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Wiedereinsetzung II: Ausbleiben des Betroffenen, oder: Darf der Betroffene seinem Verteidiger vertrauen?

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Die zweite Entscheidung stammt aus einem OWi-Verfahren. Es ist (fast) ein Klassiker. Es geht nämlich um die Frage, ob ein Mandant auf die Auskunft seines Verteidigers, ein Termin werde nicht stattfinden, vertrauen darf.

Gegen den Betroffenen war ein Bußgeldbescheid ergangen. Der Verteidiger legte dagegen form- und fristgerecht Einspruch ein. Das Amtsgericht bestimmte darauf am Termin zur Hauptverhandlung auf den 06.06.2024, wobei das persönliche Erscheinen der Betroffenen angeordnet wurde.  Am 04.06.2024 beantragte der Verteidiger, den Hauptverhandlungstermin zu verlegen, da er wegen einer Lendenwirbelfraktur, die am 21. beziehungsweise am 24.05.2024 festgestellt worden sei, nicht reisefähig sei. Ab Mitte Juli d. J. könne er wieder Hauptverhandlungstermine wahrnehmen. Das AG forderte vom Verteidiger ein ärztliches Attest an (sic!).

Am 05. Juni 2024 lehnte das AG dann den Verlegungsantrag ab, da eine Arbeits- und/oder Reiseunfähigkeit (des Verteidigers) nicht ärztlich attestiert worden sei. Das AG verwarf in der Hauptverhandlung vom 06.06.2024 den Einspruch, da weder die Betroffene noch der Verteidiger erschienen waren.

Dagegen beantragte der Verteidiger die Zulassung der Rechtsbeschwerde und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das AG hat den Wiedereinsetzungsantrag verworfen.Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte beim LG Stuttgart mit dem LG Stuttgart, Beschl. v. 20.9.2024 – 17 Qs 46/24 – Erfolg:

„2. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

a) Soweit der Verteidiger den Wiedereinsetzungsantrag mit seiner eigenen Erkrankung be-gründet, kommt es darauf nicht an. Bereits nach dem Gesetzeswortlaut (§ 74 Abs. 2 OWIG) ist allein maßgeblich, ob der Betroffene – nicht sein Verteidiger – genügend entschuldigt war. Eine Erkrankung des Verteidigers vermag einen solchen Entschuldigungsgrund mithin grundsätzlich nicht darzustellen. Ob das Amtsgericht dem Verlegungsantrag hätte stattgeben müssen beziehungsweise ob die Voraussetzungen für die Verwerfung des Einspruchs unter diesen Umständen vorgelegen haben, ist nicht Gegenstand dieses Rechtsmittels.

b) Der Wiedereinsetzungsantrag war jedoch begründet, weil der Verteidiger schlüssig dargelegt und durch seine anwaltliche Versicherung glaubhaftgemacht hat, dass er der Betroffenen – über ihren Ehemann – mitgeteilt habe, dass „der Termin deshalb [wegen seiner Verhinderung] nicht stattfinden könne“.

Die Auskunft eines Verteidigers an einen Betroffenen, der Termin könne nicht stattfinden, ist – soweit keine besonderen Umstände vorliegen – geeignet, bei dem Betroffenen ein Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Auskunft zu begründen und schließt eine schuldhafte Säumnis im Termin aus (vgl. Senge in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage, § 74 Rn. 33).

Anhaltspunkte, dass seitens der Betroffenen Zweifel an der Richtigkeit der Auskunft ihres Verteidigers angebracht waren (vgl. hierzu KG, Beschluss vom 9. Mai 2012 – 3 Ws 260/12, Beck LSK 2012, 360619), sind dabei nicht ersichtlich. Liegen – aus Laiensicht – keine Anhaltspunkte für die Unzuverlässigkeit oder einen Irrtum des Verteidigers vor, darf er den Worten seines Verteidigers vertrauen, ohne dies hinterfragen zu müssen.

Soweit das OLG Brandenburg (Beschluss vom 27. September 2022 – 1 OLG 53 Ss-Owi 378/22) im Falle einer falschen Anweisung durch den Verteidiger, einem Termin fernzubleiben, mangels Entscheidungskompetenz des Verteidigers keine entschuldigende Wirkung zumisst, kommt es hierauf im hiesigen Fall nicht an, da sich der Verteidiger keine solche Entscheidungskompetenz zugesprochen hat, sondern bei lebensnaher Betrachtung für einen Laien den Anschein erweckt hat, der Termin sei oder werde (sicher) durch das Gericht aufgehoben.

