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Pauschgebühr von rund 1,9 Mio EUR beantragt, oder: Welche Tätigkeiten sind zu berücksichtigen?

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, ist der OLG Celle, Beschl. v. 10.12.2021 – 5 AR (P) 7/20. Thematik: Bei der Pauschgebühr nach kostenloser Umbeiordnung zu berücksichtigende Tätigkeiten. Pauschgebühranträge haben ja i.d.R. nur noch selten Erfolg. Um so erfreulicher ist es, wenn man dann mal, so wie hier, über einen erfolgreichen Antrag berichten kann, auch wenn der Pflichtverteidiger ganz erhebliche Abstriche gegenüber seinem Antrag hat hinnehmen müssen.

Folgender Sachverhalt: Der Rechtsanwalt war Pflichtverteidiger in einem Staatsschutzverfahren beim OLG wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a. Dem Angeklagten war am 09.11.2016 zunächst ein anderer Rechtsanwalt J zum Pflichtverteidiger bestellt worden. Daneben war seit dem 01.12.2016 auch Rechtsanwalt S. als Verteidiger mandatiert, seine Beiordnung als weiterer Pflichtverteidiger erfolgte am 27.07.2017. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten der Verteidiger über die weitere Verteidigungsstrategie nach Beginn der Hauptverhandlung erfolgte am 18.04.2018 auf Antrag des Angeklagten die Entpflichtung von Rechtsanwalt S. unter gleichzeitiger Beiordnung des antragstellenden Rechtsanwalt. Dieser hatte zuvor mit Schreiben vom 16.04.2018 erklärt, dass „der Staatskasse (…) durch die Umbeiordnung keine zusätzlichen Kosten entstehen“ werden.

Der Rechtsanwalt hat eine Pauschgebühr in Höhe von 1.950.470,00 EUR beantragt, was in etwa dem Neunfachen der Wahlanwaltsgebühren entsprach. Die Vertreterin der Landeskasse hat eine Pauschgebühr in Höhe 34.000,00 EUR (ca. 50 % der Differenz der Pflichtverteidigergebühren zur Wahlverteidigerhöchstgebühr) vorgeschlagen. Das OLG hat eine Pauschgebühr in Höhe von rund 30.000 EUR bewilligt.

Da es ein sehr umfangreicher Beschluss ist, stelle ich hier nur die Passage vor, in der das OLG zum Umfang der zu berücksichtigen Tätigkeiten Stellung nimmt:

„3. Die Sache hatte auch einen besonderen Umfang.

a) Nicht berücksichtigt werden kann dabei im Fall des Antragstellers allerdings die erstmalige Einarbeitung in die Ermittlungsakten und die allgemeine Vorbereitung auf die Hauptverhandlung.

Die Verfahrensakten hatten zwar einen weit überdurchschnittlichen Umfang. Hinzu kommt, dass der Antragsteller erst nach dem 44. Hauptverhandlungstag zum weiteren Verteidiger bestellt wurde und die ihm zur Verfügung stehende Einarbeitungszeit deshalb vergleichsweise kurz war.

Indes ist zu beachten, dass der Antragsteller mit Schreiben vom 16. April 2018 erklärt hat, dass „der Staatskasse (…) durch die Umbeiordnung keine zusätzlichen Kosten entstehen“ werden. Hierauf hat der Vorsitzende des 4. Strafsenats in seinem Umbeiordnungsbeschluss vom 18. April 2018 auch ausdrücklich abgestellt. Der Antragsteller hat dementsprechend im Rahmen der Kostenfestsetzung auf die Grundgebühr und die Verfahrensgebühren verzichtet.

Der Gebührenverzicht im Rahmen der Umbeiordnung ist zulässig und wirksam (vgl. KG, Beschluss vom 2. September 2016 – 4 Ws 125/16, StraFo 2016, 513; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Dezember 2015 – 2 Ws 582/15, NStZ 2016, 305; Volpert in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse [§§ 44, 45, 50], Rn. 2398; jew. mwN). Er wirkt sich auch auf die Bewilligung der Pauschgebühr aus. Wenn nämlich dem Pflichtverteidiger für einen Verfahrensabschnitt oder eine bestimmte Tätigkeit keine (gesetzlichen) Gebühren zustehen – sei es, dass eine Gebühr gar nicht entstanden ist, oder sei es, dass auf eine entsprechende Gebühr verzichtet worden ist –, kann dieser Verfahrensabschnitt oder diese Tätigkeit auch bei der Bewilligung einer Pauschgebühr nicht berücksichtigt werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2012 – III-5 RVGs 81/11, StraFo 2012, 161 m. Anm. Burhoff; Gerold/Schmidt/Burhoff, aaO § 51 Rn. 16; Burhoff in: Burhoff/Volpert, aaO, RVG § 51 Rn. 21; BeckOK RVG/K. Sommerfeld/M. Sommerfeld, § 51 Rn. 9).

