„Die Beschwerde ist in der Sache auch begründet. Die an die Verfahrensbeteiligten gerichtete Anordnung des Vorsitzenden, einen tagesaktuellen Schnelltest durchführen zu lassen, findet keine ausreichende gesetzliche Grundlage, obwohl sie einer solchen wegen ihres Eingriffs in das Recht der Verfahrensbeteiligten auf Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) bedarf. Eine solche findet sich weder in § 176 Abs. 1 GVG noch in den landesrechtlichen Bestimmungen zur Eindämmung des Coronavirus, noch im Infektionsschutzgesetz (IfSG).
Nach § 176 Abs. 1 GVG obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung dem Vorsitzenden des Gerichts. Die Norm dient nach ständiger Rechtsprechung in Zeiten der Corona-Pandemie als taugliche Rechtsgrundlage für die Anordnung des Vorsitzenden zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in der Sitzung (vgl. nur OLG Celle, Beschl. v. 15.04.2021 – 3 Ws 91/21; LG Frankfurt a. M., Beschl. v. 05.11.2020 — 2-03 T 4/20). Diese Vorschrift soll die Wahrung der Ordnung in der Sitzung sicherstellen und ermächtigt zu den Maßnahmen, die erforderlich sind, um den störungsfreien und gesetzmäßigen Ablauf der Sitzung zu sichern. Sie dient damit neben dem Schutz einer geordneten Rechtspflege, der Sicherstellung des Prozesses der Rechts- und Wahrheitsfindung und daneben auch der Wahrung der subjektiven Rechte der Verfahrensbeteiligten oder betroffener Dritter (BVerfG, Beschluss vom 11.05.1994 – 1 BvR 733/94, NStZ 1995, 40). § 176 GVG ermächtigt den Vorsitzenden zu den nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlichen Maßnahmen. Das Ermessen des Vorsitzenden bezieht sich dabei sowohl auf die Frage, ob überhaupt eingeschritten wird, als auch darauf, in welcher Weise auf eine drohende Störung unter Abwägung der von der Anordnung betroffenen Rechtsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu reagieren ist (vgl. BeckOK-GVG/Allgayer, 11. Ed., 15.02.2021, § 176 Rn. 4 m.w.N.). Der Vorsitzende ist dabei in der Wahl seiner sitzungspolizeilichen Anordnungen grundsätzlich – im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens frei. Die Anordnungsbefugnis nach § 176 Abs. 1 GVG umfasst dabei nicht zuletzt als Ausfluss der aus Art. 2 Abs. 2 GG folgenden Pflicht zum Schutz der Sicherheit von Leben und körperlicher Unversehrtheit aller im Sitzungssaal anwesenden Personen auch Maßnahmen des Infektionsschutzes (OLG Celle a.a.O.).
Zum Schutz der Beteiligten ist der Vorsitzende angesichts des grundrechtlich verankerten Schutzgutes von Leben und körperlicher Unversehrtheit dazu verpflichtet, durch sitzungspolizeiliche Maßnahmen sicherzustellen, dass die Gefahr der Ansteckung mit einer möglicherweise gefährlichen oder im Einzelfall gar tödlichen Erkrankung in der Sitzung so gering wie möglich gehalten wird (OLG Celle a.a.O.). Wenn sich der Vorsitzende dabei im Rahmen gesundheitsbehördlicher Empfehlungen bewegt, wird dies in aller Regel nicht zu beanstanden sein, soweit die Anordnung einer Pflicht zum Tragen von Masken betroffen ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.09.2020 – 1 BvR 1948/20 juris Rn. 4).
Ob § 176 Abs. 1 GVG auch als Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Corona-Schnelltests für die Verfahrensbeteiligten dient, ist indes bislang in der Rechtsprechung nicht ausführlich diskutiert worden. Soweit das LG Chemnitz in seinem Beschluss vom 12.04.2021 (Az. 730 Js 39632/20) ausgeführt hat, hinsichtlich der Anordnung des Vorsitzenden zur Durchführung eines Schnelltests und Vorlage eines negativen Testergebnisses gelten dieselben Grundsätze wie zur Anordnung eines Mund-Nasen-Schutzes, folgt die Kammer dem nicht. Nach Ansicht der Kammer lässt sich zwischen der Anordnung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und der Anordnung der Durchführung eines Corona-Schnelltests für alle an der Verhandlung teilnehmenden Beteiligten keine Parallelität ziehen. Zum einen ist mit der Anordnung eines Mund-Nasen-Schutzes ein nur geringfügiger Grundrechtseingriff verbunden, wohingegen die Durchführung eines Schnelltests — will man ein aussagekräftiges Ergebnis erzielen — einen viel erheblicheren Eingriff in die körperliche Integrität der zu testenden Person mit sich bringt (s.o.). Zum anderen kann die Anordnung einer allgemeinen und insbesondere einzelfallunabhängigen Testpflicht die Verfahrensbeteiligten davon abschrecken, ihr Recht auf Teilnahme an der Hauptverhandlung wahrzunehmen, da sich im Falle eines positiven Ergebnisses des Schnelltests die getestete Person unverzüglich in Quarantäne bis zum Vorliegen des Ergebnisses eines sog. PCR-Tests zu begeben hat (§ 3a Abs. 1 Corona-Quarantäneverordnung Hessen), zumal dem Gericht auch mildere Mittel zur Verfügung stehen, um für einen ausreichenden Infektionsschutz im Sitzungssaal zu sorgen. Dies kann insbesondere in der Anordnung eines Mund-Nasen-Schutzes bestehen sowie der regelmäßigen Belüftung des Sitzungssaals und dem Aufstellen von Trennwänden zwischen den Verfahrensbeteiligten.
