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Pflichti I: 4 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Betreuung, Gesamtstrafe, (Schwer)Behinderungen

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Heute ist es dann mal wieder Zeit für einen Pflichtverteidigungstag. Bei der Gelegenheit: Herzlichen Dank allen Kollegen/Kolleginnen, die mir immer wieder Entscheidungen (auch) zu den Fragen schicken.

Ich beginne hier mit Entscheidungen, die mir zu den Beiordnungsgründen vorliegen, und zwar:

Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht. § 140 Abs. 2 ist dabei schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur eigenen Verteidigung erhebliche Zweifel bestehen. Das kann der Fall sein, wenn der Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt ist.

Auch bei einer überschaubaren zu erwartenden Rechtsfolge in einem Strafbefehl von 30 Tagessätzen Geldstrafe ist bei Gesamtstrafenfähigkeit die Bestellung eines Verteidigers erforderlich.

Die Verteidigung ist notwendig, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn auf der Grundlage ärztlicher Unterlagen beim Angeschuldigten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt und diese mit der Gesundheitsstörung „Verhaltensstörungen und Lernbehinderung“ begründet wird.

§ 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO sieht einen Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt. Daher ist einem Beschuldigten mit einer Sehbehinderung von 40 % eine Pflichtverteidiger zu bestellen.

 

Strafzumessung III: Tagessatz bei Beziehern von ALG II, oder: Einkommen noch unter Hartz-IV

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Und zum Tagesschluss dann zwei Entscheidungen zur Berechnung/Ermittlung der Tagessatzhöhe für die Geldstrafe bei Beziehern von ALG II oder noch darunter.

Dem LG Frankfurt/Oder, Beschl. v. 27.07.2022 – 24 Qs 45/22 – liegt ein Strafbefehl wegen eines in einem Netto-Discounter begangenen Diebstahls von Waren im Gesamtwert von 27,56 EUR (§ 242 Abs. 1 StGB) zugrunde. Das AG hat eine Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 20,00 EUR festgesetzt.

Auf den Einspruch des Angeklagten und Beschränkung des Einspruchs auf die Höhe des Tagessatzes, hat das AG die Höhe des Tagessatzes auf 24,00 Euro festgesetzt. Dagegen die sofortige Beschwerde. Zur Begründung führt der Angeklagte aus, dass  er  Leistungen  zur  Sicherung  des  Lebensunterhalts  vom  Jobcenter  Barnim (Arbeitslosengeld II) in Höhe von insgesamt 721,75 EUR (Regelbedarf: 446,00 EUR, Sachleistung Miete: 275,75 EUR) erhalte und die vom Gericht vorgenommene schematische Anwendung des § 40 Abs. 2 StGB sei ermessensfehlerhaft. Die Leistungen für die Miete seien nicht frei verfügbar, ohne seine persönliche Existenz durch Obdachlosigkeit zu gefährden, und das zum Lebensbedarf Unerlässliche, d.h. 70 % des Regelbedarfs (§ 43 SGB II), müsse ihm erhalten bleiben. Auch habe er bereits auf ein Forderungsschreiben der Geschädigten Fa. Netto einen Betrag in Höhe von 98 EUR an diese gezahlt.

Das Rechtsmittel hatte Erfolg. Das LG hat die Tagessatzhöhe des Strafbefehls auf 10,00 EUR gesenkt:

„Eine Abänderung des angegriffenen Beschlusses war bereits deshalb vorzunehmen, weil die Festsetzung der Höhe des Tagessatzes durch Beschluss vom 16.06.2022 (24,00 Euro) von der Festsetzung im Strafbefehl (20,00 Euro) zum Nachteil des Angeklagten erfolgte (Verschlechterungsverbot, § 411 Abs. 1 Satz 3, 2. Halbsatz StPO, Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, § 411 Rn. 2 b.).

Bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe durch die Kammer (§ 309 Abs. 2 StPO) gilt Folgendes:

Grundlage für die Festsetzung der Tagessatzhöhe ist das Nettoeinkommen – zum Zeitpunkt der Entscheidung – als Saldo der anzurechnenden Einkünfte und der abziehbaren Belastungen, das wirtschaftlich gesehen die Leistungsfähigkeit und den Lebenszuschnitt des Täters bestimmt (Fischer, StGB, § 40 Rn. 6 und 7, m.w.N.). Bei einkommensschwachen Personen, wie Empfängern von Arbeitslosengeld II., kommt es damit auf die Gesamtheit der Unterstützung- oder Versorgungsleistungen samt etwaigen Sachbezügen an (Fischer, a.a.O., § 40 Rn. 11 m.w.N.).