Soweit das Amtsgericht darauf abstellt, der Verteidiger habe nicht dargelegt, die Betroffene auf eine bereits erfolgte Terminsaufhebung hingewiesen zu haben, ist solcher Vortrag nicht zwingend notwendig. Tatsächlich impliziert die Aussage des Verteidigers „der Termin könne nicht stattfinden“, dass die Terminsaufhebung durch das Gericht unvermeidlich sei beziehungsweise sicher erfolgen werde.

Im übrigen sind die Anforderungen an ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht zu überspannen, wenn es – wie hier – um einen erstmaligen Zugang zu Gericht geht.“

Strafbefehl I: Ein Reichsbürger als Angeklagter, oder: Wenn der Angeklagte nicht Angeklagter sein will

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In die neue Woche geht es dann mit zwei Entscheidungen aus dem Strafbefehlsverfahren.

Den Opener mache ich mit einer – für mich skurrilen – Verfahrenslage im Strafbefehlsverfahren. Es handelt sich um das AG Mönchengladbach-Rheydt, Urt. v. 17.09.2024 – 21 Cs-130 Js 322/24-358/24 -, über das ja auch schon anderweitig berichtet worden ist. Wenn man es liest, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Nicht über die Entscheidung sondern über den Angeklagten, der kein Angeklagter sein will.

Folgender Sachverhalt: Gegen den Angeklagten ist ein Strafbefehl wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung über eine Geldstrafe erlassen worden. Gegen den hat Angeklagte „sinngemäß Einspruch eingelegt“. Sowohl aus dem Einspruchsschreiben als auch aus mehreren weiteren Eingaben des Angeklagten war für das AG erkennbar, dass der Angeklagte dem Reichsbürgermilieu zuzuordnen ist und die Legitimation des Gerichts wie auch die Legitimität des Verfahrens in Zweifel zog.

Das Gericht beraumt dann Hauptverhandlung an, das persönliche Erscheinen des Angeklagten wird angeordnet und er wird über die Folge eines etwaigen Ausbleibens in der Hauptverhandlung ordnungsgemäß belehrt. Die Ladung wird dem Angeklagten ordnungsgemäß zugestellt worden (Anmerkung: In der veröffentlichten Entscheidung können die Daten nicht stimmen.

Bei Aufruf der Sache zur Hauptverhandlung erscheint im Saal dann

„eine männliche Person. Auf Nachfrage des Gerichts, ob sie der Angeklagte sei, erklärte diese: „Ich bin selbst nicht der Angeklagte. Aber ich bringe Ihnen den Angeklagten“, und legte die Abschrift einer Geburtsurkunde des Angeklagten auf die Angeklagtenbank. Die Person selbst blieb mittig im Saal stehen.

Der Richter forderte die männliche erschienene Person auf, auf der Angeklagtenbank Platz zu nehmen, sofern er der Angeklagte sei und wies darauf hin, dass er den Einspruch gegen den Strafbefehl verwerfen werde, wenn die Person sich nicht als der Angeklagte zu erkennen geben und als solcher an der Hauptverhandlung teilnehmen werde.

Die männliche Person erwiderte darauf: „Ich setzte mich nicht dahin, weil ich nicht der Angeklagte bin. Ich bin auch nicht hier, den Angeklagten zu verteidigen. Ich habe großen Respekt und bin mit diesem hierhergekommen. Die Person, die hier angeklagt wurde, ist hier. Das ist die Urkunde, die dort liegt. Ich bin nur ein Mensch. Ich bin als ein Angehöriger der Allgemeinheit hier anwesend. Ich bin ein Mensch. Eine Person kann nur benutzt werden. Der Angeklagte ist da, er ist diese Urkunde. Die Person ist die Geburtsurkunde. Wer für diese Person spricht, ist dem Staat überlassen. Ich als Angehöriger der Allgemeinheit bin für den Angeklagten heute da. Mir gehört aber die Person nicht. Dem Staat gehört die Person. Ich kann nicht für die Person sprechen. Ich habe kein Mandat des Staats, um die Person zu verteidigen. Wir sind alle nur Menschen. Sie sind auch nur ein Mensch und haben kein Recht, hier zu urteilen“.

Das AG hat den Einspruch dann verworfen:

„Die Entscheidung beruht auf §§ 412 S. 1, 329 Abs. 1 S. 1 StPO in entsprechender Anwendung. Nach dieser Norm ist der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl zu verwerfen, wenn weder er noch ein Verteidiger bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins erscheinen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist.

Vorliegend ist der Angeklagte zwar mutmaßlich körperlich erschienen, denn es spricht einiges dafür, dass eine Person, die Kenntnis von dem Hauptverhandlungstermin hat und über dessen Geburtsurkunde verfügt, der Angeklagte ist. Der Angeklagte hat aber seine Identität als die angeklagte Person nachhaltig bestritten und sich geweigert, in der Rolle des Angeklagten an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Dieser Fall steht bei wertender Betrachtung dem genannten gesetzlich geregelten Fall des Nichterscheinens gleich.

