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OWi I: Umsetzung von BVerfG 2 BvR 1616/18, oder: Bei den AG klappt es, bei den OLG nicht so richtig

Am zweiten Tag der Woche dann OWi-Entscheidungen.

Und ich beginne mit einigen Entscheidungen zur Umsetzung der Entscheidung des BVerfG v. 11.12.2020 – 2 BvR 1616/18.

Zunächst der Hinweis auf zwei amtsgerichtliche Entscheidungen, und zwar auf den AG Leverkusen, Beschl. v. 08.02.2021 – 55 OWi 120/21 (b), den mir die Kollegin Redmer-Rupp geschickt hat, und auf den AG Meiningen, Beschl. v. 21.01.2021 – OWi 1/21 -, den ich mir beim Kollegen Gratz „geklaut“ habe. In beiden Entscheidungen geht es um den Umfang des Einsichtsrechts des Betroffenen, das die AG bejahen und wozu sie im Einzelnen Stellung nehmen. Das AG Meiningen in einem – wie der Kollege Gratz zutreffend anmerkt – in einem ungewöhnlich langen Beschluss.

Und dann der Hinweis auf einen „Mauerbeschluss“ des BayObLG (wen wundert das noch?), und zwar auf den BayObLG, Beschl. v. 13.01.2021 – 202 ObOWi 1760/20 -, das meint:

Durch die bloße Versagung der Einsichtnahme bzw. die Ablehnung der Überlassung von nicht zu den Bußgeldakten gelangter sog. „Rohmessdaten“ wird das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) regelmäßig nicht verletzt, weshalb ein Grund zur Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht gegeben ist.

Dort zitiert man immer „schön“ das BVerfG und gibt so den Anschein, als wenn man ihm Folge. Tut man aber nicht.

Und als vierte Entscheidung dann in dem Zusammenhang hier dann noch der OLG Oldenburg, Beschl. v. 05.01.2021 – 2 Ss (OWI) 298/20 – zu den Anforderungen an die Verfahrensrüge, mit der der Betroffene geltend gemacht hatte, dass ihm von der Verwaltungsbehörde nicht alle angeforderten Unterlagen zur Verfügung gestellt worden waren. Die hatte keinen Erfolg (wen wundert es?), weil sie nach Auffassung des OLG nicht ausreichend begründet war:

„Im Rahmen der Begründung der Rechtsbeschwerde trägt der Betroffene hier vor, mit Schreiben vom 02.01.2020 bei der Bußgeldbehörde die Zurverfügungstellung der unverschlüsselten Rohmessdaten angefordert und einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt zu haben. Es folgt die Wiedergabe des in der Hauptverhandlung am 30.09.2020 gestellten Aussetzungsantrages, in Verbindung mit dem Antrag auf Zurverfügungstellung der Rohmessdaten.

Damit ist die Verfahrensrüge jedoch nicht ordnungsgemäß ausgeführt worden. Es fehlt die Mitteilung, ob und wie die Verwaltungsbehörde auf den Antrag auf Herausgabe der Rohmessdaten reagiert hat. Soweit der Betroffene bzgl. des Vorhandenseins von Rohmessdaten auf die Stellungnahme der Leivtec vom 16.7.2019 verweist, wonach Rohmessdaten „in Form der Auswerte-Start-Distanz, Auswerte-Ende-Distanz und Messzeit-Auswertestrecke“ gespeichert würden, finden sich diese Angaben nämlich bereits auf BI. 31 der VA. Auf BI. 32 dA befindet sich zudem das „Messprotokoll der Messreihe“. Welche vorhandenen Daten ihm darüber hinaus vorenthalten worden sein sollen, bleibt somit unklar. Hätte die Verwaltungsbehörde insoweit eine ablehnende Entscheidung getroffen, wäre gegen diese ohnehin erst danach ein Antrag nach § 62 OWiG in Betracht gekommen. Entscheidungen können nämlich nicht vor deren Erlass angefochten werden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.07.2018-IV-2RBs 133/18 unter Hinweis auf BGHSt 25,187). Vortrag hierzu fehlt ebenfalls.“

Hier hört man den Stein, der dem OLG vom Herzen gefallen ist, weil man sich auf die formale Seite zurückziehen konnte, recht deutlich.

OWi I: Informationszugang betreffend Messunterlagen, oder: Anträge rechtzeitig stellen

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Heute dann ein OWi-Tag. Und da ich im Moment eine Menge Material habe, gibt es auch mehr Entscheidungen als sonst.

Hier dann zum Auftakt zunächst zwei Entscheidungen zur Umsetzung des BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18. und zwar einmal das OLG Brandenburg und einmal das KG.

