Schlagwort-Archive: Beweiswürdigung

Beweiswürdigung III: Lückenlose Gesamtwürdigung, oder: Erfahrungssatz ohne Erfahrung

Bild von ar130405 auf Pixabay

Und zum Tagesschluss dann noch der BayObLG, Beschl. v. 03.02.2022 – 202 StRR 11/22 – zu einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung bei Bejahung des Tatentschlusses für den Versuch der gefährlichen Körperverletzung. Das AG hate den Angeklagten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte verurteilt. Das LG hat die dagegen gerichtete Berufung verworfen. Dagegen dann die Revision, die beim BayObLG Erfolg hatte. Das BayObLG beanstandet die Beweiswürdigung:

„2. Allerdings kann die Verurteilung aufgrund der Sachrüge keinen Bestand haben, weil das angefochtene Urteil sachlich-rechtliche Fehler aufweist.

a) Soweit für die Entscheidung des Senats relevant, hat die Berufungskammer folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am Abend des 24.01.2019 kam es im Anschluss an eine tätliche Auseinandersetzung des Angeklagten mit seiner Ehefrau in deren gemeinsamer Wohnung im zweiten Stock eines Mietshauses zu einem Polizeieinsatz, nachdem die Ehefrau vor dem randalierenden Angeklagten zu ihrem im ersten Stock des Anwesens wohnenden Nachbarn geflüchtet war. Die zunächst aus einer Polizeibeamtin und einem Polizeibeamten bestehende Streife vor Ort entschloss sich, Verstärkung anzufordern und nach deren Eintreffen zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Erteilung eines etwaigen Platzverweises den weiter lautstark randalierenden Angeklagten in dessen Wohnung aufzusuchen. Nach Eintreffen eines dritten Beamten begaben sich die beiden erstgenannten Beamten wieder in den 1. Stock, während sich der dritte Beamte noch im Treppenhaus auf dem Weg in den 1. Stock befand. In diesem Moment kam der Angeklagte aufgebracht und schreiend aus dem 2. Stock die Treppe hinunter, wobei er in der linken Hand einen ca. 0,95 Meter langen Birkenstock hielt und in der rechten Hand eine Axt mit einer Gesamtlänge von ca. 38 cm und geschärfter Klinge mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm. Er hielt dabei den Birkenstock mit angewinkeltem Arm halbhoch vor seinen Körper und die Axt zunächst etwa auf Schulterhöhe. Dabei schrie der Angeklagte Unverständliches. Auf die Aufforderung „Waffe weg“ der beiden bereits im 1. Stock befindlichen Polizeibeamten reagierte der Angeklagte nicht, obgleich beide Beamte ihren Einsatzstock zogen. Während diese daraufhin im Flur zurückwichen, ging der Angeklagte mit dem Holzstock und der erhobenen Axt weiter auf die [beiden] Beamten zu. Die Polizeibeamtin warf ihren Einsatzstock weg und ergriff ihre Dienstwaffe. Der Angeklagte bewegte sich dabei immer noch auf die [beiden] Beamten […] zu, wobei er die Axt so hielt, dass die scharfe, geschliffene Seite der Axt in deren Richtung zeigte. Trotz eines erneuten Rufs der Beamten „Waffe weg“, bewegte sich der Angeklagte jedoch weiterhin auf die [beiden] Polizeibeamtem zu und machte mit der Axt eine Ausholbewegung nach oben über seinen Kopf, um auf die Beamten einzuschlagen und diese durch Einsatz von Axt und Stock zu verletzen. Der Angeklagte handelte dabei in der Absicht, sich den polizeilichen Anordnungen zu widersetzen. Insbesondere weigerte er sich, Axt und Stock wegzulegen. Als sich der Angeklagte noch etwa 2 Meter von den beiden Beamten entfernt befand, gab der zur Verstärkung hinzugezogene, sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Treppe zum 1. Stock befindliche dritte Polizeibeamte aus dem Treppenhaus heraus insgesamt 5 Schüsse aus seiner Dienstpistole ab, die den Angeklagten jedoch verfehlten. Der Angeklagte wich jetzt zunächst ins Treppenhaus zum 2. Stock zurück, ehe er unmittelbar darauf von den Beamten nach Einsatz von Pfefferspray überwältigt werden konnte. Bei dem Versuch der drei Beamten, den Angeklagten am Boden zu fixieren und zu fesseln, leistete dieser weiterhin Widerstand, indem er die Arme unter dem Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Nur unter Einsatz von Kraftaufwand gelang es den drei Beamten, die Hände des Angeklagten auf den Rücken zu ziehen und diesen letztlich zu fesseln.