Der Normzweck der Ausnahmebestimmung über die Verwerfung der Berufung (der entsprechend auf die Verwerfung des Strafbefehls anwendbar ist) wegen Nichterscheinens des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung besteht darin, zu verhindern, dass der Angeklagte durch unentschuldigtes Ausbleiben, durch eigenmächtiges Sich-Entfernen oder durch schuldhafte Herbeiführung von Verhandlungsunfähigkeit den Abschluss des Verfahrens verzögert (vgl. Ullenboom, StV 2019, 643). Ziele einer Verwerfung der Berufung oder der Sachentscheidung in seiner Abwesenheit sind demnach die Beschleunigung des Verfahrens (vgl. BGH, Beschl. v. 10.08.1977 – 3 StR 240/77, NJW 1977, 2277) und die Missbrauchsabwehr (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 08.07.2013 – III-2 Ws 354/13, zit. n. juris). Für ein Erscheinen in diesem Sinne genügt vor diesem Hintergrund nicht schon jede körperliche Anwesenheit des Angeklagten, sondern es erfordert auch, eine Sachentscheidung über seine Berufung nicht dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht (vgl. BGH, Beschl. v. 06.10.1970 – 5 StR 199/70, NJW 1970, 2253; BGH, Urt. v. 03.04.1962 – 5 StR 580/61, NJW 1962, 1117). Zu fordern ist auch, sich als Angeklagter zu erkennen zu geben, auf Frage des Gerichts gemäß § 111 Abs. 1 OWiG Angaben zu seiner Identität zu machen und sich so als Angeklagter und Berufungsführer auszuweisen; hierdurch wird sein Recht, sich zur Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, nicht berührt (vgl. OLG Karlsruhe Beschl. v. 27.04.2022 – 1 Rv 34 Ss 173/22, BeckRS 2022, 9205; LG Berlin, Urt. v. 05.12.1996 – (574) 55/141 PLs 4163/95 Ns 93/96, NStZ-RR 1997, 338).

Die Anwesenheit des Angekl. im Fall des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO hat nämlich den Zweck, die Durchführung der Berufungshauptverhandlung zu ermöglichen, wozu die schlichte körperliche Anwesenheit des Angekl. nicht genügt; notwendig ist, dass der Angeklagte zum Zwecke der Durchführung der Hauptverhandlung erscheint. Der Ausdruck „nicht erschienen“ ist dann dahingehend zu verstehen, dass nur der Angeklagte erschienen ist, der leiblich am Ort der Hauptverhandlung zugegen ist, die Fähigkeit besitzt, an der Verhandlung verständig teilzunehmen, und die Bereitschaft aufweist, an der Verhandlung mitzuwirken. Ist der körperlich präsente Angekl. nicht bereit, durch seine Mitwirkung selbst und freiwillig die Voraussetzungen für die Durchführung der Berufungshauptverhandlung zu schaffen, die er veranlasst hat und die allein zu seinen Gunsten stattfindet, handelt er rechtsmissbräuchlich. Ändert er sein Verhalten trotz Hinweises des Vorsitzenden über die möglichen Konsequenzen gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht, verwirkt er sein Recht auf Durchführung der Berufung. Es gibt keine rechtlichen Interessen des Angeklagten, die ein solches Verhalten rechtfertigen könnten (vgl. LG Berlin, Urt. v. 05.12.1996 – (574) 55/141 PLs 4163/95 Ns 93/96, NStZ-RR 1997, 338).

Ähnlich verhält es sich hier. Wenn der Angeklagte aufgrund seines kruden Weltbildes meint, er könne sich nicht hinreichend mit der angeklagten Person identifizieren, um als diese an der Hauptverhandlung teilzunehmen, verhält er sich rechtsmissbräuchlich. Sein körperliches Erscheinen verfolgte erkennbar gerade nicht den Zweck der Teilnahme an der Hauptverhandlung über seinen Einspruch gegen den Strafbefehl, sondern vielmehr den Zweck eines Nasführens des Gerichts und eines Missbrauchs der strafrechtlichen Hauptverhandlung als Bühne für die Präsentation der Weltanschauung des Angeklagten. Damit hat der Angeklagte sein Recht auf die Durchführung der Hauptverhandlung verwirkt und sein Einspruch war zu verwerfen.“

Ohne weiteren Kommentar, da ich keine Zeit für eine Diskussion mit Sympathisanten 🙂 habe. Ich frage mich nur: Wie kann man nur so verwirrt sein? Und hätte ggf. nicht deshalb dem Angeklagten – der „männlichen Person“ – ein Pflichtverteidiger bestellt werden müssen nach § 140 Abs. 2 StPO. Der Kollege hätte es dann aber sicherlich nicht leicht gehabt.