Beide habe in ihren Beschlüssen zur Frage Stellung genommen, wann der Informationsanspruch vom Betroffenen geltend gemacht werden muss. Dazu führt der OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.02.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 684/20 – aus:

„(3.) Selbst wenn sich die Verfahrensrüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren als zulässig erweisen würde, bliebe ihr der Erfolg versagt, da eine entsprechende Rechtsverletzung nicht zu besorgen ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 12. November 2020 (2 BvR 1616/18, abgedruckt in NZV 2021, 41 ff.) die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte zum so genannten standardisierten Messverfahren (grundlegend BGHSt 39, 291; BGHSt 43, 277; für PolyScanSpeed FM1 statt vieler: OLG Bremen, Beschluss vom 4. April 2020, 1 SsRS 50/19, zit. n. juris), die zu erheblichen Vereinfachungen im Beweisrecht und in den Urteilsgründen führen, bestätigt, dem Betroffenen dabei aber ein Zugangsrecht zu nicht in der Bußgeldakte befindlichen Informationen in gewissen Grenzen zuerkannt.

Bei Annahme eines standardisierten Messverfahrens bleibt der Anspruch des Betroffenen, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, nach höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung gewahrt, wenn dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet ist, das Tatgericht im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen (statt vieler vgl. BGHSt 39, 291, 300; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juli 2014, IV 1 RBs 50/14, zit. n. juris, dort Rn. 10). Durch das Stellen von Beweisanträgen, Beweisermittlungsanträgen und Beweisanregungen hat der Betroffene ausreichende prozessuale Möglichkeiten, weiterhin auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen. Für einen erfolgreichen Beweisantrag muss der Betroffene jedoch konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen, wohingegen die bloß allgemeine Behauptung, die Messung sei fehlerhaft gewesen, das Gericht – wie im vorliegenden Fall – nicht zur Aufklärung anhält (vgl. beispielsweise OLG Düsseldorf aaO.). Gleiches gilt für pauschale Behauptungen des Betroffenen „in‘s Blaue“ hinein, etwa, dass das Messgerät nicht richtig funktioniert habe, die Gebrauchsanweisung nicht eingehalten oder nachträglich Eingriffe an dem Gerät vorgenommen worden seien (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 3 StVO Rn. 56b m.w.N.). Um den Betroffenen jedoch in die Lage zu versetzen, konkrete Einwendungen gegen ein standardisiertes Messverfahren vorzubringen, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren, dass der Betroffene auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht hat, Kenntnis von solchen Unterlagen zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung der konkreten Ordnungswidrigkeit entstanden, aber nicht zur Verfahrensakte genommen worden sind (BVerfG aaO. Rn. 51 ff.).

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet dies allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten, da andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs besteht. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen. Die Verteidigung kann dabei grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind. Es kommt deshalb insofern nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet (BVerfG aaO. Rn. 56, 56). Die Rechtsprechungspraxis zum standardisierten Messverfahren und die Ablehnungsmöglichkeiten nach § 77 Abs. 2 OWiG begrenzen die Möglichkeiten der Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses unter Berufung auf die erlangten und ausgewerteten Informationen in zeitlicher Hinsicht. Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu (vgl. BVerfGE 63, 45, 67) er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen Zugang rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt, was von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist (BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020, 2 BvR 1616/18, abgedruckt in NZV 2021, 41 ff. Rn. 60 a.E.).

Im vorliegenden Fall hat der Betroffene erstmals in der Hauptverhandlung am 7. Oktober 2020 mit dem Beweisermittlungsantrag zugleich einen Antrag auf erweiterte Akteneinsicht gestellt, obwohl er hierzu nach Zustellung des Bußgeldbescheides vom 18. August 2019 weit über ein Jahr Zeit gehabt hatte; von einer „rechtzeitigen“ (BVerfG aaO.) Geltendmachung des Zugangsrechts von nicht bei den Verfahrensakten befindlichen Messdaten bzw. der Geltendmachung eines erweiterten Akteneinsichtsrechts kann daher keine Rede sein.“

Das KG macht es im KG, Beschl. v. 07.01.2021 – 3 Ws (B) 314/20 – ähnlich. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung:

1. Es ist höchstrichterlich geklärt, dass der Betroffene als Ausfluss seines Rechts auf ein faires Verfahren zwar Einsicht auch in solche Messunterlagen verlangen kann, die nicht Bestandteil der Verfahrensakten sind, sofern die hinreichend konkret benannten Informationen in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Vorwurf stehen und der Betroffene sie verständigerweise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.

