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Bewährung II: Anforderungen an „Legalprognose“, oder: Was sind „besondere Umstände“?

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Im zweiten Posting komme ich dann noch einmal auf das OLG Hamm, Urt. v. 19.09.2024 – 5 ORs 37/24 – zurück, über das ich neulich schon berichtet hatte (vgl. Strafe III: TOA nach Böllerwurf im Fußballstadion, oder: Wiedergutmachung bei mehreren Geschädigten?). In der Entscheidung hat das OLG auch zur Frage der Bewährung, und zwar sowohl zur „Legalsprognose“ als auch zum Vorliegen „besonderer Umstände“ i.S. von § 56 Abs. 2 StGB  Stellung genommen, und zwar wie folgt:

„c) Schließlich hat das Landgericht auch die Strafaussetzung zur Bewährung nicht rechtsfehlerfrei begründet. Auch bezüglich der Strafaussetzung zur Bewährung kann das Revisionsgericht nur unter den oben genannten Voraussetzungen zur Strafzumessung eingreifen (OLG Hamm, Urteil vom 21.03.2017 – III-4 RVs 18/17 -, Rn. 15, juris). Vorliegend erweist sich sowohl die Beurteilung der Legalprognose nach § 56 Abs. 1 StGB als auch die Bejahung der besonderen Umstände nach § 56 Abs. 2 StGB als rechtsfehlerhaft.

aa) Nach § 56 Abs. 1 StGB ist eine Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn zu erwarten ist, dass der Angeklagte sich schon die Verurteilung selbst zur Warnung dienen lassen und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Grundlage der Prognose des Tatgerichts müssen sämtliche Umstände sein, die Rückschlüsse auf die künftige Straflosigkeit des Angeklagten ohne Einwirkung des Strafvollzugs zulassen, insbesondere die in § 56 Abs. 1 S. 2 StGB „namentlich“ aufgeführten. Dabei ist für die günstige Prognose keine sichere Erwartung eines straffreien Lebens erforderlich. Es reicht schon die durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit aus, dass der Angeklagte künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (ständige Rechtsprechung; zuletzt: OLG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2023 – 1 Ss 40/22 -, Rn. 40, juris).

bb) Besondere Umstände im Sinne im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB sind solche, die im Vergleich mit gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen von besonderem Gewicht sind und eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechtsgehalts und Schuldgehalts der Taten, wie er sich in der Höhe der Strafe widerspiegelt, als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheinen lassen. Dazu können auch solche gehören, die schon für die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen waren. Wenn auch einzelne durchschnittliche Milderungsgründe eine Aussetzung nicht rechtfertigen, verlangt § 56 Abs. 2 StGB keine „ganz außergewöhnlichen“ Umstände. Vielmehr können sich dessen Voraussetzungen auch aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben. Die besonderen Umstände müssen jedoch umso gewichtiger sein, je näher die Strafe an der Obergrenze von zwei Jahren liegt. Bei der Prüfung ist eine Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise vorzunehmen (ständige Rechtsprechung; zuletzt: OLG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2023 – 1 Ss 40/22 -, Rn. 45, juris).

cc) Ausgehend von diesem Maßstab hält weder die Beurteilung der Legalprognose noch die Bejahung besonderer Umstände rechtlicher Nachprüfung stand.

Es lässt sich bereits nicht nachvollziehen, aus welchen Gründen das Landgericht von einer Stabilisierung der familiären Verhältnisse des Angeklagten ausgegangen ist. Nach den persönlichen Feststellungen ist der Angeklagte stets einer geregelten Tätigkeit nachgegangen und war bereits im Tatzeitpunkt Vater einer Tochter. Dass er gegenwärtig mit seinem Einkommen zum Familienunterhalt beiträgt und zwischenzeitlich Vater eines Sohnes geworden ist, hat seine Lebenssituation nicht grundlegend verändert.