Der Annahme, dass sich die vorliegende Anordnung nicht auf § 176 Abs. 1 GVG stützen lässt, stehen auch nicht die vorherigen Ausführungen entgegen, wonach dem Vorsitzenden ein grundsätzlich weiter Ermessens- und Beurteilungsspielraum zusteht, durch welche konkreten Maßnahmen er den Gefahren durch das Coronavirus im Sitzungssaal begegnen möchte. Denn der Ermessens- und Beurteilungsspielraum des Vorsitzenden kann nur soweit reichen, wie Güter von Verfassungsrang durch die in Grundrechte eingreifende Maßnahme in unverhältnismäßiger Weise tangiert werden. Dass der vom Coronavirus ausgehenden Gesundheitsgefahr nur durch die — hier sogar verpflichtende — Durchführung eines Schnelltests begegnet werden kann, ist aus Sicht der Kammer nicht zwingend, weil dem Gericht auch die oben angeführten milderen Maßnahmen zur Verfügung gestanden hätten, um Infektionen vorzubeugen. Darüber hinaus ist auch bislang die verpflichtende Durchführung eines Schnelltests im Vorfeld einer Gerichtsverhandlung — soweit für die Kammer ersichtlich — weder vonseiten der Gesundheitsbehörden noch des Robert Koch-Instituts empfohlen worden. Anders sieht dies lediglich für das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in Innenräumen aus (vgl. https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Mund_Na-sen_Schutz.html). Die angegriffene Anordnung begegnet ferner rechtlichen Bedenken aus dem Grund, dass das Gericht die Durchführung eines Schnelltests für die Verfahrensbeteiligten verpflichtend angeordnet hat und ihnen die Durchführung eines Tests durch geschultes Testpersonal nicht angeboten hat (so geschehen im Beschluss des Landgerichts Duisburg vom 28.10.2020, Az. 34 KLs-121 Js 10/16-3/20). Denn im hiesigen Landgerichtsbezirk steht es auch Verfahrensbeteiligten frei, sich in einer im Gerichtsgebäude eingerichteten Teststraße kostenfrei auf das Coronavirus testen zu lassen.
Auch die Corona-Schutzverordnungen des Landes Hessen ermächtigen bzw. verpflichten die Gerichte nicht dazu, die Durchführung eines Schnelltests zulasten der Verfahrensbeteiligten anzuordnen.