b) Die Beweiswürdigung ist zum festgestellten Tatentschluss, der auf die Verwirklichung einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22 StGB gerichtet ist, rechtsfehlerhaft. Dies erfasst zugleich den Schuldspruch wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte gemäß § 114 Abs. 1 StGB, weil dieser eine unmittelbar auf den Körper des Beamten zielende Einwirkung, die nicht zum Erfolg geführt haben muss, voraussetzt (vgl. zuletzt BayObLG, Beschl. v. 01.06.2021 – 202 StRR 54/21 bei juris), was durch die Beweiswürdigung ebenfalls nicht belegt wird.

…..

bb) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung der Berufungskammer nicht gerecht.

(1) Das Landgericht schließt aus dem objektiven Geschehen, nämlich das Erheben der Axt in eine „Ausholbewegung“ über den Kopf und dem Zugehen des Angeklagten auf die Polizeibeamten, darauf, dass „der Angeklagte sich im Begriff befand, auf die Beamten einzuschlagen und dabei eine Verletzung in Kauf zu nehmen“. Schon die Annahme des Landgerichts, das objektive Geschehen lasse „nur“ den von ihm gezogenen Schluss zu, ist nicht haltbar. Das Landgericht legt seiner Überzeugungsbildung einen Erfahrungssatz zugrunde, den es nicht gibt, und lässt außer Acht, dass das Verhalten des Angeklagten auch ohne weiteres dahingehend interpretiert werden könnte, dass er die Polizeibeamten mit der Verwirklichung bedrohen wollte. Mit der von der Berufungskammer gezogenen Schlussfolgerungen hat sie sich den Blick auf eine denkbare und keineswegs durch die Beweiswürdigung fehlerfrei ausgeschlossene Sachverhaltsalternative von vornherein verstellt. Dies gilt umso mehr, als es nicht darauf ankommt, wie die Polizeibeamten das Verhalten des Angeklagten in der konkreten Situation verstehen mussten. Denn aus ihrer Sicht, die darauf gerichtet sein musste, erforderliche Maßnahmen nach dem Polizeiaufgabengesetz zu treffen, war es allein maßgeblich, ob eine konkrete Gefahr oder zumindest eine Anscheinsgefahr bestand (vgl. Art. 11 Abs. 1 Satz 1, 84 Abs. 1 Nr. 1 PAG in der zur Tatzeit geltenden Fassung v. 18.05.2018). Im Strafverfahren geht es aber im Gegensatz dazu darum, ob dem Angeklagten die Begehung der ihm angelasteten Straftat positiv nachgewiesen werden kann.

(2) Die Berufungskammer hat überdies die zwingend erforderliche, an einer lückenlosen Beweiswürdigung auszurichtende Gesamtwürdigung unterlassen.

(a) Das Berufungsurteil trifft keine Feststellungen dazu, dass der Angeklagte Hiebbewegungen in Richtung der Beamten unternommen hätte. Gerade damit hätte sich der Tatrichter aber auseinandersetzen müssen, zumal – wie dargelegt – die Bedeutung der Ausholbewegung als solche ambivalent ist.

(b) Das weitere Tatgeschehen nach Überwältigung des Angeklagten mittels des Einsatzes von Pfefferspray durch die Polizeibeamten hat das Landgericht bei seiner Überzeugungsbildung ebenfalls nicht in seine Überlegungen eingestellt und offensichtlich deshalb insoweit nur lückenhafte Feststellungen getroffen. Das Berufungsurteil stellt insoweit fest, dass der Angeklagte, bei dem Versuch der Polizeibeamten, ihn am Boden zu fixieren und zu fesseln, weiterhin Widerstand leistete, indem er die Arme unter den Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Dazu, wo sich mittlerweile die zunächst in der Hand gehaltene Axt befand und ob der Angeklagte hierauf noch Zugriff hatte, verhält sich das Landgericht nicht. Im Rahmen der gebotenen Gesamtschau hätte aber auch dieses Verhalten des Angeklagten unmittelbar nach dem Tatgeschehen eventuell Rückschlüsse darauf zulassen können, ob es ihm darauf ankam, die Polizeibeamten tatsächlich mit der Axt zu verletzen oder nicht.“

Beweiswürdigung II: Lückenhafte Beweiswürdigung, oder: Wenn viele DNA-Spuren zum Angeklagten führen

In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Urt. v. 03.05.2022 – 6 StR 120/21 – geht es um die Beweiswürdigung in einem Verfahren wegen Mordes. Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf des Mordes und des Raubes mit Todesfolge freigesprochen. Dagegen die Revision der StA, die Erfolg hatte.