OWi I: Wegen Wiedereinsetzung keine Verjährung, oder: Erfolg bei der Einspruchverwerfung

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Und heute dann mal wieder ein OWi-Tag. Aber: Nichts bahnbrechend Neues, sondern weitgehend „alter Wein in neuen Schläuchen“.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 28.03.2023 – 202 ObOWi 314/23 -, der zur Verfolgungsverjährung nach Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist Stellung nimmt und sich auch noch einmal zu den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 OWiG äußert.

Zur Wiedereinsetzung bzw. zur Frage des Eintritts der Verfolgungsverjährung führt das bayObLg aus:

„1. Eine Einstellung des Verfahrens kommt nicht in Betracht, weil das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung nicht eingetreten ist.

a) Die Verjährungsfrist betrug zunächst 3 Monate (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG) und begann mit Beendigung der Handlung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), hier also am 18.06.2020. Die Verjährung wurde jedenfalls durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020, der dem Betroffenen am 17.09.2020 zugestellt wurde, unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG), sodass ab diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG 6 Monate betrug.

b) Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft wurde die 6-monatige Verjährungsfrist durch den Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 rechtzeitig unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Zwar lagen zwischen der vorhergehenden Unterbrechungshandlung durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020 und dem Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 mehr als 6 Monate.

bb) Gleichwohl war die Verjährungsfrist zum letztgenannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Denn die durch die Zentrale Bußgeldstelle am 24.11.2020 bewilligte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist hatte zur Folge, dass die Verjährungsfrist neu zu laufen begann (vgl. BayObLG, Beschl. v. 16.03.2004 – 2 ObOWi 7/2004 = BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281 = VRS 106, 452 [2004]; Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 = BayObLGSt 1953, 179; OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.01.1978 – 1 Ws [B] 36/78 OWiG = BeckRS 2014, 21126; KG, Beschl. v. 04.04.2017 – 3 Ws [B] 43/17 = StraFo 2017, 460; OLG Naumburg, Beschl. v. 04.01.1995 – 1 Ss [B] 254/94 = VRS 88, 456 [1995]; BeckOK OWiG/Gertler OWiG § 31 Rn. 18; KK-OWiG/Ellbogen 5. Aufl. § 31 OWiG Rn. 37; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. 2016 § 46 Rn. 13; Göhler/Gürtler/Thoma OWiG 18. Aufl. Vor § 31 Rn. 2b; LK-StGB/Schmidt 12. Aufl. 2007 § 78 Rn. 10). Mit der Rechtskraft des Bußgeldbescheids, die (zunächst) aufgrund des Ablaufs der Einspruchsfrist eingetreten war, bestand für eine Verfolgungsverjährung nach § 31 OWiG kein Raum mehr; vielmehr lief stattdessen die Frist für die Vollstreckungsverjährung nach § 34 OWiG (OLG Hamm, Beschl. v. 23.05.1972 – 5 Ss OWi 363/72 = NJW 1972, 2097 = MDR 72, 885). Eine neue Verfolgungsverjährung kann in Fällen, in denen das Verfahrensrecht einen Eingriff in die Rechtskraft zulässt, erst zu dem Zeitpunkt beginnen, in dem das rechtskräftig verurteilende Erkenntnis beseitigt wird (BayObLG, Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die zur Beseitigung der bis dahin eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids führte, die bei Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheids noch nicht abgelaufene Frist für die Verfolgungsverjährung neu zu laufen begann. Mit der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist durch die Entscheidung der Verwaltungsbehörde vom 24.11.2020 wurde die Rechtskraft des Bußgeldbescheids nachträglich beseitigt. Dies hatte aber nicht etwa zur Folge, dass die ursprüngliche Frist für die Verfolgungsverjährung gleichsam rückwirkend wieder lief. Andernfalls würden für den säumigen Betroffenen Vorteile geschaffen, die er ohne seine Säumnis nicht gehabt hätte, was mit dem Zweck der Wiedereinsetzung nicht vereinbar wäre (OLG Hamm a.a.O.). Durch das Recht der Wiedereinsetzung sollen zwar dem Betroffenen, der unverschuldet eine Frist versäumt hat, keine Nachteile entstehen, eine Besserstellung seiner Rechtsposition ist durch die Vorschriften über die Wiedereinsetzung aber nicht intendiert.