Ferner erschließt sich nicht, aus welchen Gründen das Landgericht meint, dass der Angeklagte nunmehr seine Alkoholproblematik im Griff habe. Diesbezüglich wird lediglich ausgeführt, dass dieser auf Alkohol verzichte und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen habe. Weder werden der Umfang und der Behandlungsverlauf der psychotherapeutischen Unterstützung dargelegt, noch wird die Einlassung des Angeklagten, dass er mittlerweile keinen Alkohol mehr trinke, sowie die Belastbarkeit einer etwaigen Alkoholabstinenz kritisch überprüft.

Schließlich wird den verfestigten kriminellen Neigungen des Angeklagten zu geringe Bedeutung beigemessen. So stand der mehrfach vorbestrafte Angeklagte im Tatzeitpunkt nicht nur in zwei Strafverfahren unter laufender Bewährung, so dass ihm gleich doppeltes Bewährungsversagen zur Last fällt. Er hat zudem nach seiner Haftverschonung im Februar 2022 bereits im August 2022 eine weitere Straftat begangen. Hierdurch hat er eindrücklich seine rechtsfeindliche Einstellung dokumentiert. Damit liegen ganz erhebliche Strafschärfungsgründe vor. Diese stehen ersichtlich nicht nur einer positiven Legalprognose im Sinne von § 56 Abs. 1 StGB, sondern auch Milderungsgründen von besonderem Gewicht im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB entgegen.“

Bewährung II: Viele Vorstrafen, schneller Rückfall pp., oder: Anforderungen an die sog. Legalprognose

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Auch die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.08.2022 – 1 OLG 53 Ss 65/22 – war schon einmal Gegenstand der Berichterstattung, und zwar hier bei: Rechtsmittel III: Berufungsbeschränkung wirksam?, oder: Trennbarkeitsformel. Ich komme jetzt auf die Entscheidung noch einmal wegen der Bewährungsfrage zurück. Das OLG nimmt Stellung zur sog. Begründungstiefe.

Das LG hatte noch einmal Bewährung gewährt. Dagegen hatte die StA Revision eingelegt, die Erfolg hatte:

„2. Die Revision der Staatsanwaltschaft Potsdam hat auch in der Sache Erfolg.

Die Erwägungen, mit denen das Landgericht – in Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung – die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung begründet hat, halten rechtlicher Überprüfung nicht stand; die Urteilsgründe erweisen sich in wesentlichen Aspekten als lückenhaft.

a) Die Frage, ob zu erwarten ist, dass sich der Angeklagte schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (§ 56 Abs. 1 StGB), hat der Tatrichter unter Berücksichtigung aller dafür bedeutsamen Umstände im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu entscheiden. Bei dieser Prognose steht ihm ein weiter Bewertungsspielraum zu (BGH, Urteil vom 10. Juni 2010, 4 StR 474/09, Rz. 34, Juris; NStZ 2007, 303, 304; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Januar 2008, 1 Ss 19/07, Rz. 5, Juris; NStZ-RR 2005, 200, 201; Fischer, StGB, 69. Auflage, zu § 56, Rz. 11). Die Prognoseentscheidung des Tatrichters ist vom Revisionsgericht grundsätzlich bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen (BGH a. a. O.; OLG Karlsruhe a. a. O.) und nur darauf zu überprüfen, ob sie rechtsfehlerhaft ergangen ist, der Tatrichter also Rechtsbegriffe verkannt oder seinen Bewertungsspielraum fehlerhaft ausgefüllt hat (BGHSt 6, 298, 300; 6, 391, 392, OLG Düsseldorf NStZ 1988, 325, 326; KG a. a. O.).

Um dem Revisionsgericht diese Prüfung zu ermöglichen, muss der Tatrichter seine Erwägungen im Urteil in einem die Nachprüfung ermöglichenden Umfang darlegen (OLG Düsseldorf a. a. O.; KG a. a. O. m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., zu § 337, Rz. 34). Seine Feststellungen müssen eine tragfähige Grundlage für die Überprüfung der Rechtsanwendung bilden (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., zu § 337, Rz. 21).

