichtverteidigers unter den Rahmengebühren des Wahlverteidigers liegt, ist durch einen gemeinwohlorientierten Interessenausgleich gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit für den Pflichtverteidiger gewahrt ist. (vgl BVerfG, 06.11.198.2 BvL 16183, BVerfGE 68, 237 <253 ff>, Hervorh. OLG). Daraus folgt nach Auffassung des Senats, dass der Pflichtverteidiger und der bestellte Beistand jedenfalls nicht besser als Wahlverteidiger und Wahlbeistände gestellt werden können. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass Wahlverteidiger (anders als Pflichtverteidiger) gem. § 3a RVG eine höhere Vergütung vereinbaren können (Burhoff in Gerold/Schmitt, Komm. zum RVG, 22. Aufl., Rn. 41 zu § 51 m.w.N.), bei außergewöhnlich umfangreichen Verfahren auch vereinbaren werden und notfalls ein wirtschaftlich unzumutbares Wahlmandat beenden können. Vorliegend hat der Antragsteller jedoch – obwohl er vor seiner erst im Jahr 2016 erfolgten Bestellung über Jahrzehnte für eine Vielzahl von Mandanten tätig war – von einer solchen Vergütungsvereinbarung abgesehen und damit zu erkennen gegeben, dass ihm – jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt – die durch § 42 Abs. 1 S. 4 RVG beschränkten Maximalgebühren ausreichten.“

Zumindest wegen der Begrenzung der Pauschgebühr auf das Doppelte der Wahlanwaltshöchstgebühren in meinen Augen falsch. Andere OLG machen das auch anders. Aber die erwähnt man lieber erst gar nicht.

Unfallmanipulation I: Zu langsam und ohne Bremsen im und senkrecht in den Kreisverkehr

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Ich habe schon länger keine Entscheidungen mehr zum manipulierten Verkehrsunfall – früher habe ich ja immer „getürkter Unfall“ geschrieben, aber dann gibt es ja jetzt einen „Aufschrei“ – vorgestellt. Dazu hängen in meinem Blogordner zwei Entscheidungen, die ich dann heute vorstelle. Die erste ist das OLG München, Urt. v. 07.07.2017 – 10 U 4341/16.

Gegenstand der Verfahresn ist ein Unfall in einem Kreisverkehr. Das OLG hat dem Kläger keinen Schadensersatz zugesprochen. Es geht aufgrund der „zentralen Bedeutung“ der „Besonderheiten des Unfallhergangs“ und des eingeholten Sachverständigengutachten von einem „manipulierten Unfall“ aus, und zwar:

  • Die Kollisionsgeschwindigkeit des Pkws des Klägers betrug nur ca. 22 km/h. Eine “normale” Geschwindigkeit im Kreisverkehr liegt aber nicht nur bei 22 km/h, sondern im Bereich von ca. 30 bis 35 km/h.
  • Die Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagten-Pkws betrug nur ca. 20 km/h. Eine “normale” Einfahrtgeschwindigkeit liegt aber im Bereich von ca. 30 bis 35 km/h.
  • Für den Beklagten war der im Kreisverkehr herannahende klägerische Pkw ohne weiteres erkennbar; der Beklagte hätte durch eine normale Betriebsbremsung rechtzeitig vor der Haltelinie anhalten und die Kollision auf diese Weise vermeiden können.
  • Für den Kläger war die Kollision zwar nicht vermeidbar. Er hätte aber, auch ohne besondere Blickzuwendung nach rechts, erkennen können, wie sich der Beklagten-Pkw dem Kreisverkehr nähert und auch noch in einer Entfernung von einer Fahrzeuglänge vor der Haltelinie seine Geschwindigkeit nicht verringert. Dies wäre der Reaktionszeitpunkt für den Kläger (zum Einleiten einer Bremsung) gewesen; einer Blickzuwendung nach rechts, um den Beklagten-Pkw weiterhin zu sehen, hätte es für den Kläger erst später bedurft, als der Beklagten-Pkw in den Kreisverkehr einfuhr.
  • Besonders auffällig war für das OLG „der Kollisionswinkel: Dieser betrug nicht, wie es bei einer “normalen” Einfahrt des Beklagten zu 1) zu erwarten gewesen wäre, maximal 20°, sondern 65° bis 70° (vgl. S. 16/21 des Gutachtens = Bl. 97/102 d.A.). Der Beklagte zu 1) fuhr also nahezu senkrecht in den Kreisverkehr ein, was eine im Kreisverkehr erforderliche Kurvenfahrt nicht ermöglichte, wohl aber, bei dem Lenken des Beklagten zu 1) gleichsam zur Gefahr (dem herannahenden klägerischen Pkw) hin, die streitgegenständliche Kollision.“
  • Zusammenfassend meint das OLG, dass „hier kein anderer Eindruck entstehen [kann], als dass beide Unfallbeteiligte die Kollision geradezu suchten: Beide fuhren langsamer als normal. Der Unfallhergang war so zum einen leichter zu beherrschen. Zum anderen sollte dadurch das jeweilige Verletzungsrisiko minimiert werden. Eine noch geringere Geschwindigkeit wurde deswegen nicht gewählt, um den Unfall für mögliche Zeugen nicht allzu auffällig erscheinen zu lassen und um zum anderen für entsprechende Ersatzansprüche lohnende Schäden zu erzeugen.“