2. In der Folgezeit wurden jeweils weitere Unterbrechungshandlungen vor Ablauf der 6-monatigen Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 11 OWiG rechtzeitig vorgenommen bis zu dem ersten in dem Verfahren nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangenen Verwerfungsurteil des Amtsgerichts vom 27.01.2022. Seit diesem Zeitpunkt ist der Verjährungsablauf gemäß § 32 Abs. 2 OWiG gehemmt. Der Umstand, dass auf Antrag des Betroffenen in der Folgezeit wegen Versäumung dieser Hauptverhandlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 74 Abs. 4 OWiG durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30.09.2022 bewilligt wurde, beseitigte die Ablaufhemmung nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 15.07.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = BeckRS 2008, 18098; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 OLGSt OWiG § 74 Nr 24; 09.07.2002 – 1 Ss 74/02 = BeckRS 2002, 31129484; KG, Beschl. v. 15.12.2021 – 3 Ws [B] 304/21 = BeckRS 2021, 45818).“

Aber dann zur Einspruchsveewerfung:

„3. Die Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht hinreichendes Entschuldigungsvorbringen vor der Hauptverhandlung rechtsfehlerhaft übergangen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, dass das Amtsgericht in unzulässiger Weise die Gründe des Urteils, die bereits vollständig im Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen waren, in einer weiteren Urteilsurkunde ergänzt hat. Die Urteilsgründe rechtfertigen die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht, weil der Betroffene hinreichend entschuldigt im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG war. Denn hierfür ist es ausreichend, dass er schlüssig Umstände vorträgt, die ihm die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar machen; eine Nachweispflicht trifft den Betroffenen nicht (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 = OLGSt OWiG § 74 Nr 26 m.w.N.). Die mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 13.12.2022 vor der Hauptverhandlung dem Amtsgericht mitgeteilten Gründe stellten bei vernünftiger Betrachtung ohne weiteres einen Entschuldigungsgrund in diesem Sinne dar, weil dort – neben dem Hinweis auf einen positiven Covid-19-Test – explizit vom „hohem Fieber, Erbrechen, Durchfall und schweren Erkältungssymptomen“ gesprochen wurde, was eine Unzumutbarkeit der Anreise und der Teilnahme des Betroffenen an der Hauptverhandlung bei verständiger Würdigung zweifelsfrei begründete. Über diesen Vortrag hat sich das Amtsgericht mit neben der Sache liegenden Erwägungen, nämlich unter Rekurs auf den fehlenden Nachweis der geltend gemachten Erkrankungssymptome und auf die nicht mehr bestehende Isolationspflicht in Bayern bei einer Infektion mit dem Corona-Virus, hinweggesetzt. Es hat dabei dem Vortrag des Betroffenen, dem es nicht darum ging, sich zu isolieren, sondern der geltend machen wollte, aufgrund krankheitsbedingter Beschwerden nicht zur Hauptverhandlung anreisen und an ihr teilnehmen zu können, kein Gehör geschenkt und zudem verkannt, dass den Betroffenen keine Nachweispflicht trifft.“

OWi III: Einspruchsverwerfung trotz ärztlichem Attest, oder: Das geht selbst in Bayern zu weit

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Die dritte und letzte Entscheidung, der BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 -, befasst sich dann noch einmal/mal wieder mit der Problematik der Einspruchsverwerfung trotz einer attestierten „voraussichtlichen“ Verhinderung. Der Einspruch des Betroffenen ist verworfen worden, obwohl der Betroffene zum Nachweis seiner Verhinderung ein ärztliches Attest vorgelegt hatte. Das hebt selbst das BayObLG auf:

„2. Die Verfahrensrüge ist auch begründet.

a) Der Begriff der ‚genügenden Entschuldigung‘ darf nicht eng ausgelegt werden. Ähnlich wie im Falle des 329 Abs. 1 Satz 1 StPO enthält § 74 Abs. 2 OWiG eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Angeklagten bzw. – wie hier – den Betroffenen nicht verhandelt werden darf. Die Regelung birgt damit nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Betroffenen das ihm nach Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte rechtliche Gehör entzogen wird. Deshalb ist bei der Prüfung der vorgebrachten oder vorliegenden Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Betroffenen geboten.

