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Bei der zweiten Entscheidung, auf die ich heute eingehe, handelt es sich – noch einmal – um den OLG Köln, Beschl. v. 12.06.2018 – 1 RVs 107/18, über den ich ja schon berichtet habe. Das Posting vom vergangenen Donnerstag bezog sich auf die Vollmachtsproblematik, die der Beschluss (auch) behandelt (vgl. hier Vollmacht II: Erlöschen der Vertretungsvollmacht, oder: Verteidiger aufgepasst.). Heute geht es um die im Beschluss auch angesprochenen Zustellungsfragen. Der Beschluss behandelt zwar eine Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO – also Strafverfahren, was ja an sich nicht in den „Kessel Buntes“ gehört. Die in dem Zusammenhang mit der Frage, ob dem Angeklagten die Ladung zum HV-Termin ordnungsgemäß zugestellt worden ist, er also, was Voraussetzung für die Berufungsverwerfung ist, ordnungsgemäß geladen war, angesprochenen Zustellungsfragen, haben aber über das Strafverfahren hinaus Bedeutung und passen also deshalb ganz gut in die samstägliche Berichterstattung.
Die Zustellung der Ladung zum Hauptverhandlungstermin ist nach den Gründen des OLG Beschlusses folgendermaßen erfolgt.
„a) Diese ist dem Angeklagten unter der im Rubrum angegebenen Anschrift in der Weise zugestellt worden, dass die Ladung selbst in einer Postfiliale hinterlegt und eine Benachrichtigung hierüber in den zu der Anschrift gehörenden Briefkasten eingelegt worden ist. Unter der Anschrift „H 1 – 3“ betreibt der X e. V., ein Verein zur Unterstützung von Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten, eine sog. „Wärmestube“, die als Anlaufstelle für ansonsten obdachlose Männer und Frauen vormittags Aufenthaltsmöglichkeiten, die Möglichkeit der Nahrungsaufnahme, Gesundheitsvorsorge, die Verwahrung von Wertsachen und namentlich auch die Erreichbarkeit durch Einrichtung einer Postadresse anbietet.
Dem zuvor obdachlosen Angeklagten, der am 30. März 2017 – ausschließlich, um eine im Vollzug nicht mögliche medizinische Anschlussbehandlung nach einem Herzinfarkt durchführen lassen zu können – aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, war im Haftverschonungsbeschluss aufgegeben worden, sich unverzüglich um eine Wohnung zu bemühen, entsprechende Bemühungen dem Gericht unaufgefordert nachzuweisen und die Adresse seiner gefundenen Wohnung mitzuteilen. Unter dem 10. April 2017 richtete der Abteilungsrichter an den Verteidiger die Anfrage, ob von dort die neue Anschrift des Beschuldigten mitgeteilt werden könne und versah diese Anfrage mit dem Zusatz: „Auf Ziffer a des Außervollzugsetzungsbeschlusses vom 28.03.2017 wird Bezug genommen“. Hiermit bezog er sich auf die vorstehend dargelegte Auflage. Mit Schriftsatz vom 21. April 2017 teilte der Verteidiger die „neue Anschrift“ wie im Rubrum angegeben mit. Freibeweisliche Ermittlungen der Berufungsstrafkammer im Hauptverhandlungstermin ergaben, dass der Angeklagte vom 10. April bis 28. Juli 2017 unter der angegebenen Anschrift eine Postadresse besaß.“
Das OLG sieht die Zustellung der Terminsladung als wirksam an. Es geht den Weg über § 37 Abs. 1 StPO i.V.m.§§ 178 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO, 181 Abs. 1 ZPO, § 181 Abs.1 S. 4 ZPO, also über die Gemeinschaftseinrichtung:
„aa) Bei der Wärmestube der X e.V. handelt es sich zunächst um eine vom Gesetz gemeinte Gemeinschaftseinrichtung, hierzu zählen grundsätzlich auch Obdachlosenunterkünfte (MüKo-StPO-Valerius, § 37 Rz. 27; SSW-StPO-Mosbacher/Claus, 3. Auflage 2018, § 37 Rz. 35).
bb) Der Angeklagte hat unter der Anschrift der Wärmestube auch im Zeitpunkt der Zustellung im Sinne der Zustellungsvorschriften „gewohnt“.