Der Umfang der Darlegungen und deren Begründungstiefe hängt maßgeblich davon ab, ob und ggf. in welchem Umfang der Angeklagte strafrechtlich vorbelastet ist. Bei einem mehrfach und einschlägig vorbestraften Angeklagten, der ggf. schon frühere Bewährungschancen nicht bestanden hat, setzt eine günstige Legalprognose bzw. die Strafaussetzung zur Bewährung eine besonders eingehende und vertiefte Begründung voraus.

b) Im vorliegenden Fall ist hinsichtlich der erforderlichen Begründungstiefe zu berücksichtigen, dass der Angeklagte ganz erheblich vorbestraft ist. Der Auszug aus dem Bundeszentralregister weist 19 Eintragungen aus. Der Angeklagte ist elf Mal, teilweise in Tatmehrheit mit anderen Delikten, wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis einschlägig vorbestraft. In der Vergangenheit hat der Angeklagte bei sämtlichen ihm eingeräumten Bewährungschancen versagt; fünf Mal musste eine ihm gewährte Vollstreckungsaussetzung zur Bewährung widerrufen werden. Erst sechs Monate vor der ersten im hiesigen Verfahren festgestellten Straftat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (21. April 2020) war der Angeklagte durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Brandenburg am 29. Oktober 2019 (24 Ds 22/19) ebenfalls wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung bis zum 28. Oktober 2021 ausgesetzt wurde. Selbst diese nach § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB kürzest denkbare Bewährungszeit hat der Angeklagte nicht ohne Begehung neuer, einschlägiger Straftaten überstanden. Er ist Bewährungsversager. Zur Tatzeit stand der Angeklagte zudem infolge des Urteils des Amtsgerichts Brandenburg a.d.H. vom 25. März 2014 (21 Ls 7/14) unter Führungsaufsicht, die noch bis zum 20. November 2022 fortdauert. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte den Gründen des angefochtenen Urteils zu Folge bereits im März 2022 wegen einer am 23. Juli 2021 erneut begangenen einschlägigen Straftat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde (S. 3 UA). Zwar ist dieses Urteil noch nicht in Rechtskraft erwachsen, es kann aber dennoch zur Prognoseentscheidung berücksichtigt werden, da diese Verurteilung ausweislich der Urteilsgründe auf einem Geständnis des Angeklagten beruht. Der Angeklagte hat die erneute Straftat am 23. Juli 2021 begangen, obwohl die ihm im hiesigen Verfahren am 27. Oktober 2020 förmlich zugestellte Anklageschrift vom 7. November 2020 eine deutliche Appellfunktion entfaltete.

Unter Berücksichtigung der vorgenannten zahlreichen einschlägigen Verurteilungen, dem häufigen und ausschließlichen Bewährungsversagen, der hohen Rückfallgeschwindigkeit und der erneuten einschlägigen Straffälligkeit nach den im hiesigen Verfahren begangenen Straftaten sind an die Begründungstiefe für eine positive Legalprognose nach § 56 Abs. 1 StGB hohe Anforderungen zu stellen. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