Zwar wurde in der Rechtsprechung vereinzelt die Ansicht vertreten, dass ein Verzicht auf höhere gesetzliche Gebühren es nicht ausschließe, dass diese dem Verteidiger „dem Grunde nach zustehenden, aber aufgrund des Verzichts nicht zu beanspruchenden Gebühren“ bei der Bemessung einer Pauschgebühr und deren Berechtigung gleichwohl Berücksichtigung finden können (OLG Hamm Beschluss vom 18. August 2009 – 5 (s) Sbd. X – 65/09, BeckRS 2012, 7235). Diese Auffassung ist indes auf Kritik gestoßen (vgl. Burhoff aaO), und das Oberlandesgericht Hamm hat angedeutet, sie künftig nicht mehr zu vertreten (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2012 – III-5 RVGs 81/11, StraFo 2012, 161 m. Anm. Burhoff). Ob ihr im Hinblick auf eine mögliche Kompensation durch nicht entstandene Gebühren zu folgen wäre, kann hier indes dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls ist daraus nicht abzuleiten, dass der allgemein anerkannte Grundsatz der Vermeidung von Mehrkosten für die Staatskasse bei einem einvernehmlichen Pflichtverteidigerwechsel (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 143a Rn. 31 mwN) sich nur auf die Gebühren nach dem Vergütungsverzeichnis, nicht aber auf etwaige Mehrkosten durch eine Pauschgebühr bezieht. Zwar reichen im Falle einer kostenneutralen Umbeiordnung die durch den Mehrkostenbegriff geschützten Fiskalinteressen nicht weiter, als wenn der Beschuldigte den jetzt gewählten Verteidiger von vornherein bezeichnet hätte und dieser hätte beigeordnet werden können (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 6. Februar 2019 – 2 Ws 37/19, StraFo 2019, 263; OLG Oldenburg, Beschluss vom 21. März 2017 – 1 Ws 122/17, juris). Von dem Mehrkostenbegriff sind aber unzweifelhaft diejenigen Gebührenpositionen erfasst, die durch die Bestellung des neuen Pflichtverteidigers doppelt entstehen würden (OLG Celle aaO; Volpert in: Burhoff/Volpert, aaO, Umfang des Vergütungsanspruchs [§ 48 Abs. 1 S. 1], Rn. 2250 mwN). Das erfasst bei einem Verteidigerwechsel während der Instanz – wie hier – zunächst die Grundgebühr und die Verfahrensgebühren (vgl. Volpert aaO, Rn. 2249 mwN). In diesem Sinn „doppelt entstehen“ würde aber auch eine Pauschgebühr, deren Bewilligung an Verfahrensabschnitte oder Tätigkeiten anknüpft, die mit den – vom Verzicht eindeutig erfassten – Grund- und Verfahrensgebühren abgegolten werden. Es wäre zudem systemwidrig, die Bewilligung einer Pauschgebühr auf die Unzumutbarkeit von gesetzlichen Gebühren zu stützen, auf deren Auszahlung der Verteidiger verzichtet hat.“

Für den Rest müssen dann die Leitsätze reichen – Leitsatz 4 ist der des OLG, der Rest stammt von mir

    1. Die Bewilligung einer Pauschgebühr stellt die Ausnahme dar; die anwaltliche Mühewaltung muss sich bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls von sonstigen – auch überdurchschnittlichen Sachen – in exorbitanter Weise abheben.
    2. Ein Pauschgebührenantrag kann nur noch bedingt auf vor dem 1.7.2004 ergangene Rechtsprechung gestützt werden.
    3. Zur besonderen Schwierigkeit in Staatschutzverfahren.
    4. Ein zur Vermeidung von Mehrkosten für die Staatskasse bei Umbeiordnung erklärter Gebührenverzicht des Verteidigers wirkt sich auch auf die Bewilligung der Pauschgebühr aus. Da dem Pflichtverteidiger für die von dem Verzicht erfassten Verfahrensabschnitte oder Tätigkeiten keine gesetzlichen Gebühren zustehen, können diese Verfahrensabschnitte oder Tätigkeiten auch bei der Bewilligung der Pauschgebühr nicht berücksichtigt werden.
    5. Nur in Ausnahmefällen ist im Rahmen der Bemessung der Pauschgebühr eine Anhebung der dem Pflichtverteidiger gesetzlich zustehenden Terminsgebühr möglich. Dies kommt in Betracht, wenn an sich in die Hauptverhandlung fallende Vorgänge – etwa das Verlesen von Urkunden durch Anordnung des Selbstleseverfahrens – nach außen verlagert werden oder im Rahmen der Hauptverhandlung neue Unterlagen bekannt werden, die eine intensive Vor- oder Nachbereitung erfordern.
    6. Die Bejahung einer fast ausschließlichen Inanspruchnahme durch die Hauptverhandlung kommt unter Zugrundelegung einer fünftägigen Arbeitswoche grundsätzlich nicht schon bei Prozesswochen mit zwei ganztägigen Verhandlungen, sondern erst bei solchen mit jedenfalls drei ganztägigen Verhandlungen in Betracht.

Haftungsverteilung nach Zusammenstoß Bus/Pkw, oder: Wer haftet wie?

entnommen wikimedia.org

Die zweite Entscheidung, das OLG Celle, Urt. v. 10.11.2021, Az. 14 U 96/21 – behandelt dann noch einmal einen „Busunfall“. Nach dem Sachverhalt wollte der klagende Pkw-Fahrer an einem Linienbus linksseitig vorbeifahren. Gerade in dem Moment fuhr der Bus schräg nach links auf die Straße. Noch beim Anfahren des Linienbusses kam es zu einer Kollision zwischen beiden Fahrzeugen. Zwischen den Parteien war streitig, ob der Busfahrer vor dem Anfahren den linksseitigen Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, um sein Einfahren auf die Fahrbahn anzuzeigen.