Es gibt zudem für das OLG keine Anhaltspunkte dafür, dass die beiden o.g. eklatanten Fahrfehler des Beklagten, das Unterlassen einer normalen Betriebsbremsung zur Vermeidung der Kollision sowie das Lenken zur Gefahr hin, nur auf Fahrlässigkeit beruhten. Und: „Wenn der Beklagte zu 1) also vorsätzlich handelte, stellt sich die Frage nach seinem Motiv: Ein solches wäre nicht ersichtlich, ginge man von einer fehlenden Unfallabsprache aus: ….“

Wenn der Motorradfahrer nur Turnschuhe trägt, oder: Mitverschulden?

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Urheber Anmab82

Noch ist es Sommer, aber er neigt sich dem Ende entgegen. Dem Ende entgegen neigt sich damit auch die Motorradsaison, da ja doch viele Motorradfans ihre Maschinen für den Winter stilllegen. Daher will ich dann noch schnell das OLG München, Urt. v. 19.05.2017 – 10 U 4256/16 – vorstellen. Es behandelt Fragen der Haftungsverteilung bei einer Kollision zwischen Pkw und Krad – insoweit bitte nachlesen. Hier soll es dann nur um die Frage gehen: Besteht eine Obliegenheit zum Tragen von Motorradstiefeln mit der Folge, dass ein Mitverschulden angenommen werden muss, wenn die nicht getragen werden?

Das OLG sagt nein und meint: Es gibt kein allgemeines Verkehrsbewusstsein, nach dem es für Motorrad innerhalb geschlossener Ortschaften erforderlich ist, Motorradstiefel zu tragen. Den Fahrer eines Motorrades trifft deshalb keine generelle, ein Mitverschulden begründende Obliegenheit, innerhalb geschlossener Ortschaften Motorradstiefel zu trage. Das entspricht der überwiegenden Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen, vor allem des BGH im BGH, Urt. v. 17.06.2014 – VI ZR 281/13 – zur Helmpflicht bei Fahrradfahrern:

„….

d) Der Einwand, der Berufungsbeklagte müsse sich gem. § 9 StVG i.V.m. § 254 I BGB ein Mitverschulden anrechnen lassen, weil er statt Motorradstiefeln unstreitig nur Turnschuhe trug, ist, wie auch bereits im Ersturteil zutreffend ausgeführt, unbegründet. Ob die streitgegenständlichen Verletzungen überhaupt durch das Tragen eines festeren Schuhwerks verhindert worden wären bzw. zumindest weniger schwerwiegend ausgefallen wären, kann daher dahin gestellt bleiben.