Soweit das Tatgericht die positive Legalprognose damit zu begründen versucht, dass der Angeklagte bereits seit 2017 in der Gastronomie beruflich eingebunden und sich zum Schichtleiter hochgearbeitet hat (S. 10 UA), vermag dies schon deswegen nicht zu verfangen, da ihn die berufliche Einbindung vor der Begehung neuer einschlägiger Straftaten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis – jedenfalls bis zum Juli 2021 – nicht abhalten konnte. Das Argument, dass der Angeklagte seinen Wohnsitz an den Ort seines Arbeitsplatzes, nach Berlin, verlegt hat, um den Weg zur Arbeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen zu können (S. 10 UA), überzeugt ebenfalls nicht. Dies könnte nur dann maßgeblich sein, wenn Motiv des Fahrens ohne Fahrerlaubnis die Bewältigung der Strecke zum Arbeitsplatz gewesen wäre. Dies scheint aber nach den Urteilsgründen nicht gegeben zu sein. Danach arbeite der Angeklagte regelmäßig von 16 Uhr nachmittags bis 4 Uhr nachts. In den beiden hier festgestellten Fällen wurde das Fahren ohne Fahrerlaubnis um 10:29 Uhr und um 10:06 Uhr festgestellt und dürfte gerade keinen Bezug zur beruflichen Tätigkeit des Angeklagten gehabt haben. Dass der Angeklagte in einer stabilen Beziehung lebt, ist nach den Urteilsgründen nicht hinreichend unterlegt. Zum einen wird nur die Heirat im Jahr 2020 erwähnt, ohne dass erkennbar ist, wie lange die Beziehung zu diesem Zeitpunkt bereits bestanden hat. Zum anderen hat der Angeklagte die Straftaten gerade während des Bestehens der genannten Beziehung begangen, so dass nicht nachvollziehbar ist, worin der Wechsel in der Einstellung des Angeklagten nach Tatbegehung begründet sein kann. Dass der Angeklagte im Verfahren vom Juli 2021 „auf die Herausgabe des beschlagnahmten Autos verzichtet“ hat (S. 4 UA), kann nicht entscheidend zu seinen Gunsten gewertet werden, da es ohnehin der Einziehung unterlegen hätte. Dasselbe gilt für den vom Tatgericht hervorgehobenen Umstand, dass der Angeklagte sich kein neues Auto mehr angeschafft habe (S. 9 UA), was bei Fehlen einer Fahrerlaubnis eher selbstverständlich sein dürfte.

Zu Gunsten des Angeklagten spricht, dass er eigeninitiativ eine Verhaltenstherapie aufgenommen und „fünf Probestunden“ absolviert hat. Die Urteilsgründe verhalten sich jedoch nicht zu den Inhalten und einem möglichen (Zwischen-) Ergebnis der bisherigen Therapie, so dass sie sich insoweit als lückenhaft erweisen.

Das erst zwei Wochen vor der Berufungshauptverhandlung eröffnete Insolvenzverfahren dokumentiert die Höhe der mit den Betrugsstraftaten einhergehenden Schäden. Die Hintergründe des damit zusammenhängenden Verhaltens des Angeklagten, auch die Frage, ob möglicherweise damit prozesstaktische Ziele erreicht werden sollten, erörtert das Berufungsgericht nicht.

Am Rande sei bemerkt, dass sich das Berufungsgericht – wie von der Staatsanwaltschaft zutreffend beanstandet – nicht hinreichend mit den strafrechtlichen Vorbelastungen und auch nicht mit § 56 Abs. 3 StGB auseinandergesetzt hat (vgl. BGHSt 24, 40, 46; BHG wistra 2000, 96 f.; BGH NStZ 1985, 165; BGH NStZ 2018, 29); für die Prognoseentscheidung nicht uninteressant könnte auch die Frage sein, in welchem Zusammenhang das Fahren ohne Fahrerlaubnis auf einer Autobahn festgestellt worden war.

Nach alledem werden die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil zur positiven Legalprognose sowohl jeweils für sich betrachtet als auch in einer Gesamtbetrachtung, der im vorliegenden Fall erforderlichen besonderen Begründungstiefe nicht gerecht, so dass das Urteil insoweit der Aufhebung unterliegt.“

Rechtsfolgen II: Keine „günstige Sozialprognose“, oder: Doch, positive Prognose trotz Bewährungsbruch?

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Die zweite Entscheidung kommt vom BayObLG. Das hat im BayObLG, Beschl. v. 05.07.2022 – 202 StRR 68/22 – zur Frage der Strafaussetzung zur Bewährung und zur Bedeutung neuer Umstände für eine positive Legalprognose Stellung genommen. Das LG hatte die gegen den Angeklagten verhängte Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt. Das gefällt dem BayObLG nicht:

„2. Dagegen hält die Entscheidung der Berufungskammer, die Vollstreckung der erkannten Gesamtfreiheitsstrafe nicht zur Bewährung auszusetzen, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Das Landgericht hat vor allem mit Blick auf die Vorverurteilungen und das Bewährungsversagen eine günstige „Sozialprognose“ verneint und dabei maßgebliche Gesichtspunkte, die für die nach § 56 Abs. 1 StGB zu stellende Kriminalprognose von Bedeutung sind, zwar erkannt, aber nicht rechtsfehlerfrei gewichtet.

aa) Allerdings entspricht es gefestigter Rechtsprechung des Senats, dass einem Bewährungsbruch ganz erhebliche Bedeutung für die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB zukommt (BayObLG, Urt. v. 01.04.2022 – 202 StRR 35/22; 24.09.2021 – 202 StRR 98/21, jew. bei juris). Denn die Begehung von Straftaten während laufender Bewährung belegt grundsätzlich, dass die frühere Prognose falsch war.

bb) Gleichwohl schließt ein Bewährungsversagen eine nochmalige Strafaussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus (BGH, Urt. v. 14.04.2022 – 5 StR 313/21 bei juris; Beschluss vom 21.03.2012 – 1 StR 100/12 = NStZ-RR 2012, 201; Urt. v. 22.07.2010 – 5 StR 204/10 = NStZ-RR 2010, 306; 10.11.2004 – 1 StR 339/04 = NStZ-RR 2005, 38; Beschl. vom 04.01.1991 – 5 StR 573/90 = BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 15; BayObLG a.a.O.). Freilich kann in solchen Fällen eine günstige Prognose nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Gesichtspunkte infrage kommen. Im Falle der nochmaligen Bewilligung von Strafaussetzung zur Bewährung ist deshalb eine sorgfältige Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte geboten, in die vor allem Umstände einzubeziehen sind, die der Tatbegehung zeitlich nachfolgten (BayObLG a.a.O.).

cc) Die Berufungskammer hat diese Grundsätze im Ansatz nicht verkannt, sondern bei der Prognoseentscheidung auch berücksichtigt, dass sich die finanzielle Situation des Angeklagten mittlerweile gebessert hat und die Taten längere Zeit zurückliegen. Jedoch hat es diesen Gesichtspunkten mit nicht tragfähigen Überlegungen keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen.

(1) Der Hinweis der Berufungskammer darauf, dass der Angeklagte mehrfach vorbestraft ist und die verfahrensgegenständlichen Taten während laufender Bewährungszeit begangen hat, vermag insbesondere den Gesichtspunkt der nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die nach Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten eingetreten ist, nicht zu entkräften. Das Landgericht hat dabei vor allem dem Umstand nicht ausreichend Rechnung getragen, dass, wie sich aus der detaillierten Schilderung der zugrunde liegenden Sachverhalte im Berufungsurteil ergibt, sämtliche Vorstrafen ausschließlich auf die beengte wirtschaftliche Situation des Angeklagten zurückzuführen waren, der in jungen Jahren den landwirtschaftlichen Betrieb seiner früh verstorbenen Eltern im Jahr 2003/2004 übernehmen musste und sich von vornherein einer Schuldenlast in Höhe von ca. 650.000 Euro, die zu erheblichen Liquiditätsengpässen führte, ausgesetzt sah. Die Haupteinnahmequellen, nämlich die Milchgeldzahlungen in Höhe von 6.000 Euro monatlich und die Einnahmen aus Ausgleichszulagen in Höhe von ca. 36.500 Euro jährlich, waren zu den Tatzeitpunkten wegen Steuerschulden, die sich im Jahr 2019 noch auf ca. 140.000 Euro beliefen, an das Finanzamt abgetreten bzw. von diesem gepfändet. Die monatlichen Einnahmen aus einer Photovoltaikanlage waren wegen eines Darlehens in Höhe von ca. 100.000 Euro von einem Kreditinstitut gepfändet. Bis Ende 2021 wurden nach den Urteilsfeststellungen, die auf der Vernehmung des Steuerberaters des Angeklagten basieren, die Steuerschulden und die Verbindlichkeiten gegenüber der Bank aufgrund von Vollstreckungsmaßnahmen bzw. Tilgungsleistungen vollständig zurückgeführt. Bei Berücksichtigung dieser deutlichen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation einerseits und des Umstands andererseits, dass die Vorstrafen ebenso wie die verfahrensgegenständlichen Taten gerade ihren Ursprung in den früher vorherrschenden Liquiditätsengpässen hatten, vermag der Hinweis des Landgerichts auf die Vorverurteilungen und das Bewährungsversagen eine negative Kriminalprognose für sich genommen nicht zu rechtfertigen. Ein solches Verständnis würde darauf hinauslaufen, dass nachträglich eingetretenen Umständen von vornherein keine Bedeutung zukäme, was mit § 56 Abs. 1 StGB nicht in Einklang stünde. Denn für die nach dieser Vorschrift vorzunehmende Prognose kommt es gerade auf den Zeitpunkt der jetzigen Entscheidung an (vgl. nur BGH, Beschluss vom 30.04.2019 – 2 StR 545/18 = NStZ-RR 2019, 242 = StraFo 2019, 338 = StV 2019, 734 = BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 35).