aa) Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betroffenen einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Betroffenen unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann. Entscheidend ist dabei nicht, ob sich der Betroffene genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist. Den Betroffenen trifft daher hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes grundsätzlich keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis; vielmehr muss das Gericht, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachgehen (st.Rspr., z.B. BGHSt 17, 391/396 f.; BGHR StPO § 329 Abs. 1 Satz 1 Ladung 1; BayObLGSt 2001, 14/16; 1998, 79/81; BayObLG, Beschl. v. 19.10.2004 – 1 Ob OWi 442/04; OLG Stuttgart DAR 2004, 165/166; OLG Bamberg, Urt. v. 26.2.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr 29 und Beschl. v. 06.03.2013 – 3 Ss 20/13 = OLGSt StPO § 329 Nr 32 sowie – jeweils zu § 74 Abs. 2 OWiG – OLG Bamberg, Beschl. v. 12.09.2007 – 3 Ss OWi 1140/06 = wistra 2007, 79; 01.2009 – 2 Ss OWi 1623/08 = NStZ-RR 2009, 150 = VerkMitt 2009 Nr 32 = NZV 2009, 303 = OLGSt OWiG § 74 Nr. 20; 28.11.2011 – 3 Ss OWi 1514/11 = ZfSch 2012, 230 = OLGSt StPO § 329 Nr 31 und 29.12.2010 – 2 Ss OWi 1939/10 = NZV 2011, 409; vgl. auch OLG Braunschweig, Beschl. v. 25.03.2010 – 3 Ss [OWiZ] 37/10 bei juris; KG, Beschl. v. 16.06.2010 – 3 Ws [B] 203/10 = VRS 119, 125 = DAR 2011, 146 und zuletzt neben OLG Bamberg, Beschl. v. 29.10.2018 – 3 Ss OWi 1464/18 = DAR 2019, 100 = NStZ 2019, 527; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 = OLGSt OWiG § 74 Nr 24; KG, Beschl. v. 27.08. 2018 – 3 Ws [B] 194/18 = VRS 134 [2018], 143 und 09.07.2019 – 122 Ss 68/19 bei juris sowie OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.08.2019 – 53 Ss-OWi 173/19 bei juris, jeweils m.w.N.).

bb) Bescheinigungen, insbesondere ärztliche Atteste haben daher so lange als genügende Entschuldigung zu gelten, als nicht deren Unglaubwürdigkeit oder Unbrauchbarkeit feststeht, es sei denn, das Vorbringen ist aus der Luft gegriffen oder sonst ganz offensichtlich ungeeignet, das Ausbleiben zu entschuldigen (BayObLGSt 2001, 14/16). Bloße Zweifel an einer genügenden Entschuldigung dürfen nicht zu Lasten des Betroffenen gehen. Das Gericht ist in diesem Fall vielmehr gehalten, seinen Zweifeln – gegebenenfalls im Wege des Freibeweises (BayObLGSt 1998, 79/82) – nachzugehen.

cc) Die Nachforschungsverpflichtung des Gerichts ist andererseits nicht grenzenlos. Ihre Auslösung setzt (wenigstens) voraus, dass der Betroffene vor der Hauptverhandlung schlüssig einen Sachverhalt vorträgt oder vortragen lässt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen, dem Gericht somit hinreichende Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zur Kenntnis gebracht sind (KG VRS 108, 110); nur dann ist er auch nicht verpflichtet, die Richtigkeit seines Vorbringens glaubhaft zu machen und durch Vorlage von geeigneten Unterlagen zu belegen (OLG Bamberg, Urt. v. 26.2.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr 29; BayObLGSt 1997, 145/147 f.; 1998, 79/81 f.). Eine andere Sicht wäre mit dem Gesetzeszweck, das Verfahren zu beschleunigen und den Betroffenen daran zu hindern, eine gerichtliche Entscheidung nach Gutdünken zu verzögern, indem er der Verhandlung fernbleibt, unvereinbar. In diesen Fällen muss das mit dem Beschleunigungsgebot konkurrierende Streben nach einer möglichst gerechten Sachentscheidung mit der Folge zurück treten, dass im Einzelfall auch ein möglicherweise sachlich unrichtiges Urteil in Kauf zu nehmen ist (BGHSt 23, 331/334 f.).

b) Nachdem der Betroffene über seinen Verteidiger am Vortage der für den 24.05.2019 anberaumten Hauptverhandlung dem Gericht per Telefax-Schreiben vom 23.05.2019 das unter dem 22.05.2019 ausgestellte und ärztlich unterzeichnete fachärztliche „Attest“ mit dem oben (unter II. 1.) mitgeteilten Inhalt übermittelte, war das Amtsgericht aufgrund der konkreten Hinweise auf einen berechtigten Entschuldigungsgrund auch noch im Zeitpunkt der Hauptverhandlung gehalten, diesem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachzugehen, insbesondere gegebenenfalls fortbestehende Zweifel selbst durch eine Anfrage bei den behandelnden und aus der Bescheinigung hervorgehenden Ärzten auch dann abzuklären, wenn – wie hier – aus der Bescheinigung vom 22.05.2019 aus naheliegenden Gründen ärztlicherseits und der Wahrhaftigkeit im Ausstellungszeitpunkt genügend „nur“ attestiert werden konnte, dass der Betroffene „voraussichtlich bis zum 24.05.2019 wege- und verhandlungsunfähig“ sein werde. Weiterer Erläuterungen oder eines weiteren Vortrags des Betroffenen bzw. seines Verteidigers bedurfte es entgegen der Auffassung des Amtsgerichts nicht. Insbesondere besteht bei einer – wie hier – überschaubaren Zeitspanne von nur wenigen Tagen bis zum Termin der Hauptverhandlung keine Verpflichtung, den Gesundheitszustand des Betroffenen womöglich im Stile täglicher ärztlicher Bulletins dem Gericht gegenüber mitzuteilen. Hinzu kommt, dass in der Vorlage der Bescheinigung durch den Betroffenen regelmäßig zugleich die Entbindung des ausstellenden Arztes von seiner Schweigepflicht enthalten ist. Gründe dafür, dass die Bescheinigung als erwiesen falsch oder sonst als offensichtlich unrichtig oder unzureichend anzusehen wäre, sind nicht ersichtlich. Vielmehr blieb für das Gericht gerade offen, ob dem Betroffenen ein Erscheinen am 24.05.2019 tatsächlich nicht zumutbar oder nicht möglich war, weshalb sein Ausbleiben nicht als unentschuldigt hätte angesehen werden dürfen.“