Gemessen an den vorgenannten Grundsätzen wären die dem Angeklagten vom Jobcenter Barnim gewährten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II.) in Höhe von 721,75 Euro (Regelbedarf plus Sachleistung) als Nettoeinkommen anzusetzen, aus denen sich eine Tagessatzhöhe in Höhe von 24,40 Euro ergäbe.

Die vorgenannte Berechnung stößt bei dem Angeklagten, der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II.) bezieht und finanziell am Existenzminimum lebt, an rechtstaatliche Grenzen und es bedarf daher einer nicht formelhaften und individuellen Ausgestaltung der Bestimmung der Tagessatzhöhe.

Der Angeklagte ist durch die Auswirkungen der am Nettoeinkommensprinzip ausgerichteten Geldstrafe systembedingt härter betroffen als der Normalverdienende, weil die auf die Sicherung des Existenzminimums ausgestaltete Leistung dem Leistungsbezieher nur einen sehr geringen finanziellen Spielraum lässt. Der systembedingt härteren Betroffenheit des Angeklagten kann durch Senkung der Tagessatzhöhe entgegengewirkt werden (Fischer, a.a.O., § 40 Rn. 11 a m.w.N.), was auch dem Gedanken, dass die Bemessung der Höhe des Tagessatzes keine rein schematische Berechnung sein darf, Rechnung trägt (Fischer, a.a.O., § 40 Rn. 6 a m.w.N.).

Demnach ist zunächst maßgebend, dass dem Bezieher von Sozialleistungen ein Betrag verbleibt, der es ihm ermöglicht, ein menschenwürdiges Leben ohne die Gefahr der Obdachlosigkeit zu führen. Der Gefahr der Obdachlosigkeit kann in erster Linie entgegengewirkt werden, wenn die diesbezügliche Sachleistung bei dem Bezieher der Leistungen ungekürzt verbleibt und damit diese Sachleistung von dem anrechenbaren Nettoeinkommen abgesetzt wird.

Von dem verbleibenden Regelbedarf ist der Betrag zu ermitteln, der zur Sicherung des Lebensunterhaltes unerlässlich ist. Der „unerlässliche Lebensbedarf“ richtet sich nach dem Recht der Sozialhilfe (§ 26 Abs. 2 SGB XII) und ist ein Bruchteil zwischen 70 % und 80 % des jeweiligen Regelbedarfs nach der Anlage zu § 28 SGB XII (VGH München, FEVS 45, 102 = NVwZ-RR 1994, 398 – juris [70%]; OVG Bremen FEVS 37, 471 – juris [80%]), wobei die Kammer den Bruchteil mit einem Mittelwert von 75 % bestimmt (so auch LG Köln, Urteil vom 25.04.2018 – 153 Ns 89/17 – Rn. 12; OLG Köln, Beschluss vom 10. Juni 2011 – III. – 1 RVs 96/11, jeweils juris und m.w.N.). Der drei bis vierfache Betrag der Differenz zwischen dem Regelbedarf und dem zum Leben unerlässlichen Betrag bildet dann den Geldbetrag, der als monatlich anzurechnendes Nettoeinkommen zur Berechnung der Tagessatzhöhe zugrunde gelegt wird (Fischer, a.a.O., § 40 Rn. 11 a m.w.N.). Darüber hinaus kann im Einzelfall – unter Beachtung der Notwendigkeit der Wahrung der Strafe als ernsthaft fühlbares Übel – die Tagessatzhöhe auch unterhalb eines Dreißigstels der monatlichen anzurechnenden Geldzahlungen festgesetzt werden (OLG Köln, Beschluss vom 10.06.2011 – III – 1 RVs 96/11-, juris).