Es existiert gem. § 21 a II 1 StVO zwar eine gesetzliche Helmpflicht, aber keine darüber hinausgehende Pflicht, besondere Motorradschutzkleidung wie etwa Motorradstiefel zu tragen. Zwar ist allein deswegen eine Anspruchskürzung gem. § 9 StVG i.V.m. § 254 I BGB noch nicht ausgeschlossen. Ein Mitverschulden ist nämlich bereits dann anzunehmen, wenn der Verletzte diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Dass festere Schuhe grundsätzlich einen besseren Schutz bieten, ist allgemein bekannt. Allerdings liegen dem Senat keine belastbaren Zahlen vor, wonach es hinsichtlich der hier maßgeblichen Zeit des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls vom 06.11.2012 dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein (vgl. zur Bedeutung dieses Umstands BGH, Urteil vom 17.06.2014, Az.: VI ZR 281/13, juris) entsprochen hätte, dass es für Leichtkraftradfahrer innerhalb geschlossener Ortschaften erforderlich ist, Motorradstiefel zu tragen (vgl. – bzgl. Protektoren-Schutzkleidung – auch das umfassend begründete Urteil des LG Heidelberg vom 13.03.2014, Az.: 2 O 203/13, juris, mit zustimmender Anmerkung von Lang, juris). Inwieweit ein derartiges allgemeines Verkehrsbewusstsein grundsätzlich, bei jeder Art von Kraftrad und auch außerhalb geschlossener Ortschaften, derzeit fehlt, wie es das OLG Nürnberg in seinem Beschluss vom 09.04.2013, Az.: 3 U 1897/12, juris, ausführt, muss hier nicht entschieden werden. Das Urteil des Brandenburgischen OLG vom 23.07.2009, Az.: 12 U 29/09, juris, wiederum steht dem bereits deswegen nicht entgegen, weil es sich auf Schutzkleidung an den Beinen bezieht, nicht auf die Frage des Schuhwerks. Im Übrigen gilt diesbezüglich Folgendes: Nach der o.g. Rechtsprechung des BGH kommt es entscheidend auf das allgemeine Verkehrsbewusstsein an, wovon streng zu unterscheiden sind Aspekte wie das Verletzungsrisiko, der Erkenntnisstand hinsichtlich Schutzmaßnahmen oder Empfehlungen von Verbänden etc. Entscheidend sind vielmehr zureichend verlässliche Unterlagen wie Umfrageergebnisse, Statistiken und amtliche oder nichtamtliche Erhebungen. Dass das Brandenburgische Oberlandesgericht seine o.g. Entscheidung bzw. die Berufungsführer die Berufungsbegründung auf derartige Unterlagen gestützt hätten, ist demgegenüber nicht ersichtlich. Bloße Behauptungen wie „die meisten Motorradfahrer empfinden es heutzutage als eine persönliche Verpflichtung, mit Schutzkleidung zu fahren“ bzw. „jeder weiß, dass das Fahren ohne Schutzkleidung ein um ein vielfach höheres Verletzungsrisiko in sich birgt“ (vgl. das o.g. Urteil des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, juris, Rdnr. 18) vermögen die Heranziehung hinreichend belastbarer Unterlagen nicht zu ersetzen. Wie auch der BGH seinem o.g. Urteil vom 17.06.2014 hat der Senat nun zur Beurteilung der Frage, ob das Tragen von Motorradschutzkleidung dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entspricht, als Quelle die auf www.bast.de veröffentlichte amtliche Statistik der Bundesanstalt für Straßenwesen herangezogen. Demnach gibt es zwar tatsächlich eine Erhebung bzgl. des Tragens von Motorradschutzkleidung in Deutschland, und zwar auch bzgl. des hier relevanten Zeitraums, nämlich des Jahres 2012, wonach 53% aller motorisierten Zweiradfahrer ergänzend zum Helm Schutzbekleidung trugen. Die Zahl ist jedoch weitaus niedriger, soweit es um das Tragen einer kompletten Schutzkleidung geht: Eine solche trugen nämlich nur 21% aller motorisierten Zweiradfahrer. Hinzu kommt, dass diese Statistik sehr ungenau ist: Offen bleibt, was im Einzelnen unter einer „kompletten“ Schutzkleidung zu verstehen ist. Unklar ist weiter, welche Schutzkleidungsstücke im Einzelnen (nur Motorradschuhe oder nur Motorradhosen oder nur Motorradjacken oder auch nur Motorradhandschuhe oder etwa bestimmte Kombinationen?) von denjenigen getragen wurden, welche eine unvollständige Schutzkleidung trugen. Unklar ist, auf welche Jahreszeit(en) sich die Untersuchung bezog. Unklar ist schließlich, wie sich bei den Untersuchungen die doch sehr heterogenen Gruppen der „motorisierten Zweiradfahrer“ im Einzelnen jeweils zusammensetzten (Anteil der Mofa- bzw. Kleinkraftradfahrer? Anteil der Leichtkraftradfahrer? Anteil der größeren Maschinen?).