Das LG war von einer hälftigen Schadensteilung ausgegangen. Die Berufung des Klägers hatte teilweise Erfolg. Das OLG hat den Schaden dann 25 zu 75 % verteilt:

„b) Im Rahmen der deshalb nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Zunächst ist das Gewicht des jeweiligen Verursachungsbeitrages der Kfz-Halter bzw. -Führer zu bestimmen, wobei zum Nachteil der einen oder anderen Seite nur feststehende, d. h. unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden dürfen, die sich auch nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVG § 17 Rn. 12). In einem zweiten Schritt sind die beiden Verursachungsanteile gegeneinander abzuwägen (Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19 –, Rn. 66 m.w.N., juris).

aa) Der Fahrer des Linienomnibusses hat gegen § 10 Abs. 1 StVO verstoßen, dessen Verschulden sich die Beklagte zurechnen lassen muss. Halter und Fahrer bilden insoweit eine Zurechnungseinheit (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVG § 17 Rn. 5). Den gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung konnte die Beklagte nicht erschüttern.

(1) Gem. § 10 Satz 1 StVO muss sich der Einfahrende vom Fahrbahnrand auf eine Fahrbahn so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Der Vorrang des fließenden Verkehrs gilt grundsätzlich auch gegenüber dem Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs.

Um derartigen Fahrzeugen, die an feste Fahrpläne und an die Einhaltung bestimmter Fahrzeiten gebunden sind, aber das Anfahren und Einordnen in den fließenden Verkehr zur Sicherstellung der zeitlichen Vorgaben zu erleichtern, bestimmt § 20 Abs. 5 StVO, dass diesen das Abfahren von gekennzeichneten Haltestellen zu ermöglichen ist und andere Fahrzeuge, wenn nötig, warten müssen.

Diese dem fließenden Verkehr auferlegte Verpflichtung schränkt den sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs insoweit ein, als dieser eine durch das Anfahren der Linienfahrzeuge entstehende Behinderung hinzunehmen hat (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 20 StVO Rn. 12 m.w.N.).

Diese Einschränkung des Vorrangs des fließenden Verkehrs gilt aber erst dann, wenn der Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs sein Vorhaben ordnungsgemäß und rechtzeitig angezeigt hat (§ 10 Satz 2 StVO). In diesem Fall muss sich der fließende Verkehr auf das Einfahren des Busses einstellen, eine Behinderung hinnehmen und nötigenfalls auch mit einer mittelstarken Bremsung anhalten (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 20 StVO Rn. 12 a.E.; BayObLG, Beschluss vom 22.2.1990 – 2 Ob OWi 519/89NZV 1990, 402, 403).

Bis zu der Ankündigung, die die Absicht in den fließenden Verkehr einzufahren mittels Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig anzeigt, bleibt auch in Bezug auf einen Linienbus das Vorrecht des fließenden Verkehrs bestehen. Dies hat zur Folge, dass der Anscheinsbeweis, der auf einen Verstoß gegen die in § 10 StVO normierten Sorgfaltsanforderungen schließen lässt, bis zur Betätigung eines Fahrtrichtungsanzeigers durch den Fahrer eines Linienomnibusses, auch gegenüber diesem gilt, wenn sich in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren eine Kollision mit dem fließenden Verkehr ereignet (a.A. KG Berlin in den Entscheidungen vom 24. Juli 2008 – 12 U 142/07 – und vom 1.11.2018 – 22 U 128/17, juris; sowie LG Saarbrücken, Urteil vom 05. April 2012 – 13 S 209/11, Rn. 13, juris, wonach keinem der Fahrer ein Verstoß nachgewiesen werden könne, was eine hälftige Schadensteilung nach sich ziehe).

Erst wenn der Fahrer des Linienbusses sichergestellt hat, dass den Anforderungen des § 10 Satz 2 StVO Genüge getan ist, also der Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig zuvor gesetzt war und nach Rückschau nicht anzunehmen ist, dass andere Verkehrsteilnehmer mehr als nur mittelstark bremsen müssten, entsteht sein Vorrecht gem. § 20 Abs. 5 StVO (vgl. BGH, Beschluss vom 06. Dezember 1978 – 4 StR 130/78 –, BGHSt 28, 218-224, Rn. 10, juris: in der Entscheidung stand allerdings fest, dass der Fahrzeuglenker des Linienomnibusses geblinkt hatte), was in der Folge den Anscheinsbeweis gegen den Einfahrenden entfallen lässt (vgl. Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 20 StVO (Stand: 27.04.2017), Rn. 39 m.w.N.).

Ist – wie hier – streitig, ob der Fahrer des Linienomnibusses den Fahrtrichtungsanzeiger überhaupt gesetzt hat, um seine Absicht, in den fließenden Verkehr einzufahren, anzukündigen, dann trifft ihn auch die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme seines Vorrechts tatsächlich vorliegen.

Denn § 20 Abs. 5 StVO erlaubt es nur unter der Voraussetzung einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Anzeige, das ansonsten bestehende Vorrecht anderer Verkehrsteilnehmer im fließenden Verkehr zu „missachten“. Wenn das Vorrecht des Fahrers eines Linienomnibusses aber erst ab der Anzeige gilt, muss er auch beweisen, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Vorrechts, einer Ausnahmeregelung in der Straßenverkehrsordnung, vorgelegen haben.