2. Weiter ist anerkannt, dass dieses Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zusteht.

3. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens liegt allerdings nur dann vor, wenn sich der Betroffene im Bußgeldverfahren rechtzeitig, das heißt ohne schuldhaftes Zögern um die begehrten Unterlagen bemüht hat, seine Anstrengungen aber erfolglos geblieben sind.

4. Stellt der Betroffene einen Antrag auf Herbeischaffung von (Mess-) Unterlagen erstmalig in der Hauptverhandlung, ist dies regelmäßig verspätet. Denn er hätte einen entsprechenden Antrag in aller Regel schon nach Bekanntwerden des ihm zur Last gelegten Vorwurfs im behördlichen Verfahren, jedenfalls aber nach Bekanntgabe des Bußgeldbescheids stellen können.

Es handelt sich hier zwar um „Altfälle“, aber die Rechtsprechung wird sich an der Stelle nicht ändern. Also: Anträge rechtzeitig stellen

(Akten)Einsicht II: Nichtüberlassung von Messunterlagen, oder: Beschränkung der Verteidigung

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 27.09.2019 – 1 Rb 10 Ss 531/19, auf den mich der Kollege Gratz vom VerkehrsrechtsBlog hingewiesen hat. Auf dessen Homepage steht auch der Volltext der Entscheidung als PDF. Das hat mit den weiteren Ausführungen des OLG zur Verwendung eines Formulars durch den Amtsrichter zu tun.

Zur Nichtüberlassung von Messdaten-/unterlagen nimmt das OLG – unter Bezug auf seine frühere Rechtsprechung – dann noch einmal wie folgt Stellung:

Die Nichtüberlassung von Messdaten oder Messunterlagen, die der Betroffene zur Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, stellt eine Beschränkung der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG) dart, wenn insoweit ein Antrag auf Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung gestellt wurde.

Denn:

„Nach Ansicht des Senats wird die Verteidigung jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn der Betroffene schon bei der Verwaltungsbehörde und sodann vor dem Amtsgericht gemäß § 62 OWiG Antrag auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen weiteren amtlichen Messunterlagen erfolglos gestellt hat und sein erneuter, in der Hauptverhandlung gestellter und darauf gerichteter Einsichts- und Aussetzungsantrag durch Beschluss zurückgewiesen wurde und zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann. Gleiches gilt nach Ansicht des Senats dann, wenn der Betroffene – in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Verwaltungsbehörde das Zwischenverfahren vor Eingang des Antrags auf gerichtliche Entscheidung (gem. § 62 OWiG) bereits abgeschlossen und die Akten über die Staatsanwaltschaft an das Amtsgericht übersandt hat (gem. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG) — wenn der Betroffene nach Eingang der Akten beim Amtsgericht gegenüber dem Amtsgericht beantragt, ihm die nicht bei den Akten befindlichen weiteren amtlichen Messunterlagen zur Verfügung zu stellen oder durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung stellen zu lassen und das Amtsgericht diesen Antrag zunächst vor der Hauptverhandlung zurückweist und dann in der Hauptverhandlung den darauf gerichteter Einsichts- und Aussetzungsantrag durch Beschluss zurückweist und zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann.“

Und: In einer beim VerfG Rheinland-Pfalz anhängigen der Verfassungsbeschwerdesache wegen Einsicht in Messunterlagen, gelöschte Rohmessdaten etc. ist Termin bestimmt worden auf den 15.1.2020 beim VerfGH Koblenz.ich bin gespannt.

(Akten)Einsicht I: Beiziehung von Messunterlagen, oder: Warum wundere ich mich über das BayObLG nicht?

Der Tag heute ist mal wieder drei Entscheidungen zur Akteneinsicht im Bußgeldverfahren gewidmet. Alle Entscheidungen hängen schon etwas länger in meinem Blogordner. Ich bitte die „Einsender“ um Nachsicht.

Zunächst stelle ich den BayObLG, Beschl. v. 02.08.2019 – 201 ObOWi 1338/19 – vor. Ergangen ist er in einem Rechtbeschwerdeverfahren betreffend eine Abstandsunterschreitung.

