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Klein, aber fein II: Pflichtverteidiger im Steuerstrafverfahren

© pedrolieb -Fotolia.com

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Da hat es mal wieder erst das LG richten müssen, sprich: Es war in einem Steuerstrafverfahren die Beschwerde des Angeklagten erforderlich, damit ihm ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. Vorwurf war, der Angeklagte habe als Betreiber eines Einzelunternehmens für Metallwaren durch die Nichtabgabe der Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2012 Umsatzsteuer in Höhe von 40.802,31 € nicht erklärt. Dadurch sei ein Schaden von 37.695,72 € entstanden. Die Ermittlung des Steuerschadens beruht auf Schätzungen des Finanzamtes. Grundlage der Schätzung waren Rechnungen des Angeklagten sowie Umsatzsteuervoranmeldungen.

Das AG hat die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Der LG Essen, Beschl. v. 02.09.2015 – 56 Qs 1/15 – sieht das anders:

„Die Beschwerde ist auch begründet. Die Mitwirkung eines Verteidigers ist wegen der Schwierigkeit der Rechtslage geboten (§ 140 Abs. 2 StPO): Beim Steuerstrafrecht handelt es sich um Blankettstrafrecht: Die Rechtslage kann nur in einer Zusammenschau strafrechtlicher und steuerrechtlicher Normen zutreffend erfasst und bewertet werden. Damit ist ein Angeklagter regelmäßig überfordert, wenn er ¬wie offenbar hier — nicht über Spezialwissen verfügt. Eine laienhafte oder intuitive Einschätzung der Rechtslage, wie sie bei Normen des Kernstrafrechts möglich ist, genügt nicht. Dies gilt umso mehr, als für die Berechnung der Höhe der Steuerschuld des Angeklagten ausweislich des strafrechtlichen Abschlussvermerks vom 10.04.2015 (BI. 26 d. A.) die Sondervorschrift des § 13b UStG einschlägig ist, deren Verständnis und Anwendung vertiefte Kenntnisse des Umsatzsteuerrechts erfordern. Dabei wird insbesondere die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage zu behandeln sein, ob das bloße Nichterfüllen von Nachweispflichten zu einer strafrechtlich beachtlichen Steuerverkürzung führen kann.

Hinzu kommt, dass die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Verteidiger gemäß § 147 StPO zusteht, nicht umfassend vorbereitet werden kann, was die Schwierigkeit der Sachlage begründet (§ 140 Abs. 2 StPO). Denn um die Tatvorwürfe zu prüfen, sind die Kenntnis der Berechnungen des Finanzamts für Steuerstrafsachen und die Auswertung des Beweismittelordners mit den Geschäftsunterlagen erforderlich.

Zwar hat der unverteidigte Angeklagte auf seinen Antrag einen Anspruch auf Auskünfte und Abschriften aus den Akten, wenn er sich sonst nicht angemessen verteidigen könnte (§ 147 Abs. 7 StPO). Doch erscheint der Angeklagte im vorliegenden Fall nicht in der Lage, die für seine Verteidigung relevanten Teile der Akten zu benennen und in ihrer Bedeutung einzuschätzen, so dass (vollständige) Akteneinsicht durch einen Verteidiger zwingend erforderlich ist.“

Schon das „Akteneinsichtsargument“ hätte m.E. dem AG bei dem Vorwurf genügen müssen, um den Pflichtverteidiger zu bestellen.

Der manipulierte Verkehrsunfall, oder: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht….