Der aufgezeigte Rechtsfehler zwingt den Senat zu Aufhebung des angefochtenen Urteils ….“ Schöne Formulierung, die deutlich macht, dass man so ganz glücklich mit der Entscheidung, zu der man „gezwungen“ ist, nicht ist.

OWi I: Die unvollständig übermittelte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, oder: Einspruchsverwerfung?

Der heutige Tag ist dem OWi-Verfahrensrecht gewidmet. Und ich eröffne ihn mit dem OLG Bamberg, Beschl. v. 29.10.2018 – 3 Ss OWi 1464/18. Thematik: Dauerbrenner Einspruchsverwerfung, und zwar hier nach einer unvollständig übermittelter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Das AG hatte verworfen, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) hatte Erfolg:

„1. Die Einspruchsverwerfung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil das AG den Begriff der ‚genügenden Entschuldigung‘ i.S.v. § 74 II OWiG verkannt und demgemäß das Fernbleiben des Betr. in der Hauptverhandlung zu Unrecht als nicht genügend entschuldigt angesehen hat, wodurch der Anspruch des Betr. auf rechtliches Gehör verletzt worden ist.

a) Der Begriff der „genügenden Entschuldigung darf nicht eng ausgelegt werden. Denn § 74 II OWiG enthält eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Betr. nicht verhandelt werden darf. Die Regelung birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichti-gen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Betr. das ihm nach Art. 103 I GG verbürg-te rechtliche Gehör entzogen wird. Deshalb ist bei der Prüfung der vorgebrachten oder vorliegenden Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Betr. gebo-ten (OLG Bamberg, Beschl. v. 06.03.2013 – 3 Ss 20/13 [für § 329 I Satz 1 StPO] = OLGSt StPO § 329 Nr 32).

b) Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betr. einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Betr. unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann. Entscheidend ist dabei nicht, ob sich der Betr. genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist. Den Betr. trifft daher hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes grund-sätzlich keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis; vielmehr muss das Gericht, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungs-grund vorliegt, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachgehen (st.Rspr.; vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 28.11.2011 – 3 Ss OWi 1514/11 = ZfS 2012, 230 = OLGSt StPO § 329 Nr 31 = GesR 2012, 231 sowie zuletzt u.a. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 und KG, Beschl. v. 27.08.2018 – 3 Ws [B] 194/18 [jeweils bei juris]). Ein Sachvortrag zum Entschuldigungsgrund der Erkrankung erfordert für seine Schlüssigkeit zumindest die Darlegung eines krankheitswertigen Zustandes. Dies kann durch die Vorlage ärztlicher Bescheinigungen erfolgen, ohne dass diesen die Art der Erkrankung zu entnehmen sein muss. Anderenfalls bedarf es zumindest ent-sprechenden Sachvortrags zu Art und Auswirkung der geltend gemachten Erkrankung, um dem Gericht die Grundlage für eine rechtliche Bewertung zu bieten, ob dem Betr. die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar ist. Die pauschale Mitteilung, der Betr. sei „erkrankt“, „bettlägerig erkrankt“ oder „plötzlich erkrankt“, genügt diesen Anforderungen deshalb nicht und begründet keine Verpflichtung des Gerichts, bei etwaigen Zweifeln weitere Feststellungen im Freibeweisverfahren zu treffen (vgl. schon OLG Bamberg, Beschl. v. 14.01.2009 – 2 Ss OWi 1623/08 = NStZ-RR 2009, 150 = VM 2009, Nr 32 = NZV 2009, 303 = OLGSt OWiG § 74 Nr 20; KG, Beschl. v. 18.01.2018 – 3 Ws [B] 5/18 – VRS 133, Nr 1; OLG Zweibrücken a.a.O.).