(2) Auch die zusätzlichen Erwägungen der Berufungskammer, die auf die „Zusammenarbeit“ des Angeklagten mit der Bewährungshilfe abstellen, vermögen die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung nicht zu rechtfertigen. Hiernach habe der Angeklagte bis August 2021 die Termine bei der zuständigen Bewährungshelferin noch ordnungsgemäß wahrgenommen. In der Folgezeit sei er aber „unzuverlässig“ geworden; vereinbarte Termine habe er kurzfristig verschoben. Diese Wertungen sind schon nicht hinreichend mit Tatsachenfeststellungen belegt, sodass der Senat nicht beurteilen kann, wie oft und aus welchen Gründen der Angeklagte um Terminsverlegungen nachgesucht hat. Zudem bleibt offen, welche Auswirkungen dies auf die Kriminalprognose haben soll. Die von der Bewährungshelferin bei ihrer Vernehmung geschilderte Ablehnung einer „Schuldnerberatung“ durch den Angeklagten stellt für sich genommen mit Blick auf die Betreuung durch den Steuerberater einerseits und die deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen Situation andererseits ebenfalls keinen Gesichtspunkt dar, der im Rahmen des § 56 Abs. 1 StGB von Bedeutung wäre.

(3) Soweit die Berufungskammer bei der Prognoseentscheidung nach § 56 Abs. 1 StGB berücksichtigt hat, dass der Angeklagte in der Vergangenheit Bewährungsauflagen in Form von Geldzahlungen nur unzureichend nachgekommen war, ist dies insbesondere im Hinblick auf die prekäre wirtschaftliche Situation, in der sich der Angeklagte damals befand, und die Rückführung der bestehenden Verbindlichkeiten gegenüber Gläubigern kein Umstand, der einer günstigen Legalprognose entgegensteht. Im Gegenteil hätte das bewährungsaufsichtsführende Gericht vielmehr eine Abänderung der Bewährungsauflagen in Erwägung ziehen müssen.

b) Diese Rechtsfehler, die dem Landgericht bei der Kriminalprognose unterlaufen sind, haften auch den hilfsweisen Erwägungen, mit denen die Berufungskammer besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB verneint hat, an. Denn in die gebotene Gesamtschau wären auch die erhebliche Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im allgemeinen und vor allem die hieraus möglicherweise resultierenden Auswirkungen auf die Kriminalprognose im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB im besonderen einzubeziehen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 30.04.2019 – 2 StR 545/18 a.a.O.; 28.06.2018 – 1 StR 171/18 = StV 2019, 559; 23.01.2018 – 3 StR 654/17 = NStZ-RR 2018, 105; 10.05.2016 – 4 StR 25/16 = StraFo 2016, 425; BayObLG, Beschluss vom 08.12.2020 – 202 StRR 123/20 = Blutalkohol 58 [2021], 34; StV 2022, 27 = VerkMitt 2021, Nr 22)….“