© Thaut Images Fotolia.com

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Aus der Serie: Wann habe ich es mit einem „getürkten“manipulierten Verkehrsunfall zu tun?, heute das LG Essen, Urt. v. 22.06.2015 – 17 O 182/12. Das Unfallgeschehen? Nun man kann es nicht endgültig darstellen, da die Klägerin dazu drei Versionen abgeliefert hatte, was dann letztlich ihrer Klage „das Genick gebrochen“ hat. Das LG verneint einen Schadensersatzanspruch der Klägerin nämlich mit folgenden – teilweise bekannten – Argumenten aufgrund einer die Gesamt­wür­di­gung der vor­lie­gen­den Indi­zien, die „ver­nünf­tige Zwei­fel an einer Unfall­ma­ni­pu­la­tion schwei­gen“ lassen (schöne Formulierung 🙂 ):

  • Zunächst spricht die Art der betei­lig­ten Kraft­fahr­zeuge für das Vor­lie­gen eines abge­spro­che­nen Unfalls. Es han­delt sich um ein bei, fin­gier­ten Unfäl­len typi­scher­weise ver­wen­de­tes Kraft­fahr­zeug. Das beschä­digte Fahr­zeug ist ein, wenn auch älte­res, höher­wer­ti­ges Fahr­zeug mit einer erheb­li­chen Lauf­leis­tung (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 24.06.2010, 7 U 102/09 sowie OLG Hamm, Urteil vom 29.03.2000, 13 U 99/99).
  • Hinzu kommt, dass die Art des Scha­dens, ein “lukra­ti­ver” Streif­scha­den, ein Indiz für eine Unfall­ma­ni­pu­la­tion begrün­det (vgl. LG Essen, Urteil vom 16.12.2010, 3 O 190/10).
  • Fer­ner liegt ein wei­te­res Indiz vor, da die Klä­ge­rin im Wege der fik­ti­ven Abrech­nung Scha­dens­er­satz for­dert und das Fahr­zeug nicht hat tat­säch­lich ord­nungs­ge­mäß repa­rie­ren las­sen um es wei­ter zu nut­zen (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 01.10.2005, 12 U 1114/04).
  • Außer­dem ist der von der Klä­ge­rin geschil­derte Unfall­her­gang nicht plau­si­bel…..
  • „Als ein sol­ches Indiz für das Vor­lie­gen einer Unfall­ma­ni­pu­la­tion wurde auch berück­sich­tigt, dass die Klä­ge­rin meh­rere Unfall­ver­sio­nen geschil­dert hat. Mit der Klage gab sie an, dass ihr Fahr­zeug am Stra­ßen­rand geparkt habe und der Beklagte zu 1) beim Rück­wärts­fah­ren den Scha­den ver­ur­sacht habe. Danach trug sie vor, dass ihr Fahr­zeug nicht am Stra­ßen­rand, son­dern auf einem Park­platz gestan­den habe und der Beklagte den Park­platz ver­las­sen wollte, auf­grund von Ver­kehr auf der Alten­dor­fer Straße jedoch zurück­set­zen musste und dabei die Beschä­di­gun­gen an der Seite des klä­ge­risch betei­lig­ten Fahr­zeugs ver­ur­sachte. Zuletzt behaup­tete die Klä­ge­rin, dass der Beklagte auf­grund von Ver­kehr auf dem Fahr­rad­weg habe zurück­set­zen müs­sen. Die Schil­de­run­gen des Unfalls sind unglaub­haft. Zunächst ist nicht nach­voll­zieh­bar, wieso die Klä­ge­rin den Stand­ort ihres Fahr­zeu­ges nicht rich­tig ange­ben konnte. Ins­be­son­dere da die­ses durch den Lebens­ge­fähr­ten und mitt­ler­weile Ver­lob­ten der Klä­ge­rin, den Zeu­gen … abge­stellt wurde. Auch die Schil­de­rung, wonach der Beklagte zu 1) auf­grund des Fahr­rad­we­ges zurück­set­zen musste ist nicht nach­voll­zieh­bar. Da, wie bereits oben aus­ge­führt, auf den Licht­bil­dern der Unfall­stelle zum Unfall­zeit­punkt an der Ein­fahrt zu dem Park­platz ein Fahr­rad­weg nicht erkenn­bar ist.
  • Fer­ner wurde bei der Gesamt­wür­di­gung berück­sich­tigt, dass das Unfall­ge­sche­hen zu einem mani­pu­lier­ten Unfall passt. Es bestand ein gerin­ges Ver­let­zungs­ri­siko (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 29.03.2000, 13 U 99/99). Es han­delt sich um einen Unfall mit einem par­ken­den Fahr­zeug. Auch fuhr das Fahr­zeug der Beklag­ten­seite mit gerin­ger Geschwindigkeit.
  • Bei der Über­zeu­gungs­bil­dung der Kam­mer wurde zudem berück­sich­tigt, dass die Beweis­si­tua­tion für einen gestell­ten Unfall typisch ist (vgl. OLG Nürn­berg, Urteil vom 19.12.2011, 4 U 2659/10). Es gibt für den Unfall selbst keine Zeu­gen. Die Poli­zei wurde auch nicht hinzugerufen.
  • Wei­ter hat bei der Gesamt­schau der Indi­zien eine Rolle gespielt, dass der Beklagte zu 1) mit der Klä­ge­rin bekannt ist, wie er es in sei­ner per­sön­li­chen Anhö­rung ange­ge­ben hat. Dies wird dadurch ver­stärkt, dass die Vor­hal­te­rin des Fahr­zeu­ges die Schwä­ge­rin des Beklag­ten zu 1) ist.