Eine andere Beweislastverteilung sieht die Straßenverkehrsordnung auch nicht bei anderen Ausnahmeregelungen vor, die ein Vorrecht zu Lasten des eigentlich bevorrechtigten Verkehrs begründen. Auch im Rahmen der Inanspruchnahme des § 38 Abs. 1 StVO trifft den Halter des Einsatzfahrzeuges die Darlegungs- und Beweislast für die Umstände, aus denen er die Berechtigung herleitet, das sonst bestehende Vorrecht anderer Verkehrsteilnehmer zu „missachten“ (BGH, Urteil vom 09. Juli 1962 – III ZR 85/61 –, BGHZ 37, 336-341; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. Juli 2011 – 4 U 23/11 –, Rn. 30; OLG Düsseldorf, Urteil vom 11. November 1991 – 1 U 129/90 –, Senat, Urteil vom 29. September 2010 – 14 U 27/10 –, Rn. 15, juris). Gem. § 38 StVO hat der Halter die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass Blaulicht und Horn rechtzeitig eingeschaltet waren und der Sonderrechtsfahrer seine verkehrsrechtlichen Sorgfaltspflichten erfüllt hat (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 38 StVO Rn. 9 m.w.N.; KG Berlin, Urteil vom 14. Juli 1997 – 12 U 1541/96 –, juris). Erst dann ist der Fahrer unter Beachtung größtmöglicher Sorgfalt berechtigt, sein Vorrecht wahrzunehmen. Kann er sein Vorrecht nicht beweisen, kann dies zur Alleinhaftung des Rettungswagenhalters führen (Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. Juli 2011 – 4 U 23/11 –, juris).

Die gleiche Beweislastverteilung ist auch im Rahmen des § 20 Abs. 5 StVO anzusetzen. Denn denjenigen, der sich auf ein Vorrecht beruft, trifft nach den allgemeinen Darlegungs- und Beweislastregeln auch die Obliegenheit, dessen Voraussetzungen darzulegen und ggf. zu beweisen (vgl. zu § 38 StVO: Wern, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 38 StVO (Stand: 12.06.2020), Rn. 23).

Dies ist der Beklagten nach den vorgenannten Maßgaben nicht gelungen. Nach dem nicht zu beanstandenden Ergebnis der Beweisaufnahme des Landgerichts konnte nicht geklärt werden, ob der Zeuge R. als Fahrer des Linienomnibusses seine Absicht, nach links in den fließenden Verkehr einzufahren, durch einen Fahrtrichtungsanzeiger angekündigt hat, bevor er in diesen eingefahren ist.

Die Beklagte konnte insoweit nicht beweisen, dass ihr das Vorrecht aus § 20 Abs. 5 StVO zugestanden hat. Der Anscheinsbeweis, der im Rahmen des § 10 StVO grundsätzlich für das Verschulden des Ein- oder Ausfahrenden spricht, wenn es in einem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Ein- oder Anfahren zu einem Unfall gekommen ist, bleibt daher bestehen.

(2) Der Beklagten ist indes kein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 StVO anzulasten, wonach beim Abbiegen eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs auszuschließen ist. Der Begriff erfasst jede Fahrtrichtungsänderung im Längsverkehr, bei der der Fahrzeugführer seine Fahrbahn nach der Seite verlässt oder auf ihr in einem Bogen die Gegenrichtung oder den gegenüberliegenden Straßenrand zu erreichen versucht (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 9 StVO (Stand: 07.08.2018), Rn. 8). Ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen (Gutachten vom 9.2.2021, Seite 8) war der Linienomnibus bei der Kollision noch nicht in den Längsverkehr eingeordnet gewesen, sondern dabei, von der Haltestelle anzufahren.

bb) Seitens des Klägers kann kein Verschulden an dem Verkehrsunfall festgestellt werden.

(1) Der Kläger hat nicht gegen § 20 Abs. 5 StVO verstoßen. Die Inanspruchnahme ihres Vorrechts ist durch die Beklagte nicht bewiesen worden (s.o.).

(2) Dem Kläger kann darüber hinaus auch kein Verstoß gegen § 20 Abs. 1 StVO angelastet werden. Danach ist an haltenden Omnibussen des Linienverkehrs nur vorsichtig vorbeizufahren. Vorsichtiges Vorbeifahren setzt in der Regel eine mäßige Geschwindigkeit voraus, die im Einzelfall, etwa wenn mit dem Heraustreten von Kindern zu rechnen ist, auch Schrittgeschwindigkeit bedeuten kann (Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 17. Juli 2007 – 4 U 338/06 – 108 –, Rn. 41, juris). Wenn es keine weiteren Anhaltspunkte gibt, die eine deutliche Geschwindigkeitsreduzierung bis zum Anhalten gebieten, kann unter einer vorsichtigen Fahrweise eine Geschwindigkeit von jedenfalls nicht mehr als 30 km/h verstanden werden (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 13. April 2010 – 9 U 62/08 –, Rn. 26, juris; KG Hinweisbeschluss v. 1.11.2018 – 22 U 128/17, BeckRS 2018, 33246 Rn. 17, beck-online; Spelz, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 20 StVO (Stand: 27.04.2017), Rn. 20).