Vorliegend bedeutet dies, dass für den Angeklagten bei einem aktuellen Regelsatz in Höhe von monatlich 449,00 Euro (Anlage zu § 28 SGB XII.: eine erwachsene Person, die in einer Wohnung lebt, Regelbedarfsstufe 1 ab dem 01.01.2022,) der zum Leben unerlässliche Betrag mit monatlich 336,75 Euro zu beziffern ist. Die Differenz dieses Betrages zum Regelsatz beträgt somit 112,25 Euro monatlich und damit 3,75 Euro täglich. Bei der konkreten Berechnung der Tagessatzhöhe war mindestens der dreifache Betrag des Differenzbetrages zugrunde zu legen und unter Beachtung der Notwendigkeit der Wahrung der Strafe als ernsthaft fühlbares Übel war die Tagessatzhöhe unterhalb eines Dreißigstels der monatlichen anzurechnenden Geldzahlungen festsetzen (OLG Köln, Beschluss vom 10.06.2011 – III – 1 RVs 96/11-, juris), weil der Angeklagte bereits an die Geschädigte 98,00 Euro zahlte, so dass im Ergebnis die Tagessatzhöhe in Höhe von 10,00 Euro festzusetzen war….“

Und dazu „passt“ dann der AG Langenburg, Beschl. v. 25.05.2022 – 1 Cs 36 Js 543/22:

„Es erscheint ausnahmsweise – aufgrund des Wohnsitzes des Angeklagten in Tschechien sowie unter Berücksichtigung der dortigen Lebensverhältnisse – angemessen, die Tagessatzhöhe auf fünf Euro zu reduzieren.

Nach den Ausführungen des Verteidigers hat der Angeklagte nicht einmal den Hartz IV – Regel-satz (welcher eine Reduzierung der Tagessatzhöhe auf zehn Euro rechtfertigen würde) zur Ver-fügung sondern lediglich 252,00 pro Monat.

Es erscheint daher ausnahmsweise vertretbar, die Tagessatzhöhe auf fünf Euro zu reduzieren. Im Übrigen hat der Angeklagte noch die Kosten des Verteidigers zu tragen und ist selber, durch den Verkehrsunfall verletzt worden.

Es ist daher davon auszugehen, dass bereits die Einleitung des Strafverfahrens und die nun folgende Kostenlast eine hinreichende Warnung und Belehrung für den bereits 66 Jahre alten Angeklagten darstellt.“

Strafzumessung III: Geschätze Vermögensverhältnisse, oder: Bitte doch die BaFin um Hilfe/Auskunft

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Und als dritte Entscheidung stelle ich dann zum Tagesschluss noch den OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.04.2021 – 2 RVs 11/21 – vor. Verurteilt worden ist der Angeklagte wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 25 EUR. Auf die Sprungrevision des Angeklagten hat das OLG im Strafausspruch aufgehoben:

„Das Amtsgericht hat eine Tagessatzhöhe von 25 Euro zugrunde gelegt, ohne Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten, der hierzu keine Angaben gemacht hat, zu treffen. Es kann nicht nachvollzogen werden, wie das Amtsgericht diesen Betrag ermittelt hat.

Zwar können die Einkünfte des Angeklagten, sein Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes geschätzt werden (§ 40 Abs. 3 StGB). Jedoch setzt eine Schätzung die konkrete Feststellung der Schätzungsgrundlagen und deren überprüfbare Darstellung in den Urteilsgründen voraus (vgl. BVerfG NStZ-RR 2015, 335; OLG Hamm StraFo 2001, 19; KG Berlin BeckRS 2016, 2914; OLG Zweibrücken ZfSch 2017, 649). Daran fehlt es hier. Soweit der Angeklagte im Urteilsrubrum als „Selbständiger“ bezeichnet worden ist, kommt dem schon mangels Angabe des Berufszweiges keine Aussagekraft zu. Auch ist nicht ersichtlich, worauf diese berufliche Einordnung beruht. Abgesehen davon sind Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten in den Urteilsgründen zu treffen.

Da es sich bei der Bestimmung der Tagessatzhöhe um einen abtrennbaren Teil des Strafausspruchs handelt, führt der Rechtsfehler nur insoweit zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung (vgl. BGH NStZ 1986, 547; BeckOK StPO/Wiedner, 39. Edition 2021, § 353 Rdn. 23).“

Insoweit nichts Weltbewegend Neues aus dem Rheinland. Aber: Interessant dann die „Handreichungen“ des OLG zur „Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung“. Da zeigt das OLG dem AG einen Weg, weist der Senat auf Folgendes hin:

„Zur Aufklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse eines Angeklagten, der hierzu keine Angaben macht, können in zwei Schritten Finanzermittlungen durchgeführt werden.