„Ich bin nur ein armer Klempnergesell…“ –> keine Fahrerlaubnisentziehung

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Das Urteil des LG Essen vom 28.06.2013 (vgl. LG Essen. Urt. v. 28.06.2013 – 31 Ns 81/13) zeigt, dass es sich manchmal auch in auf den ersten Blick „glasklaren Sachen“ doch lohnen kann, in die Berufung zu gehen. Das AG hatte den Angeklagten im AG Essen, Urt. v. 28.03.2013 – 39 Cs-43 Js 2478/12 53/13) wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Außerdem wurde dem Angeklagten die Fahrerlaubnis mit einer Sperrfrist für die Wiedererteilung von 12 Monaten entzogen worden. Das AG hat den Antrag des Angeklagten, von der Entziehung der Fahrerlaubnis abzusehen, abgelehnt und zur Begründung ausgeführt:

„Auch der Umstand, dass dem Angeklagten vermeintlich ein Jobverlust droht, konnte hier nicht zu einer Verkürzung der Sperre führen. Der Angeklagte verzichtet schon seit dem 25.11.2012 auf die Fahrerlaubnis. Auch in dieser Zeit ist es gelungen, den Umstand, dass der Angeklagte nicht fahrtberechtigt ist, zu überbrücken. Der Zeuge pp. hat sich dahingehend eingelassen, dass zur damaligen Zeit ein Lehrling die Fahrten übernommen habe. Im Hinblick auf die finanziellen Verhältnisse des Angeklagten scheint es durchaus zumutbar, im Einzelfall einen Fahrer zu beschäftigen. Ggf. kann dies auch über den Betrieb insgesamt organisiert werden, sofern sich nicht ohnehin ein weiterer Lehrling findet. Nach alledem stellt eine 12-monatige Sperre zur Überzeugung des Gerichts keine unverhältnismäßige Härte dar.“

Abgesehen davon, dass das AG eine Erklärung schuldig geblieben ist, wovon der Angeklagte den Fahrer bezahlen soll, hat das LG die Rechtslage anders gesehen und nur noch ein Fahrverbot von drei Monaten (§ 44 StGB) verhängt:

„Der Führerschein des Angeklagten ist am 25.11.2012 sichergestellt worden. Der Angeklagte verzichtet damit seit nunmehr sieben Monaten auf seinen Führerschein. Nach den glaubhaften Angaben des Angeklagten handelt es sich bei der Tat um einen einmaligen und außergewöhnlichen Verstoß, welcher auch dadurch bedingt war, dass zu dem Zeitpunkt, als der Angeklagte die Trunkenheitsfahrt unternommen hat, der Vater des Angeklagten bereits schwer erkrankt war. Beeinflusst durch den Zustand seines Vaters hat der Angeklagte in erheblichem Maße Alkohol konsumiert und dennoch für die Fahrt nach Hause den Pkw des Vaters benutzt. Weitere Straftaten des Angeklagten, nach Begehung dieser Straftat, sind nicht bekannt geworden. Zudem war zu berücksichtigen, dass dem Angeklagten aufgrund der Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch seinen Onkel ab September 2013 die Arbeitslosigkeit droht. Der Angeklagte hat nachvollziehbar geschildert, dass er als Geselle im Gas- und Wasserinstallationsgewerbe auf eine Fahrerlaubnis angewiesen ist. So wird von einem Gesellen in diesem Gewerbe erwartet, dass er auch eigenständig Termine bei Kunden wahrnimmt und hierbei zum Transport von Werkzeuge und Material einen Pkw benutzt. Ohne Fahrerlaubnis bleibt dem Angeklagten der Arbeitsmarkt in seinem Ausbildungsbereich nahezu vollständig versperrt. Vor diesem Hintergrund kann insgesamt nicht davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte nach wie vor ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr ist. Die Kammer hat daher von der Anordnung einer Maßregel nach §§ 69, 69 a StGB abgesehen.“

Der Fall zeigt schön, dass es sich eben doch lohnen kann, ggf. beim LG einen erneuten Anlauf zu nehmen, die Entziehung der Fahrerlaubnis zu verhindern. Abgesehen davon, dass das Zeitmoment dann vielleicht ein noch größere Rolle spielt als beim AG, sehen die LG die Dinge häufiger dann doch milder als das AG.

Falsche Verdächtigung ist schwierig,

jedenfalls dann, wenn die Tat offenbar so kompliziert ist, wie es im LG Essen, Beschl. v.06.04.2011 -56 Qs 25/11 offenbar der Fall war. Mehrere Einlassungen, schwierige subjektive Seite. Da kann man nur mit einem Pflichtverteidiger arbeiten. Und den hat das LG dann auf die Beschwerde hin beigeordnet und dazu u.a.  ausgeführt:

„Hinzu kommt, dass die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Vertei­diger gemäß § 147 StPO zusteht, hier nicht umfassend vorbereitet werden kann, was die Schwierigkeit der Sachlage vertieft (vgl. Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 140 Rz. 22 mit Nachweisen aus der obergerichtlichen Rspr.). Denn um die Tatvorwürfe zu prüfen, ist die Kenntnis der Einlassungen und der Zeugenaussagen von Bedeutung. Diese können wegen des Zeitablaufs auch nicht mehr aus dem Ge­dächtnis rekonstruiert werden.

Zwar hat der unverteidigte Angeklagte auf seinen Antrag einen Anspruch auf Aus­künfte und Abschriften aus den Akten, wenn er sich sonst nicht angemessen vertei­digen könnte (§ 147 Abs. 7 StPO). Doch erscheint die Angeklagte M. im vorlie­genden Fall nicht in der Lage, die für ihre Verteidigung relevanten Teile der Akten zu benennen und in ihrer Bedeutung einzuschätzen, so dass (vollständige) Aktenein­sicht durch einen Verteidiger zwingend erforderlich ist...“

LG Essen: Keine Disziplinierung durch Haftbefehl

Was immer wieder übersehen wird:  Der Haftbefehl nach den §§ 230 Abs. 2, 236 StPO erfüllt im Strafbefehlsverfahren nicht den Selbstzweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu ahnden. Vielmehr soll er (nur) die Durchführung der Hauptverhandlung unter Berücksichtigung der Aufklärungspflicht und der gestalterischen Vorstellungen des Tatrichters sichern – so das LG Essen jetzt in einem Beschluss vom 13.10.2009 – 51 Qs 86/09.

Ein Haftbefehl im Strafbefehlsverfahren ist danach daher unverhältnismäßig, wenn das Gericht die Hauptverhandlung trotz Nichterscheinens des Angeklagten ohne gravierende Einbußen der Wahrheitsfindung durchführen kann. Dabei sind auch die Umstände, die der Zumutbarkeit des Erscheinens des Angeklagten entgegenstehen, zu berücksichtigen.

Interessante Entscsheidung zu einer Problematik, in deren Bereich in der Praxis immer wieder Fehler gemacht werden.