Nach diesen Maßgaben ist ein Verschulden des Klägers nicht bewiesen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist der Kläger eine Ausgangsgeschwindigkeit von etwa 30 km/h gefahren (Gutachten vom 9.2.2021, Seite 12). Die Beklagte hat im Rahmen ihrer Berufungserwiderung ohnehin keinen Angriff geführt, der zu einer Quotenverschiebung zu Lasten des Klägers hätte führen können.

c) Bei einer vorzunehmenden Abwägung verbleibt auf Seiten des Klägers eine erhöhte Betriebsgefahr seines Kraftfahrzeuges, die mit 25% zu bemessen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann die allgemeine Betriebsgefahr durch besondere Umstände erhöht sein, was bei der Schadensteilung mit zu berücksichtigen ist (BGH, Urteil vom 27. Juni 2000 – VI ZR 126/99 –, Rn. 23, juris m.w.N.; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 17 StVG Rn. 11 m.w.N.). Erhöht ist die Betriebsgefahr, wenn die Gefahren, die regelmäßig und notwendigerweise mit dem Betrieb des Kraftfahrzeuges verbunden sind, durch das Hinzutreten besonderer unfallursächlicher Umstände vergrößert werden (Scholten, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 17 StVG (Stand: 28.03.2018), Rn. 21).

Dies war vorliegend der Fall. Bereits aus dem Wortlaut des § 20 Abs. 1 StVO folgt, dass an haltenden Linienomnibussen nur vorsichtig vorbeizufahren ist. Dies intendiert die gesetzgeberische Wertung, welche beinhaltet, dass es sich dabei um ein Fahrmanöver handelt, aus welchem eine abstrakt erhöhte Gefährlichkeit erwächst. Zu der dem Kraftfahrzeug ohnehin innewohnenden Betriebsgefahr von 20 % (st. Rspr. u.a. des Senats, vgl. etwa Urteil vom 15.05.2018 – 14 U 175/17 – juris, Urteil vom 27.09.2001 – 14 U 296/00 – juris) kommt insoweit ein weiterer gefahrträchtiger Umstand hinzu.

Dieser Umstand war auch erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden, ansonsten hätte er außer Ansatz bleiben müssen (vgl. BGH, Urteile vom 10. Januar 1995 – VI ZR 247/94, VersR 1995, 357 f.; vom 21. November 2006 – VI ZR 115/05, VersR 2007, 263 Rn. 15 m.w.N.; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 17 StVG Rn. 5 f. m.w.N.), was eine erhöhte Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs in dieser konkreten Unfallsituation rechtfertigt.

Ausgehend von der gesetzgeberischen Wertung einer abstrakten Gefährdungssituation hat sich diese ausgewirkt, indem es zu einer Kollision zwischen dem vorbeifahrenden klägerischen Fahrzeug und dem Linienbus gekommen ist, der in den fließenden Verkehr einfahren wollte. Der Kläger ist insoweit mit den gutachterlich festgestellten 30 km/h zwar noch „vorsichtig“ im Sinne des § 20 Abs. 1 StVO gefahren, so dass ihm kein Verschulden zur Last gelegt werden kann. Er hatte mit dieser Geschwindigkeit aber dennoch die Obergrenze der vom Gesetzgeber geforderten vorsichtigen Fahrweise erreicht, was sich in der konkreten Situation gefahrerhöhend niedergeschlagen hat. Denn er konnte mit der gefahrenen Geschwindigkeit nicht mehr unfallvermeidend reagieren, als der Linienbus zum Einfahren in den fließenden Verkehr angesetzt hat, und ist seitlich in den Linienomnibus hineingefahren.“

Und das dicke Ende kommt dann noch hinterher, oder: Dolmetscherkosten im Strafverfahren

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In Strafverfahren kommt das dicke Ende für ausländische Angeklagte häufig hinterher, wenn Wortprotokolle aus Telekommunikationsaufzeichnungen übersetzt werden musste. Denn das ist meist zeitintensiv und verursacht hohe Kosten, die dann der verurteilte Angeklagte ggf. zu tragen hat. Die damit zusammenhängenden Fragen haben dann auch im OLG Celle, Beschl. v. 05.11.2021 – 5 StS 2/20 – eine Rolle gespielt.

Gestritten worden ist um die Angemessenheit einer Dolmetschervergütung. Der antragstellende Dolmetscher wurde vom OLG in einem Staatschutzverfahren damit beauftragt, Telefongespräche in kurdischer (?) und türkischer (?) Sprache anhand von Audiodateien aus einer Telekommunikationsüberwachung in die deutsche Sprache zu übersetzen und schriftliche Wortprotokolle anzufertigen. Geltend gemacht worden sind für doe Jahre 2020 und 2021 insgesamt 19.770,184 EUR. In seinem Antrag hatte der Dolmetscher für die im Jahr 2020 erteilten Aufträge 247,36 Gesprächsminuten, für einen Auftrag aus dem Jahr 2021 setzte er 42,35 Gesprächsminuten an. Als Stundensatz machte er für die Aufträge aus 2020 75,00 EUR geltend. Den Mehrwertsteuersatz legte er einheitlich mit 19 % zugrunde.

Das OLG hat zunächst Stellung nehmen müssen zu der Frage, ob der Anspruch ggf. im Hinblick auf § 2 Abs. 1 Satz 3 JVEG erloschen war, weil der Dolmetscher die Antragsfrist versäumt hatte. Das hat das OLG verneint. Dazu nur der Leitsatz:

Die Verlagerung des Beginns der Erlöschensfrist für den Vergütungsanspruch nach § 2 Abs. 1 Satz 3 JVEG ist auch in Verfahren anzuwenden, in denen der Berechtigte mehrfach in unterschiedlichen Funktionen, etwa als Dolmetscher, Übersetzer und Sprachsachverständiger, herangezogen worden ist.