Auf eine solche Statistik aufbauend lässt sich nichts hinreichend Verlässliches hinsichtlich der hier entscheidenden Frage, ob es am Unfalltag, dem 06.11.2012, dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entsprach, mit dem streitgegenständlichen Leichtkraftrad auf der streitgegenständlichen Strecke nur mit Motorradschutzstiefeln zu fahren. Nachdem dem Senat auch keine weiteren Zahlen hinsichtlich des allgemeinen Verkehrsbewusstseins bzgl. der o.g. Fragestellung bekannt sind, kann hier der Vorwurf des Mitverschuldens nicht begründet werden.“

Hier dann zur Helmpflicht beim Fahrrad: Der Fahrradhelm beim BGH – hier geht es zum Volltext.

Pflichti III: Fair trial wegen Zeugenbeistand, oder: Nein, denn es gibt ja die StA

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Die dritte „Pflichtientscheidung“ kommt aus Bayern. Es ist der OLG München, Beschl. v. 02.05.2017 – 2 Ws 504/17, den ich vom Kollegen Nieberler aus München erhalten habe. Beantragt war die Bestellung eines Pflichtverteidigers in einem Verfahren wegen Beleidigung. Begründet worden ist der Beiordnungsantrag mit dem sog. „fair trial-Gedanken, allerdings hatte hier nicht der Verletzte einen Zeugenbeistand, sondern eine Zeugin. Das LG hatte die Beiordnung im Berufungsverfahren abgelehnt. Das OLG stimmt dem zu:

Es liegt weder ein Fall notwendiger Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 StPO vor, noch gebietet die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage gem. § 140 Abs. 2 StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Auf die in dieser Sache auch schon zum Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung im 1. Rechtszug ergangenen Entscheidungen wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Ein Recht auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers ergibt sich auch nicht aus dem Gebot des „fair trials“ in Fällen, in denen sich der Verletzte eines Zeugenbeistandes bedient. Zum einen bedient sich im vorliegenden Verfahren – wie das Landgericht in seiner Abhilfeentscheidung zutreffend ausgeführt hat – nicht der Verletzte, sondern eine Zeugin vom Hörensagen eines Zeugenbeistandes, auch wenn diese – als Mutter des Verletzten – eine Nähe zum Hauptbelastungszeugen hat.

Zum anderen teilt der Senat auch nicht den von der Verteidigung unter Berufung auf das OLG Celle (Beschluss vom 20.08.1999, Gz. 23 Ss 50/99, BecksRS 2000,1767) angenommenen Rechtssatz, dass in Konstellationen, in denen sich der Verletzte eines Zeugenbeistandes bedient, dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist. Die zitierte Entscheidung lässt bereits eine solche Auslegung nicht ohne weiteres erkennen. Es ist zudem verfassungsgerichtlich geklärt, dass das im Grundgesetz verankerte rechtsstaatliche Gebot fairer Verfahrensführung die Beiordnung eines Verteidigers für den Beschuldigten im Privatklageverfahren nicht schon deshalb fordert, weil der Privatkläger anwaltlich vertreten ist (BVerfG NJW 1983, 1599, beck-online). Erst recht muss dies für das Offizialstrafverfahren gelten, bei dem die übrigen verfahrensrechtlichen Garantien eines Angeklagten zusätzlich noch durch die ihrer Funktion nach auch zugunsten des Angeklagten tätig werdende Staatsanwaltschaft gesichert sind.