Zunächst kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) um Auskunft über die Kontostammdaten des Angeklagten ersucht werden (§ 24c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG). Ein solches Auskunftsersuchen ist nicht an eine bestimmte Schwere der zu verfolgenden Straftat gebunden und auch in Fällen nur leichter Kriminalität zulässig (vgl. OLG Stuttgart NStZ 2016, 48; BeckOK StPO/Sackreuther, 39. Edition 2021, § 161 Rdn. 5; Erb in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018, § 161 Rdn. 39). Denn der Gesetzgeber hat davon abgesehen, die durch § 24c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG eröffnete Auskunftsmöglichkeit auf bestimmte Katalogtaten zu beschränken. Vielmehr gelten die allgemeinen Regeln der §§ 152 Abs. 2, 160 StPO. Danach genügen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat (vgl. BT-Drucksache 14/8017, S. 123).

Das Auskunftsersuchen kann nach Anklageerhebung durch das mit der Sache befasste Gericht gestellt werden (vgl. BGH NJW 1981, 1052; OLG Stuttgart NStZ 2016, 48).

Nach Erhalt der Auskunft zu den Kontostammdaten können die betreffenden Kreditinstitute um Auskunft zu den dort geführten Konten des Angeklagten ersucht werden. Dies geschieht in der Praxis in der Weise, dass die Kreditinstitute in dem Auskunftsersuchen darauf hingewiesen werden, dass durch die Erteilung einer schriftlichen Auskunft (nebst Übersendung von Ablichtungen der zugehörigen Unterlagen) die Durchsuchung der Geschäftsräume oder die Zeugenvernehmung von Mitarbeitern abgewendet werden kann.

Um einen aussagekräftigen Überblick über die Einkünfte des Angeklagten zu erhalten, sollte sich die Auskunft zu Girokonten auf die Buchungen ca. des letzten Jahres erstrecken.

Die Auskunftsersuchen an die BaFin und die kontoführenden Kreditinstitute wären verhältnismäßig. Andere hinreichenden Erfolg versprechende Ermittlungsmaßnahmen stehen hier nicht zur Verfügung. So scheidet bei einem beruflich Selbständigen eine Befragung des Arbeitgebers zu Lohn- und Gehaltszahlungen aus.

Die Finanzermittlungen wären entbehrlich, wenn der Angeklagte rechtzeitig vor der neuen Hauptverhandlung schriftsätzlich konkrete Angaben zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen machen würde.“

Der letzte Satz musste m.E. nicht sein. Der Angeklagte wird die „Drohkulisse“ auch so verstanden haben.

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: Gesamtstrafübel, Nebenfolgen und/oder Corona

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Seit meinem letzten Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist wieder einiges an neuen Entscheidungenaufgelaufen. Daher kann ich dann heute wieder einige Entscheidungen vorstellen.

Ich starte mit zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar zunächst mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 02.202.2021 – 26 Qs 4/21. Gegenstand der Entscheidung: Beiordnung in den Fällen einer Gesamtstrafe. Das LG sagt/meint:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr anzunehmen. Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

Insoweit nicht viel Neues aus Stralsund, außer: Das haben wir immer schon so gemacht, was dieses Mal auch richtig ist.

Interessanter ist da schon der LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21. In ihm geht es auch um die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO. Und es geht auch um das sog. Gesamtstrafübel – hier Nebenfolge: Einziehung – und das „gepaart“ mit Corona. Dazu das LG:

„Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“

Strafzumessung II: Bemessung der Tagessatzhöhe, oder: Gewinne in Kryptowährung

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Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Celle, Beschl. v. 05.06.2020 – 3 Ss 16/20 – „schlummert“ schon etwas länger in meinem Blogordner. Heute stelle ich ihn dann aber endlich vor.

Er behandelt die Bemessung der Tagessatzhöhe. Das LG hat den Angeklagten wegen eines Verstoßes gegen das BtMG zu einer Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 300 EUR verurteilt. Dagegen hat sich der Angeklagte mit seiner auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und die Sachrüge gestützten Revision gewandt. Und die hatte Erfolg:.

„Die zulässig erhobene und wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision hat zum Teil Erfolg.

1. Die revisionsrechtliche Überprüfung auf die Sachrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im Ausspruch über die Höhe der Tagessätze mit den zugehörigen Feststellungen. Im Übrigen ist die Revision unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung einen (weitergehenden) Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben hat.