Zur Höhe führt das OLG dann aus:

„2. Hinsichtlich der Höhe der Vergütung ist zwischen dem Zeitraum vor und nach Inkrafttreten der Änderungen des JVEG am 1. Januar 2021 zu unterscheiden. Denn gemäß § 24 Satz 1 JVEG sind die Vergütung und die Entschädigung nach bisherigem Recht zu berechnen, wenn der Auftrag an den Sachverständigen, Dolmetscher oder Übersetzer vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung erteilt oder der Berechtigte vor diesem Zeitpunkt herangezogen worden ist.

a) Seit dem 1. Januar 2021 erhält der Übersetzer gemäß § 11 Abs. 4 Nr. 2 JVEG n.F. ein Honorar wie ein Dolmetscher, wenn die Leistung des Übersetzers darin besteht, aus einer Telekommunikationsaufzeichnung ein Wortprotokoll anzufertigen. Das Honorar des Dolmetschers beträgt gemäß der ebenfalls mit Wirkung zum 1. Januar 2021 in Kraft getretenen Änderung des § 9 Abs. 5 Satz 1 JVEG für jede Stunde 85 Euro.

Für die nach dem 1. Januar 2021 in Auftrag gegebenen Übersetzungen sind gemäß entsprechender Überprüfung anhand der Senatsakten die insoweit von dem Antragsteller in seiner Aufschlüsselung vom 13. September 2021 zutreffend angesetzten 42,35 Gesprächsminuten zugrunde zu legen. Der von dem Antragsteller veranschlagte Zeitaufwand von 45 Minuten pro Gesprächsminute entspricht dem insoweit anerkannten Maß (OLG Stuttgart aaO; OLG Hamm, Beschluss vom 21. Februar 2019 – 4 Ws 150/18, juris; Binz in: Binz/Dorndörfer/Zimmermann, JVEG 5. Aufl., § 11 Rn. 24). Er ist zur Überzeugung des Senats vor dem Hintergrund der Schwierigkeit der Übersetzungsaufgabe, insbesondere der stellenweise schlechten Tonqualität und undeutlichen Sprache sowie der Notwendigkeit, zum Verständnis der – in Teilen konspirativ geführten – Gespräche immer wieder verschiedene Gesprächsaufzeichnungen miteinander abzugleichen, nicht überzogen.

Mithin ergibt sich für die im Jahr 2021 beauftragten Übersetzungen folgende Berechnung:  42,35 x 45 Minuten = 1. 905,75 Minuten = 31,76 Stunden x 85 Euro = 2.699,60 Euro.

b) Für die vor Inkrafttreten der Neuregelung erteilten Aufträge berechnet sich die Vergütung hingegen nach einem Stundensatz von 70 Euro.

Grundlage der Berechnung ist insoweit § 9 Abs. 1 JVEG. Der Senat bewertet die Leistung des Antragstellers aufgrund ihrer strafprozessualen Einordnung und mit Blick auf die bereits oben dargelegten besonderen Anforderungen als Sachverständigentätigkeit. Gemäß § 9 Abs. 1 JVEG erhält der Sachverständige für jede Stunde ein Honorar, dessen Höhe sich nach der Zuordnung zu einer bestimmten Honorargruppe richtet. Der Senat ordnet das Anfertigen von Wortprotokollen aus Telekommunikationsaufzeichnungen, das nicht einem der in Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG aufgeführten Sachgebiete unterfällt, der Honorargruppe 2 mit einem Stundensatz von 70 Euro zu (ebenso OLG Stuttgart aaO; KG, Beschluss vomApril 2014 – 1 Ws 65/13, juris). Gestützt wird diese Einordnung auch dadurch, dass der Gesetzgeber mit der Änderung des JVEG für diese Übersetzerleistung das Honorar eines Dolmetschers vorsieht, welches nach § 9 Abs. 3 Satz 1 JVEG in der bis zumDezember 2020 gültigen Fassung für jede Stunde 70 Euro betrug. Der vom Antragsteller insoweit angesetzte erhöhte Stundensatz von 75 Euro ist nur bei Heranziehung für simultanes Dolmetschen veranlasst. Die Anfertigung von Wortprotokollen aus Audiodateien zeichnet sich im Gegensatz zum simultanen Dolmetschen aber dadurch aus, dass das schriftlich fixierte Ergebnis der Übersetzung wiederholt korrigiert werden kann (vgl. OLG Stuttgart aaO).

Für die bis zum 31. Dezember 2020 in Auftrag gegebenen Übersetzungen sind gemäß entsprechender Überprüfung anhand der Senatsakten die insoweit von dem Antragsteller in seiner Aufschlüsselung vom 13. September 2021 zutreffend angesetzten 247,36 Gesprächsminuten zugrunde zu legen. Der von dem Antragsteller veranschlagte Zeitaufwand von 45 Minuten ist auch hier nicht zu beanstanden.

Mithin ergibt sich für die im Jahr 2021 beauftragten Übersetzungen folgende Berechnung:   247,36 x 45 Minuten = 11.131,20 Minuten = 185,52 Stunden x 70 Euro = 12.986,40 Euro.“

Die Umsatzsteuer hat das OLG dann gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 JVEG  auf die gesamte Vergütung mit dem Steuersatz von 19 Prozent festgesetzt. Dabei hat es auf den Zeitpunkt der Vollendung der Leistungen abgestellt, der hier am 04.02.2ß21 gelegen hatte.