Die Möglichkeit, über einen Verteidiger Akteneinsicht nehmen zu können, braucht vorliegend nicht vertieft behandelt zu werden. Tatsächlich hat sich der Verteidiger mit Schriftsatz vom 07.09.2015 als Wahlverteidiger bestellt und Akteneinsicht beantragt, die ihm am 20.11.2015 gewährt wurde. Zuletzt wurde ihm am 12.01.2017 Akteneinsicht gewährt. Die Angeklagte verfügt daher über ihren Wahlverteidiger über umfassende Aktenkenntnis, die eine Schlechterstellung gegenüber der Zeugin bereits ausschließt. Da eine rückwirkende Bestellung als Pflichtverteidiger ausscheidet (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 141, Rn 8), kann die auf Akteneinsicht gerichtete anwaltliche Tätigkeit nicht zur Begründung des Antrags auf Beiordnung dienen,

Das nur über einen Anwalt bestehende Akteneinsichtsrecht genügt im übrigen für sich genommen nicht, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu begründen. Denn dies würde dazu führen, dass jedem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre und die Regelung des § 140 StPO damit ins Leere liefe. Eine solche Auslegung lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen und ist auch nicht verfassungsrechtlich geboten.

Der Gewährung von Akteneinsicht an den Zeugenbeistand ohne vorherige Anhörung der Angeklagten kommt keine für die Frage der Pflichtverteidigerbeiordnung – über das zur Akteneinsicht allgemein Gesagte hinausgehende – Relevanz zu.“

Nun ja…. „bei dem die übrigen verfahrensrechtlichen Garantien eines Angeklagten zusätzlich noch durch die ihrer Funktion nach auch zugunsten des Angeklagten tätig werdende Staatsanwaltschaft gesichert sind.“ Ja, in Bayern? 🙂

„Wir machen hier keinen Stuhlkreis“ II, oder: Schutz der Persönlichkeit des Bundesanwalts, im Volltext

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Urheber Holger.Ellgaard

Ich hatte vorhin über das NSU-Verfahren und den gestrigen Streit um die Zulässigkeit einer Bandaufnahme des Plädoyers des Vertreters der Bundesanwaltschaft berichtet (vgl. dazu hier „Wir machen hier keinen Stuhlkreis“, richtig, oder: Auch das NSU-Verfahren ist ein Strafverfahren). Inzwischen habe ich vom Kollegen Gransel aus München den gestrigen OLG München, Beschl. v. 19.07.2017 –  6 St 3/12 10 übersandt bekommen. Dafür besten Dank. Den Beschluss stelle ich dann mal hier ein.

„Die Anträge,

  1. die Schlussvorträge des Generalbundesanwalts akustisch aufzuzeichnen und den Antragstellern anschließend, d.h. vor deren Schlussvorträgen, einen Da­tenträger auszuhändigen und
  2. hilfsweise den Antragstellern zu gestatten, die Schlussvorträge des General­bundesanwalt zur jeweils ausschließlich internen Verwendung selbst aufzu­zeichnen,

werden abgelehnt.

Gründe:

I. Nachdem zu erwarten ist, dass die Antragsteller eine Verfügung des Vorsitzenden als unzulässig beanstanden werden, hat der Vorsitzende, um Verzögerun­gen zu vermeiden, von sich aus eine Entscheidung des Gerichts herbeigeführt, ohne dass vorher eine Beanstandung erfolgt ist (vgl. zu dieser Möglichkeit: Be­cker in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 238 Rdn. 26).

II. Gemäß § 169 Satz 2 GVG sind Ton- und Filmaufnahmen in der Hauptverhand­lung zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres In­halts unzulässig. Andere Tonaufzeichnungen, die nicht den genannten Zwe­cken dienen, sind von diesem Verbot nicht umfasst. Vielmehr liegt es im pflicht­gemäßen Ermessen des Tatrichters (vgl. BGH, NStZ 1982, 42, OLG Düssel­dorf, NStZ 1990,554), ob er eine derartige Tonaufnahme zulässt. Bei der Ermessenausübung ist den Grundsätzen über die Wahrung der Persönlichkeits­rechte der Verfahrensbeteiligten und der Wahrheitserforschungspflicht beson­deres Gewicht beizumessen (vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1990, 2898, vgl. Kis­sel/Meyer, GVG, 8. Auflage, § 169 Rdn. 74). Die in diesem Zusammenhang bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigenden Gesichtspunkte führten nach Durchführung einer Güterabwägung aller beteiligten Rechte und Interes­sen zur Ablehnung des Hauptantrags, weil eine Aufzeichnung des Plädoyers des Generalbundesanwalts gegen dessen Willen in das Persönlichkeitsrecht der einzelnen Vertreter der Bundesanwaltschaft eingreifen würde und eine Tonaufnahme für eine sachgerechte Verteidigung der jeweiligen Angeklagten und auch aus Fürsorgegesichtspunkten nicht erforderlich ist.