Mit der Zweiten Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus (Corona-Einrichtungsschutzverordnung) vom 26.11.2020 verfolgte die Hessische Landesregierung das Ziel, der Ausbreitung des Coronavirus in der Bevölkerung durch eine umfangreiche Teststrategie entgegenzuwirken. Das Betreten bestimmter Einrichtungen ist hiernach an die Durchführung eines Corona-Schnelltests und das Vorliegen eines negativen Testergebnisses geknüpft. So ordnet § 1b Abs. 4 Satz 1 der Corona-Einrichtungsschutz-verordnung an, dass Besucherinnen und Besucher von Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter und pflegebedürftiger Menschen grundsätzlich eine solche Einrichtung nur betreten dürfen, wenn sie negativ getestet worden sind. Nach § 3 Abs. 4a der Corona-Einrichtungsschutzverordnung dürfen in Schulen und sonstigen Ausbildungseinrichtungen am Präsenzunterricht und an der Notbetreuung nur Studierende, Schülerinnen und Schüler sowie Kinder in den Vorklassen und Vorlaufkursen teilnehmen, die zu Beginn des Schultages über einen Nachweis verfügen, dass keine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus vorliegt. Eine entsprechende Regelung dahin, dass die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung an die Durchführung eines Corona-Schnelltests geknüpft ist, fehlt indes in der Verordnung. § 2 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung zum Schutz der Bevölkerung vor Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV 2 (Coronavirus-Schutzverordnung) schreibt lediglich das Tragen einer OP-Maske oder Schutzmaske der Standards FFP2, KN95, N95 oder einer sonstigen medizinischen Maske in innenliegenden Publikumsbereichen aller öffentlich zugänglichen Gebäude — wozu auch Gerichtsäle zählen — vor, jedoch nicht die vorherige Durchführung eines Schnelltests vor Betreten des Sitzungssaales. Überhaupt schreibt die Coronavirus-Schutzverordnung die Durchführung eines Corona-Schnelltests nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen vor, wie z.B. in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Spielbanken- und Spielhallen, Gaststätten im Innenbereich sowie in Übernachtungsbetrieben. Für die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen gilt sogar nach § 16 Abs. 2 Nr. 1 der Coronavirus-Schutzverordnung, dass Abs. 1, wonach die Teilnahme an dort aufgeführten Veranstaltungen in geschlossenen Räumen an die Durchführung eines negativen Coronatests gebunden ist (§ 16 Abs. 1 Nr. 2), gerade nicht auf Sitzungen und Gerichtsverhandlungen Anwendung findet. Dies spricht aus Sicht der Kammer entscheidend gegen die Befugnis des Vorsitzenden zur Anordnung eines Corona-Schnelltests, weil nicht einmal die Landesregierung selbst die Durchführung eines Tests vor Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung für notwendig hält, womit es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für den angeordneten körperlichen Eingriff fehlt.
Eine Rechtsgrundlage für den Erlass der angefochtenen Anordnung findet sich auch nicht im IfSG.
§ 28 Abs. 1 IfSG ermächtigt die zuständige Behörde, Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung einer übertragbaren Krankheit nach ihrem Auftreten zu treffen. Die für das Treffen von Schutzmaßnahmen zuständige Behörde ergibt sich aus den landesrechtlichen Vorschriften über die Zuständigkeit zur Durchführung des IfSG. Nach § 5 Abs. 1 des Hessischen Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst (HGöGD) sind zuständige Behörden für die Durchführung des Infektionsschutzgesetzes vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587), in der hierzu erlassenen Rechtsverordnungen die Gesundheitsämter, d.h. der Kreis-Ausschuss in den Landkreisen und in den kreisfreien Städten der Magistrat, § 2 Abs. 2 r. 1 HGöGD. Aus diesem Grund kann sich von vornherein keine Rechtsgrundlage für Gerichte zum Erlass von sitzungspolizeilichen Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus ergeben.
Die gerichtliche Anordnung zur Durchführung eines Corona-Schnelltests lässt sich ferner nicht auf die Vorschrift des § 28b IfSG stützen.
§ 28b Abs. 1 IfSG enthält keine dahingehende Vorschrift, wonach ein Gericht ermächtigt wäre, Maßnahmen zum Infektionsschutz gegenüber Verfahrensbeteiligten anzuordnen, zumal es sich bei der Vorschrift um eine Norm handelt, die keines Umsetzungsaktes bedarf, sondern die unmittelbar kraft gesetzlicher Anordnung gilt (BT-Drs. )/28732, 19). Dementsprechend kann sie von vornherein nicht die Verwaltungsbehörden zu Infektionsschutzmaßnahmen ermächtigen.
Eine Rechtsgrundlage ergibt sich auch nicht aus § 28b Abs. 5 IfSG. Hiernach bleiben eitergehende Schutzmaßnahmen auf Grundlage dieses Gesetzes unberührt. Dies deutet aber, dass sich die angeordnete Maßnahme zum Schutz vor Gesundheitsrisiken auf eine Rechtsgrundlage im IfSG stützen lassen muss. Aus den vorigen Ausführungen folgt indes gerade, dass das IfSG einem Gericht nicht die Möglichkeit eröffnet, die Durchführung eines Corona-Schnelltests für die Verfahrensbeteiligten anzuordnen.
Das Gericht war auch nicht gehalten, aus seiner aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden -Schutzpflicht die Durchführung eines Schnelltests auf Grundlage des § 176 Abs. 1 VG anzuordnen. Zum einen ist die Anordnung sehr pauschal gehalten, da sie jeglichen Verfahrensbeteiligten unabhängig von der Frage trifft, ob dieser aufgrund seines Alters oder seiner körperlichen Konstitution im Falle einer Ansteckung mit einem schweren Verlauf zu rechnen hat. Ob ein Verfahrensbeteiligter für den Fall einer Infektion einer erhöhten Gesundheitsgefahr ausgesetzt wäre, ist vorliegend durch das Gericht nicht geprüft worden. Zum anderen kann der Infektionsgefahr durch oben erwähnten milderen Maßnahmen begegnet werden.“