Pflichti III: Entpflichtung des Sicherungsverteidigers, oder: Wenn der Sicherungsverteidiger nicht gehen darf

Und als letzten Beschluss zur Pflichtverteidigung in 2021 dann noch der OLG Celle, Beschl. v. 21.12.2021 – 5 StS 1/21. Er betrifft ein Verfahren wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung u.a.. In dem hat das OLG den Angeklagten am 25.10.2021 verurteilt. Gegen das Urteil hat der Wahlanwalt Revision eingelegt.

Nun hat der dem Angeklagten vom OLG bestellte Sicherungsverteidiger Aufhebung seiner Bestellung beantragt. Dieser war dem Angeklagten am 02.03.2021 als zusätzlicher, zweiter Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Zur Begründung dieser Entscheidung hatte der OLG darauf verwiesen, dass der Umfang der gesamten Verfahrensakten einschließlich aller Beiakten mehr als 80 Leitzordner nebst weiteren umfangreichen Strukturakten umfasse. Zudem werde dem Angeklagten ein Verstoß gegen § 18 AWG beruhend auf einer tatsächlichen Konstellation des Tatverdachts zur Last gelegt, die bislang soweit ersichtlich weder durch die Obergerichte noch durch den BGH entschieden worden sei.

Das OLG hat die Entbindung abgelehnt:

„Der Antrag von Rechtsanwalt P ist unbegründet. Zur Sicherung der Durchführung des Verfahrens ist die Mitwirkung von Rechtsanwalt P als zusätzlicher Pflichtverteidiger trotz Verkündung des Urteils erster Instanz und der konkludent in dem Entpflichtungsantrag enthaltenen Erklärung, an der Revisionsbegründungschrift und dem anschließenden Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof nicht mitwirken zu wollen, weiterhin iS von § 144 Abs. 1 StPO „erforderlich“.

Gemäß § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem gewählten oder gemäß § 141 StPO bestellten Verteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist.“ Aus ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut ergibt sich, dass Prämisse und zentrale Voraussetzung dieser Norm – neben den weiteren Voraussetzungen des Falles einer notwendigen Verteidigung und der bereits erfolgten Beauftragung bzw. Bestellung eines Verteidigers – ist, dass die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers zur Sicherung der Durchführung des Verfahrens erforderlich, mithin notwendig sein muss Eine die Durchführung des Verfahrens beschleunigende Wirkung muss der Beiordnung, wie die Verwendung des Adjektivs „zügig“ vermuten lassen könnte, hingegen nicht zukommen. Der Gesetzgeber dürfte hier vielmehr seiner Hoffnung Ausdruck verliehen haben, dass durch die Beiordnung das Verfahren auch weiterhin „zügig“ durchgeführt werden kann. Soweit der Gesetzgeber beispielhaft „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens anführt, hat er sich ersichtlich eines Regelbeispiels bedient und dabei einen der Hauptanwendungsfälle benannt, in welchem die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers in Frage kommt (vgl. Senatsbeschluss v. 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, BeckRS 2020, 8474).

Die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO liegen trotz des nach Urteilsverkündung nunmehr absehbaren Abschlusses des Verfahrens erster Instanz weiterhin vor. Aufgrund der Tatsache, dass Rechtsanwalt E eine nicht beschränkte Revision eingelegt hat, kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil aufgehoben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung sowohl über den Schuld- als auch den Rechtsfolgenausspruch an einen anderen Senat zurückverwiesen werden könnte. In diesem Fall müsste dem Angeklagten, würde dem Antrag von Rechtsanwalt P entsprochen und dieser jetzt entpflichtet, jedenfalls wegen des vorstehend unter I. skizzierten Umfangs des Verfahrens eventuell erneut ein zusätzlicher Pflichtverteidiger bestellt werden. Ob Rechtsanwalt P, der sich zwischenzeitlich in das umfangreiche Verfahren eingearbeitet hat, in diesem Fall abermals als solcher zur Verfügung stünde, kann nicht verlässlich vorhergesagt werden. Wäre dies nicht der Fall, müsste sich ein anderer zusätzlicher Pflichtverteidiger vor einer erneuten Verhandlung erst in das sehr umfangreiche Verfahren einarbeiten, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer – durch die Aufrechterhaltung der Beiordnung von Rechtsanwalt P – vermeidbaren Verzögerung führen würde.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei dem vorstehend aufgezeigten Verfahrensgang lediglich um einen möglichen und – statistisch gesehen – weniger wahrscheinlichen Fall als den der Verwerfung der Revision handelt. Es reicht aus, dass der vorstehend aufgezeigte Verfahrensgang lediglich möglich ist. Rechtsanwalt P hat weder Umstände dargelegt noch sind solche erkennbar, aufgrund derer er im Falle der Aufrechterhaltung seiner Bestellung gewichtigere andere berufliche bzw. sonstige Verpflichtungen nicht einhalten könnte. Derartige Umstände könnten zwar die Erforderlichkeit der Mitwirkung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht berühren, wohl aber die Zumutbarkeit für Rechtsanwalt P, diese Aufgabe weiterhin wahrzunehmen.

Die Mitwirkung von Rechtsanwalt P ist somit weiterhin „erforderlich“ iS des § 144 Abs. 1 StPO und diesem auch zumutbar. Damit liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung seiner Bestellung nach § 144 Abs. 2 StPO, der in einem komplementären Verhältnis zu Abs. 1 steht, nicht vor. Für eine solche Auslegung des § 144 Abs. 1 und 2 StPO in Fällen der vorliegenden Art, in denen mithin aufgrund des Umfangs des Verfahrens ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist und gegen das Urteil erster Instanz ein nicht beschränktes Rechtsmittel eingelegt wurde, sprechen auch die mit dem Wortlaut der Norm zwanglos in Einklang zu bringende Motive des Gesetzgebers. Danach soll die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers dann aufzuheben sein, wenn die speziellen Voraussetzungen der Bestellung entfallen seien, was bei Bestellung zur Sicherung der Durchführung einer umfangreichen Hauptverhandlung „in der Regel erst mit deren Abschluss der Fall“ sei (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 50).