1. Die Aufnahme eines Plädoyers ohne Einverständnis der Vertreter des Generalbundesanwalts stellt einen Eingriff in deren Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) dar.

a) Artikel 2 Abs. 1 GG verbrieft jedem das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Dieses Grundrecht schützt auch Rechtspositionen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit notwendig sind. Dazu gehört in be­stimmten Grenzen, ebenso wie das Recht am eigenen Bild, das Recht am gesprochenen Wort. Deshalb darf grundsätzlich jedermann selbst und allein bestimmen, wer sein Wort aufnehmen soll sowie ob und vor wem seine auf einen Tonträger aufgenommene Stimme wie­der abgespielt werden darf (BVerfG, NJW 1973, 891,892).

b) Der objektive Gehalt der Ausführungen des Generalbundesanwalts steht auch entgegen der Auffassung der Antragssteller nicht derart im Vordergrund, dass die Persönlichkeit des Sprechenden vollends dahinter zurücktritt. Der Schlussvortrag. im vorliegenden Verfahren ist weder qualitativ noch inhaltlich vergleichbar mit den Fällen, in denen eine Aufnahme in der Regel ohne Eingriff in das Persönlichkeitsrecht erfolgen kann. Dabei handelt es sich um Fallkonstellationen, dass im Geschäftsverkehr Bestellungen oder Börsennachrichten fernmünd­lich durchgesagt werden und dann aufgenommen werden (vgl. dazu Leibholz/Rinck/Hesselberger, Grundgesetz, Art. 2 GG Rdn. 61).

c) Das Plädoyer im vorliegenden Verfahren wird nicht unerhebliches Interesse in der Öffentlichkeit finden. Bei realistischer Betrachtung ist es möglich, dass Aufnahmen von Versprechern oder ähnlichem unter Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Vertreter des Generalbun­desanwalts in die Öffentlichkeit gelangen und dort zum Thema ge­macht werden. Bei einer nur schriftlichen Fixierung des Vortrags ist ein derartiges Vorgehen nicht zu befürchten.

2. Argumente von solchem Gewicht, die für die Erforderlichkeit einer Auf­nahme des Schlussvortrags des Generalbundesanwalts sprechen und ei­nen Eingriff in das jeweilige Persönlichkeitsrechtg der Vertreter des Gene­ralbundesanwalts im Rahmen einer Güterabwägung rechtfertigen, sind ­unter besonderer Berücksichtigung des Vortrags der Antragsteller — nicht vorhanden.

a) Aus der § 244 Abs. 2 StPO zu entnehmenden Pflicht des Gerichts, die Wahrheit zu ermitteln, ergeben sich in der nun vorliegenden Pro­zesslage keine Folgerungen mehr, da die Beweisaufnahme abge­schlossen ist.

b) Zunächst ist festzuhalten, dass es bei einer Mitschrift der Ausführungen des Generalbundesanwalts, was auch die Antragsteller so se­hen, nicht auf den exakten Wortlaut ankommt: Weiter ist zu berück­sichtigen, dass es sich bei dem Plädoyer des Generalbundesanwalts um keinen neuen Tatsachenvortrag handelt. Bei einem Schlussvor­trag im Sinne des § 258 StPO wird vielmehr der Inhalt der Hauptver­handlung geordnet und zusammengefasst im Hinblick auf den An­klagevorwurf vorgetragen. An der mehrjährigen Hauptverhandlung haben aber die Antragsteller zumindest an der Mehrzahl der Hauptverhandlungstage persönlich teilgenommeri7E,abei mögen die im Plädoyer des Generalbundeanwalts vorgetragenen materiell-rechtlichen Bewertungen der Tatvorwürfe und die Ausführungen zu mögli­chen Rechtsfolgen durchaus komplex sein. Allerdings sind die An­tragsteller, allesamt erfahrene Verteidiger und Volljuristen, mit den angesprochenen Rechtsfragen seit Jahren vertraut und in die Mate­rie eingearbeitet, so dass sie aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer fachlichen Durchdringung der Problembereiche des Verfahrens in der Lage sind, dem Vortrag des Generalbundesanwalts auch ohne Tonaufnahme zu folgen.