Der Begriff der Wohnung im Sinne des Zustellungsrechts ist geprägt durch das Interesse des Zustellungsveranlassers an zeitnaher Kenntnisnahme des Inhalts des zuzustellenden Schriftstücks durch den Zustellungsempfänger bei gleichzeitiger Wahrung der Belage des Adressaten. Diese gebieten es, im Ausgangspunkt auf die tatsächlichen Verhältnisse, d. h. dessen räumlichen Lebensmittelpunkt abzustellen. Nicht maßgebend ist daher der Wohnsitzbegriff des § 7 BGB oder die polizeiliche Meldung. Anknüpfungspunkt ist vielmehr die tatsächliche Benutzung einer Wohnungweil damit grundsätzlich auch die Möglichkeit einhergeht, in zumutbarer Weise von zugestellten Sendungen Kenntnis zu nehmen (so insgesamt MüKo-ZPO-Häublein, 5. Auflage 2016, § 178 Rz. 5 m N.; Wieczorek/Schütze-Rohe, ZPO, 4. Auflage 2013, § 178 Rz. 22). Für die Erfüllung des Begriffs „Wohnen“ ist es zwar typisch, nicht aber unabdingbar, dass der Zustellungsempfänger an der angegebenen Anschrift auch übernachtet (Stein/Jonas-Roth, ZPO, 23. Auflage 2016, § 178 Rz. 6; MüKo-ZPO-Häublein a.a.O.). Sieht – wie hier – die Gemeinschaftseinrichtung eine Übernachtungsmöglichkeit nicht vor, kann der Zustellungsadressat nach Auffassung des Senats daher dort gleichwohl seinen Lebensmittelpunkt im vorstehend gekennzeichneten Sinne haben.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist hier zunächst von Bedeutung, dass die Wärmestube postalische Erreichbarkeit als eine ihrer Leistungen anbietet. Der Angeklagte selbst hatte – über seinen Verteidiger – ohne jegliche Einschränkung seine „neue Anschrift“ mit der aus dem Rubrum ersichtlichen Adresse mitgeteilt (vgl. a. SSW-StPO-Mosbacher/Claus, a.a.O., § 37 Rz. 29). Dabei war umso mehr von einem „Wohnen“ auszugehen, als die entsprechende gerichtliche Anfrage auch ausdrücklich auf die auf die Wohnsitznahme abstellende Auflage aus dem Verschonungsbeschluss Bezug nahm. Entsprechend war denn auch die postalische Erreichbarkeit des Angeklagten bis Ende Juli 2017 – also auch im Zustellungszeitpunkt – unter dieser Anschrift gegeben, eine anderweitige Erreichbarkeit hingegen – namentlich auch angesichts der Obdachlosigkeit vor seiner Festnahme – nicht bekannt.
Dieser Befund wird nicht durch die weiteren mit der Revisionsbegründung vorgetragenen Umstände infrage gestellt. Dass der Angeklagte um den Zustellungszeitpunkt herum den Kontakt mit seiner Bewährungshelferin abbrach und auch der polizeilichen Meldeauflage nicht mehr nachkam, nötigt angesichts der noch bis Ende Juli 2017 bestehenden Postadresse nicht zu der Schlussfolgerung, dass er ab diesem Zeitpunkt auch seinen – im obigen Sinne gekennzeichneten – Lebensmittelpunkt nicht mehr unter der im Rubrum angegebenen Anschrift hatte. Zutreffend weist nämlich die Generalstaatsanwaltschaft darauf hin, dass dann mit einer früheren Auflösung der Postanschrift zu rechnen gewesen wäre.
Wollte man in dieser Frage anders entscheiden und davon ausgehen, der Angeklagte habe unter der Anschrift „H 1 – 3“ nicht im Sinne der Zustellungsvorschriften gewohnt, wäre zu bedenken, dass er in diesem Falle – das Vorliegen der Voraussetzungen Übrigen unterstellt – durch öffentliche Zustellung zur Berufungshauptverhandlung hätte geladen werden können und müssen. Den oben erwähnten Belangen des Zustellungsadressaten wird in höherem Maße Rechnung getragen, nimmt man demgegenüber an, der Angeklagte habe unter der angegebenen Anschrift gewohnt, bietet die Zustellung durch Niederlegung doch jedenfalls die Chance, dass ihn das zuzustellende Schriftstück auch tatsächlich erreicht……“
Fazit: Vielleicht hätte der Verteidiger auf die Anfrage besser geschwiegen. Dann wäre dem OLG die Argumentation mit: Über den Verteidiger selbst neue Anschrift mitgeteilt, nicht möglich gewesen. Ob es im Ergebnis etwas gebracht hätte, ist eine andere Frage, aber es hätte zumindest die Argumentation erschwert.