Der Betroffene hatte mit seiner Rechtsbeschwerde u.a. auch die unterbliebene beiziehung verschiedener Messunterlagen beanstandet. Ohne Erfolg, das BayObLG bleibt auf der Linie, auf der sich früher auch das OLG Bambwerg bewegt hat:

„Soweit der Betroffene in diesem Zusammenhang die unterbliebene Beiziehung diverser Messunterlagen beanstandet, versagt die Verfahrensrüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung bzw. der Verletzung des allgemeinen Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren (st.Rspr.; rechtsgrundsätzlich neben OLG Bamberg DAR 2016, 337 zuletzt insbesondere OLG Bamberg NZV 2018, 425, jeweils m.w.N.; vgl. auch OLG Bamberg StraFo 2016, 461; DAR 2017, 715; NZV 2018, 80; ferner u.a. OLG Oldenburg ZfS 2017, 469 sowie Beschluss vom 23.07.2018 – 2 Ss [OWi] 197/18 bei juris; OLG Hamm, Beschl. v. 10.03.2017 – 2 RBs 202/16 bei juris; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 9.11.2017 – Ss Rs 39/2017 sowie vom 25.10.2017 – Ss Rs 17/2017 beide bei juris und vom 15.11.2017 – 1 OWi 2 SsBs 52/17 [unveröffentlicht]; OLG Zweibrücken NStZ-RR 2018, 156; OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.05.2018 – 4 Rb 16 Ss 380/18 sowie OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07.2018 – 1 OWi 6 SsBs 19/18 bei juris; aus dem Schrifttum wie hier u.a. BeckOK/Hettenbach OWiG [20. Edit.-Stand: 01.10.2018] § 71 Rn. 79 a; Röß NZV 2018, 507 ff. und Hannich, in: FS für Thomas Fischer [2018], S. 655 ff., insbesondere S. 666 f., 670 f. m.w.N.). Vielmehr handelt es sich bei Anträgen auf Beiziehung entsprechender Unterlagen um Beweisermittlungsanträge, deren Ablehnung regelmäßig nur unter Aufklärungsgesichtspunkten (vgl. § 244 Abs. 2 StPO bzw. § 77 Abs. 1 OWiG) gerügt werden kann. Der gegenteiligen, mit der st. Rspr. des BVerfG und des BGH in Begründung und Ergebnis nicht vereinbaren Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (Beschl. v. 27.04.2018 – Lv 1/18 = NZV 2018, 275) kann aus den bereits vom OLG Bamberg insbesondere in seiner Entscheidung vom 13.06.2018 (NZV 2018, 425) dargelegten Gründen nicht gefolgt werden. Hieran ist auch in Ansehung der im Schrifttum erhobenen Kritik (u.a. Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541 ff.; Wendt NZV 2018, 441 ff.; Leichthammer NJW 2018, 3760 ff. und Grube in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht [2016], OWiG-Bezüge zum Straßenverkehrsrecht, Rn. 152.2 [Aktualisierung vom 12.12.2018]) festzuhalten. Anlass zu einer Divergenzvorlage an den BGH besteht weiterhin nicht (vgl. hierzu OLG Bamberg NZV 2018, 80).“

Warum wundert mich das nicht?

OWi I: Einsicht in aktenfremde Messunterlagen, oder: Nichts Neues aus Berlin

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Heute dann ein OWi-Tag. Und den eröffne ich mit dem KG, Beschl. v. 02.04.2019 – 3 Ws (B) 97/19 – zur Einsicht in aktenfremde Messunterlagen. Ich bringe den Beschluss ur zur Abrundung, denn: Nichts Neues aus Berlin:

„Der Senat merkt ergänzend an:

Dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde bleibt der Erfolg versagt, weil er nicht die besonderen Zulassungsvoraussetzungen von § 80 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 OWiG erfüllt.

1. Mit seiner Auffassung, dass ihm verwehrt worden sei, die „Lebensakte“, den Schulungsnachweis des Messbeamten sowie Daten zur Messreihe nebst Verschlüsselungsnachweis zugänglich zu machen, begründe einen Verstoß gegen sein Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör und seine Rechtsbeschwerde sei deshalb nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, dringt der Betroffene nicht durch.

a) Zwar ist im Ansatz zutreffend, dass der Verteidiger, soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen kann, die sich nicht bei den Akten befinden (vgl. BGHSt 39, 291; 28, 239; Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541; DAR 2014, 2; König DAR 2018, 361,368). Denn die Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen (vgl. Cierniak/Niehaus a.a.O.). Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (vgl. Senat DAR 2013, 211). Solch weitreichende Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert, und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (vgl. BGHSt 39, 291; Cierniak/Niehaus a.a.O.;Cierniak zfs 2012, 664).