Die Festsetzung der Höhe der Tagessätze auf 300 EUR hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

a) Gemäß § 40 Abs. 2 StGB bestimmt das Gericht die Höhe eines Tagessatzes unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters, wobei in der Regel von dem Nettoeinkommen auszugehen ist, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte. Zwar hat das Tatgericht bei der Bemessung der Tagessatzhöhe einen weiten Beurteilungsspielraum (vgl. BGH NStZ 1993, 34). Weil es nicht möglich ist, in allen Fällen sämtliche Umstände, die für die Festsetzung des Nettoeinkommens von Bedeutung sein können, abschließend aufzuklären und ins Einzelne gehende Ermittlungen regelmäßig unverhältnismäßig wären, kommt der in § 40 Abs. 3 StGB geregelten Schätzung der Bemessungsgrundlagen besondere Bedeutung zu. Jedoch müssen die Grundlagen der Schätzung festgestellt und erwiesen sein sowie im Urteil überprüfbar mitgeteilt werden (BVerfG, Beschluss vom 1. Juni 2015 – 2 BvR 67/15, wistra 2015, 388). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht.

b) Das Landgericht hat ausgeführt, dass es der Ermittlung des durchschnittlichen Nettoeinkommens des Angeklagten die gesamten Einkünfte zugrunde gelegt hat, die dieser aus dem Handel mit Kryptowährungen bis einschließlich November 2019 erwirtschaftet hat. Gestützt auf die für glaubhaft erachtete Einlassung des Angeklagten hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte seinen Lebensunterhalt durch Investitionen in Kryptowährungen bestritt und dadurch von Mai bis einschließlich November 2019 „einen durchschnittlichen Gewinn von 25.000 Euro“ erzielte, während er zuvor von Januar bis einschließlich April 2019 keine Einkünfte erwirtschaftete. Diese im Jahre 2019 erzielten Gewinne waren „nach wie vor vorhanden und für den Angeklagten realisierbar“ (S. 4 UA). Er verwaltete sie „mittels eines sogenannten Wallets, einer elektronischen Geldbörse“. Aus den hiernach in elf Monaten insgesamt erwirtschafteten 175.000 Euro hat das Landgericht einen durchschnittlichen Gewinn von 15.900 Euro brutto pro Monat errechnet. Den monatlichen Nettogewinn hat es auf 9000 Euro geschätzt und auf dieser Grundlage eine Tagessatzhöhe von 300 Euro festgesetzt.

c) Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die getroffenen Feststellungen zu den Aktivitäten des Angeklagten im Handel mit Kryptowährungen tragen nicht die Schlussfolgerung, dass der Angeklagte in dem relevanten Betrachtungszeitraum ein monatliches Nettoeinkommen von 9000 Euro erzielt hat. Davon wäre erst dann auszugehen, wenn der Angeklagte den Bestand an Kryptowährungen in staatliche Währung umgewandelt und etwa als Gutschrift auf ein Bankkonto übertragen hätte. Dem steht jedoch die Feststellung entgegen, dass die Gewinne „für den Angeklagten realisierbar“ waren und nach wie vor mittels seines Wallets verwaltet wurden. Das bedeutet, dass es sich nach wie vor um Kryptowährung handelte. Der auf einem Wallet verwaltete Bestand an Kryptowährung stellt indes kein Einkommen, sondern einen „realisierbaren Vermögenswert“ dar (BGH, Beschluss vom 27. Juli 2017 – 1 StR 412/16, NStZ 2018, 401). Als solcher kann er zwar auch bei der Festsetzung der Höhe der Tagessätze Berücksichtigung finden. Dabei müssen jedoch die Grundsätze zur Anwendung kommen, die für die Berücksichtigung von Vermögen bei der Ermittlung des Einkommens aufgestellt worden sind (vgl. dazu Fischer StGB 67. Aufl. § 40 Rn. 12). Da die Umwandlungskurse von Kryptowährungen in Geld bekanntermaßen starken Schwankungen unterliegen, kann der Wert dieses Vermögensvorteils ohne nähere Feststellungen zur Art der Kryptonwährung und den Kursen im Betrachtungszeitraum nicht beurteilt werden.

Da die Festsetzung der Tagessatzhöhe in aller Regel losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt selbständig überprüft werden kann (vgl. BGHSt 27, 70, 72; 34, 90, 92) und hier keine Anhaltspunkte für eine andere Beurteilung bestehen, führt der festgestellte Mangel lediglich zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang und zu einer entsprechenden Zurückverweisung an das Berufungsgericht zur erneuten Festsetzung der Tagessatzhöhe. „