c) Bescheinigungen, insbesondere ärztliche Atteste haben andererseits so lange als genügende Entschuldigung zu gelten, als nicht deren Unglaubwürdigkeit oder Unbrauchbarkeit feststeht, es sei denn, das Vorbringen ist aus der Luft gegriffen oder sonst ganz offensichtlich ungeeignet, das Ausbleiben zu entschuldigen (OLG Bamberg a.a.O.; OLG Brandenburg, Beschl. v. 30.08.2016 – 53 Ss-OWi 491/16 [bei juris]; ferner schon BayObLGSt 2001, 14/16 und zuletzt KG a.a.O.). Bloße Zweifel an einer genügenden Entschuldigung dürfen nicht zu Lasten des Betr. gehen. Das Gericht ist in die-sem Fall vielmehr gehalten, seinen Zweifeln – ggf. im Wege des Freibeweises (BayObLGSt 1998, 79/82) – nachzugehen.

d) Die Nachforschungsverpflichtung des Gerichts ist gleichwohl nicht grenzenlos. Ihre Auslösung setzt (wenigstens) voraus, dass der Betr. vor der Hauptverhandlung schlüs-sig einen Sachverhalt vorträgt oder vortragen lässt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen, dem Gericht somit hinreichende Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zur Kenntnis gebracht sind; nur dann ist er auch nicht ver-pflichtet, die Richtigkeit seines Vorbringens glaubhaft zu machen und durch Vorlage von geeigneten Unterlagen zu belegen. Eine andere Sicht wäre mit dem Gesetzeszweck, das Verfahren zu beschleunigen und den Betr. daran zu hindern, eine gerichtliche Ent-scheidung nach Gutdünken zu verzögern, indem er der Verhandlung fernbleibt, unver-einbar. In diesen Fällen muss das mit dem Beschleunigungsgebot konkurrierende Stre-ben nach einer möglichst gerechten Sachentscheidung mit der Folge zurück treten, dass im Einzelfall auch ein möglicherweise sachlich unrichtiges Urteil in Kauf zu nehmen ist (BGHSt 23, 331/334 f.).

2. Nachdem der Betr. über seine Verteidigerin schon am Vortag der für den 01.08.2018 anberaumten Hauptverhandlung und im unmittelbaren zeitlichen Anschluss an ein an diesem Tag von seiner Verteidigerin mit der Vorsitzenden geführtes Telefonat dem Gericht per Telefax-Schreiben vom 31.07.2018 eine unter dem 27.07.2018 ausgestellte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Erstbescheinigung) für den Zeitraum vom 27.07.2018 bis „voraussichtlich […] einschließlich 10.08.2018“ mitsamt einem, wenn auch nicht vollständig lesbaren eingedruckten Diagnoseschlüssels übermittelte, war das AG aufgrund der konkreten Hinweise auf einen berechtigten Entschuldigungsgrund gehalten, diesem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachzugehen, insbesondere fortbestehende Zweifel durch eine Anfrage bei dem behandelnden Arzt abzuklären. Von dieser Verpflichtung wurde das Gericht schon aufgrund der Inhalte des vorangegangenen Telefonats mit der Verteidigerin und des Begleitschreibens der Verteidigung vom 31.07.2018 nicht dadurch entbunden, dass aus der übermittelten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der ausstellende Arzt – möglicherweise infolge einer falschen Zoomein-stellung des Übermittlungsgeräts – nicht entnommen werden konnte. Denn in der Vorlage des Attests durch den Betr. liegt regelmäßig zugleich die Entbindung des ausstellenden Arztes von seiner Schweigepflicht. Gründe dafür, dass das Attest als erwiesen falsch oder sonst als offensichtlich unrichtig oder unzureichend anzusehen wäre, sind nicht ersichtlich. Dies gilt erst recht, als die Verteidigerin noch vor dem Termin mit weiterem Telefax-Schreiben vom 01.08.2018 darauf hinwies, dass die übermittelte Arbeits-unfähigkeitsbescheinigung von der Hausärztin des Betr. ausgestellt wurde und von dieser „zunächst ein beidseitiges Lumbago“ diagnostiziert worden sei und mit dem Schreiben nochmals die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 27.07.2018 mitüber-sandte, wobei aufgrund des gegenüber der Erstübersendung günstigeren Bildausschnitts nunmehr neben der Praxisanschrift und Telefonnummer der behandelnden Ärztin einschließlich ihres Titels und Vornamens auf der Bescheinigung der aufgedruckte Diagnoseschlüssel bzw. ICD-Code „M54.5 G B“ ebenso ohne weiteres lesbar war wie die im Klartext aufgedruckte Beschreibung „Lumbago beidseitig“.“