Das daraus folgende Recht auf einen „Gleichstand des Wissens“ und auf Zugang zu den jedenfalls den Betroffenen betreffenden Messdaten ist jedoch nicht Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet, dass der Beschuldigte im Strafverfahren Gelegenheit erhält, sich zu dem einer Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt grundsätzlich vor deren Erlass zu äußern und damit das Gericht in seiner Willensbildung zu beeinflussen. Es dürfen einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen der Beschuldigte Stellung nehmen konnte (BVerfGE 57, 250 (273 f); std. Rspr.). Art. 103 Abs. 1 GG will verhindern, dass das Gericht ihm bekannte, dem Beschuldigten aber verschlossene Sachverhalte zu dessen Nachteil verwertet. Sein Schutzbereich ist hingegen nicht mehr berührt, wenn die davon zu unterscheidende Frage zu beantworten ist, ob das Gericht sich und den Prozessbeteiligten Kenntnis von Sachverhalten, die es selbst nicht kennt, weil sie ihm nicht unterbreitet wurden, erst zu verschaffen habe; denn es ist nicht Sinn und Zweck grundgesetzlicher Gewährleistung rechtlichen Gehörs vor Gericht, dem Beschuldigten Zugang zu dem Gericht nicht bekannten Tatsachen zu erzwingen. Auch wenn man unterstellt, dass der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör ihm – unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen auch immer – ein Recht auf Kenntnis von Akteninhalten einräumt, ist dieses Recht daher jedenfalls beschränkt auf die dem Gericht tatsächlich vorliegenden Akten (vgl. BVerfGE 63, 45). Einen Anspruch auf Erweiterung der Gerichtsakten vermittelt Art. 103 GG Abs. 1 nicht (vgl. Senat StraFo 2018, 383; DAR 2017, 593; Cierniak/Niehaus DAR 2018, 361; 2014, 2; zfs 2012, 664). Der hier einschlägige Grundsatz der „Waffengleichheit“, der dem Betroffenen die Möglichkeit verschafft, sich kritisch mit den durch die Verfolgungsbehörden zusammengetragenen Informationen auseinanderzusetzen, hat seinen Ursprung vielmehr im Recht auf Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK (vgl. Senat, Beschluss vom 6. August 2018 – 3 Ws (B) 168/18 – juris; StraFo 2018, 472; OLG Brandenburg NZV 2017, 144; Cierniak/Niehaus a.a.O. und NStZ 2014, 526; König a.a.O.; zur Einsichtnahme in Spurenakten vgl. BVerfG a.a.O.). Davon zu unterscheiden ist die Möglichkeit, sich mit etwaig aus den begehrten Unterlagen gewonnenen Erkenntnissen bei Gericht rechtliches Gehör zu verschaffen. Zusammengefasst hat das fair trial-Prinzip das Recht auf Informationszugang zum Gegenstand, Art. 103 Abs. 1 GG das Recht auf prozessuale Informationsverwertung (insoweit zu undifferenziert saarl. VerfGH NZV 2018, 275).

b) Soweit der Betroffene die Auffassung vertritt, er sei auch deswegen in seinem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil das Amtsgericht seine Anträge auf Beiziehung der oben genannten Unterlagen, auf Aussetzung des Verfahrens und auf Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens zu Unrecht abgelehnt habe, übersieht er, dass es in so gelagerten Fällen eines weiteren Vortrages dazu bedarf, was die behauptete Rechtsfehlerhaftigkeit über einen Verstoß gegen Rechtsnormen über das Verfahren hinaushebt und ihr das besondere Gewicht der Versagung des rechtlichen Gehörs verleiht. Bei einer behaupteten Verletzung solcher Vorschriften wäre ein Verstoß gegen das rechtlichen Gehör nur dann gegeben, wenn der Beweisantrag ohne nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückführbare Begründung abgelehnt worden wäre und seine Zurückverweisung unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken sich aufgrund besonderer Umstände als nicht mehr verständlich und daher willkürlich darstellen würde (vgl. BVerfG aaO; Senat VRS 130, 216; Beschlüsse vom 8. Juni 2010 – 3 Ws (B) 280/10 – und 21. Mai 2010 – 3 Ws (B) 253/10 -; OLG Hamm VRS 114, 290, 291 f.; NZV 2006, 217, 218).

Eine solche Willkürentscheidung ist hier nicht ersichtlich. Die Ablehnung der Anträge war vertretbar.

2. In der Folge sind die erhobenen Verfahrensrügen nach Maßgabe von § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht entzogen. Für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs von § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG auf Fälle von Verstößen gegen das fair trial-Prinzip (vgl. Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 543) ist schon angesichts des eindeutigen Wortlauts kein Raum (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 25. Oktober 2017 – Ss Rs 17/2017 – juris; a.A. Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 17. Aufl., § 80 Rdn. 16e). Eine derartige Ausweitung der Möglichkeit obergerichtlicher Überprüfung steht allein dem Gesetzgeber zu (vgl. Hadamitzky in KK-StPO 5. Aufl., § 80 Rdn. 40 m.w.N.).