c) Entsprechendes gilt für das den von den Antragstellern vorgebrachte Argument, nur bei einer Tonaufnahme könnten sie „ungestört von dem Erfordernis einer durchgängigen Mitschrift“ die Ausführungen des Generalbundesanwalts erfassen und nachvollziehen. Die An­tragsteller sind es von Berufs wegen her gewohnt, auch mündlichen Vortrag schnell und richtig zu erfassen, zu strukturieren und zusammen gefasst schriftlich niederzulegen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Erfassung des Schlussvortrags des General­bundesanwalts nicht um Ausführungen einer fachfremden Person, wie zum Beispiel eines psychiatrischen Sachverständigen mit seinem speziellen Fachvokabular handelt. Vielmehr sind die Ausführungen des Generalbundesanwalts in juristischen Strukturen und Diktion gehalten, woran die Antragsteller als professionelle Strafverteidiger ge­wohnt sind. Den Antragstellern ist es, falls sie es für nötig erachten, ohnehin unbenommen, im Sinne einer Binnenorganisation der Verteidigung einen Mitverteidiger vom Erfordernis der Mitschrift freizustellen, so dass sich dieser ausschließlich dem Erfassen des gesprochenen Wortes widmen kann.

d) Sofern die Antragsteller vortragen, die Tonaufnahme diene dem Zweck Fundstellenzitate im Plädoyer des Generalbundesanwalts „mit hinreichender Richtigkeitsgewähr“ zu dokumentieren, verfängt dieses Argument nicht. Der Generalbundesanwalt hat angeboten, Fundstellen, sofern diese überhaupt im Plädoyer vorkommen sollten, auf Nachfrage schriftlich zur Verfügung zu stellen.

e) Der Hinweis der Antragsteller, für die Tonaufnahme spreche auch, dass dann der „äußerst zeitaufwändige Abgleich von seitens der Ver­teidiger angefertigten Mitschriften“ entfallen könne, überzeugt nicht. Die Arbeit an einem Tondokument an einem anschließend ver­schrifteten Tondokument, welche den Vortrag in seiner Dauer 1:1 wiedergeben, erfordert erfahrungsgemäß mehr Zeit als ein Arbeiten mit zusammenfassenden Mitschriften.

f) Der Umstand, dass aufgrund des Umfangs des Verfahrens der Schlussvortrag des Generalbundesanwalts besonders umfangreich sein wird, trifft im Hinblick auf die Prognose des Generalbundesan­walts zum Dauer seines Plädoyers zu. Es mag nun für die Antragsteller., wie im Übrigen auch für das Gericht, aufwändig sein, den Schlussvortrag selbst schriftlich zu fixieren. Allerdings gehört das An­fertigen von Mitschriften in der Hauptverhandlung zum Berufsbild des forensisch tätigen Juristen und ist kein Argument für eine Aufnahme und damit einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Vertreter des Generalbundesanwalts.

g) Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass die gerichtliche Fürsorgepflicht gegenüber den Angeklagten eine Tonaufnahme des Schlussvortrags des Generalbundesanwalts erforderlich machen würde.

III. Die gestellten Hilfsanträge konnten nach Ausübung des pflichtgemäßen Ermes­sens ebenfalls abgelehnt werden:

1. Bei der Beurteilung macht es keinen Unterschied, ob die Aufnahme desPlädoyers des Generalbundesanwalts vom Gericht oder von den jeweili­gen Antragsstellern technisch umgesetzt wird.

2. Aus diesen Gründen gelten die Ausführungen zum Hauptantrag, auf die Bezug genommen, wird entsprechend. Nach Ausübung des pflichtgemä­ßen Ermessens wurden auch die Hilfsanträge abgelehnt.“

Mich überzeugt es nach wie vor nicht. Und die Belange der Angeklagten spielen kaum eine Rolle. Aber darüber berät man jetzt sicherlich aufgrund der gestrigen Diskussion/Gegenvorstellungen. Man möchte es natürlich revisionssicher haben.