Die Bestellung von Rechtsanwalt P hat mithin fortzudauern. Sie würde bei unveränderter Sachlage gemäß § 143 Abs. 1 StPO erst mit dem „rechtskräftigen Abschluss“ des Verfahrens oder mit dessen Einstellung enden.“

Das kann ich nicht so ganz nachvollziehen. Warum denn jetzt noch einen Sicherungsverteidiger? Allein wegen der Möglichkeit der Aufhebung des OLG-Urteils durch den BGH? Das überzeugt mich nicht. Man kann ja, wenn der BGH aufheben sollte, den Pflichtverteidiger erneut bestellen. Dem entgegen zu halten, dass der ggf. nicht zur Verfügung steht, ist ein wenig viel „Blick in die Zukunft“-

Corona I: Unerlaubte private Zusammenkunft, oder: Bußgeldtatbestand in der Corona-VO bestimmt genug?

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Und in die 49. Woche geht es dann wieder mit zwei Entscheidungen zu „Coronafragen“. Ich würde lieber etwas zum Nikolaustag bringen, aber: Es lässt sich nicht ändern. Corona steht im Vordergrund.

Ich beginne mit dem OLG Celle, Beschl. v. 24.11.2021 – 2 Ss (OWi) 261/21. In der Entscheidung geht es um die Frage der Bestimmtheit von Bußgeldtatbeständen in der Niedersächsischen Corona-VO.

Das AG hatte gegen die Betroffene wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen §§ 6 Abs. 1, 19 Abs. 1 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30.10.2020 eine Geldbuße von 200 € festgesetzt.  Nach den Feststellungen des AH hat sich die Betroffene am 12.11.2020 in der Zeit von 20.10 Uhr bis 20.27 Uhr in ihrer Wohnung in der pp. in pp. mit neun weiteren Personen aufgehalten. Sämtliche in der Wohnung im genannten Zeitraum aufenthältigen Personen stammten aus unterschiedlichen Haushalten und waren nicht miteinander verwandt.

Zum Tatzeitpunkt galt die Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30.10.2020, geändert durch § 4 der Verordnung vom 06.11.2020 (Nds. GVBl. S. 380).

§ 6 Abs. 1 Niedersächsische Corona-Verordnung lautete zum Tatzeitpunkt wie folgt:

„Regelungen für private Zusammenkünfte und Feiern

(1) Private Zusammenkünfte und Feiern, die

  1. in der eigenen Wohnung oder anderen eigenen geschlossen Räumlichkeiten,
  2. auf eigenen oder privat zur Verfügung gestellten Flächen unter freiem Himmel wie zumBeispiel in zur eigenen Wohnung gehörenden Gärten oder Höfen oder
  3. in der Öffentlichkeit, auch in außerhalb der eigenen Wohnung zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten, stattfinden, sind nur mit Angehörigen im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB, mit Personen aus nicht mehr als zwei Hausständen sowie mit Kindern bis zu einem Alter von zwölf Jahren, insgesamt aber mit nicht mehr als zehn Personen zulässig.

(2) Private Zusammenkünfte und Feiern, die die in Absatz 1 genannten Anforderungen nicht erfüllen, sind verboten.“

Der Bußgeldtatbestand der zum Tatzeitpunkt geltenden Niedersächsischen Corona-Verordnung lautete wie folgt:

„§ 19 Ordnungswidrigkeiten

(1) Verstöße gegen die §§ 2 bis 10 und 14 bis 16 stellen Ordnungswidrigkeiten nach § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG dar und werden mit Geldbuße bis zu 25 000 Euro geahndet.“

Gegen dieses Urteil wendet sich die Betroffene mit der mit einem Zulassungsantrag verbundenen Rechtsbeschwerde. Sie rügt die Verletzung sachlichen Rechts und beanstandet insbesondere, dass § 19 der zur Tatzeit gültigen Niedersächsischen Corona-Verordnung dem Bestimmtheitsgebot nicht genüge.“

Das OLG hat die Rechtsbeschwerde, mit der u.a. die Unbestimmtheit der vom AG zugrunde gelegten Normen geltend gemacht worden sind – nach Zulassung und Übertragung auf den Senat – verworfen. Hier die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Die Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot dürfen bei Bußgeldtatbeständen wegen der weniger einschneidenden Unrechtsfolgen als im Strafrecht nicht überspannt werden.
  2. Der erforderliche Grad an gesetzlicher Bestimmtheit ist bei einem Bußgeldtatbestand, der in einer Verordnung zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 normiert ist, die im Oktober 2020 und damit zu Beginn der sog. „2. Covid19-Welle“ erlassen wurde, auch deshalb reduziert, weil die Vorschrift zur Bekämpfung einer Pandemie mit erheblichem Gefahrenpotential für die Volksgesundheit eingeführt wurde.
  3. § 19 der Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Oktober 2020 genügt unter Berücksichtigung dieser reduzierten Anforderungen dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG.

Im Übrigen: Selbstleseverfahren 🙂