Das Landgericht hatte Folgendes festgestellt:

„Am 8. Dezember 2016 zwischen 13:10 Uhr und 13:30 Uhr kehrte die 82-jährige Rentnerin    K.     vom Einkaufen in ihre Wohnung zurück. Sie brachte Teile ihrer Einkäufe in die Küche, zog sich ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Noch bevor sie sich die Schuhe ausziehen konnte, wurde sie im Flur-/Küchenbereich ihrer Wohnung überfallen und nach heftiger Gegenwehr erwürgt. Bei dem Geschehen fügte ihr der Täter weitere massive Verletzungen zu. So waren mehrere Rippen gebrochen. Ein Rippenbruch führte zu einer Verletzung der Herzaußenwand. Die Rippenbrüche können durch ein Knien oder Sitzen des Täters auf ihrem Brustkorb entstanden sein. Die Geschädigte wies ferner zahlreiche Hämatome auf, unter anderem an beiden Oberarmen, wobei die Unterblutungen als Griffspuren interpretiert werden können. Zuletzt wurde ihr – nicht todesursächlich – eine Plastiktüte über den Kopf gezogen.

Die Wohnung wurde vom Täter durchwühlt. Der Geldbörse der Geschädigten wurden 80 Euro entnommen.

Der Angeklagte war unmittelbarer Wohnungsnachbar der Getöteten. Er hatte vor der Tat keine Kontakte mit ihr. Im Ermittlungsverfahren machte er unterschiedliche Angaben dazu, wo er sich zur Tatzeit aufgehalten hatte.

In der Wohnung wurden die folgenden DNA-Spuren gesichert:

– An der Bekleidung des rechten Oberarms des Opfers (Spur 02.006) wurde ein DNA-Merkmalsgemisch von mindestens zwei Personen festgestellt. Eine biostatistische Berechnung ergab, dass dessen Verursachung durch das Opfer und den Angeklagten 257 Trilliarden Mal wahrscheinlicher ist als eine Verursachung durch die Geschädigte und eine unbekannte Person.
– An der Außenseite (Spur 04.004.05.4) und am Kartenfächer-Druckknopf (Spur 04.004.05.6) der Geldbörse des Opfers wurde männliche DNA festgestellt, die mit derselben Wahrscheinlichkeit dem Angeklagten zuzuordnen ist.
– Am bekleideten rechten Oberarm (Spur 02.007) wurde ein autosomales Merkmalsgemisch von mindestens zwei Personen festgestellt. Bei der Untersuchung der Spur mit DYS-Marker wurden Merkmalsgemische von mindestens zwei männlichen Personen festgestellt. Die intensivsten Merkmale wurden dem Angeklagten zugeordnet.
– An der Hose, rechter Unterschenkel Knie bis Hosensaum, des Opfers (Spur 02.012) wurde ein autosomales Merkmalsgemisch von mindestens drei Personen festgestellt. Hauptverursacherin der Spur ist die Geschädigte. Die DYS-Marker-Untersuchung ergab, dass die Spur ferner durch mindestens zwei männliche Personen verursacht wurde. Der Angeklagte wurde als Hauptverursacher festgestellt.
– An der Bekleidung des Opfers, linker Brustbereich (Spur 02.018), wurden die autosomalen Merkmale der DNA-Mischspur der Geschädigten zugeordnet. Die DYS-Marker-Untersuchung ergab Gemische von mindestens zwei männlichen Personen, wobei die intensivsten Merkmale dem Angeklagten zuzuordnen waren.

Soweit die Merkmalsgemische auf andere männliche Verursacher hinwiesen, wurden die männlichen Bewohner des Mehrfamilienhauses sowie die nach der Entdeckung der Tat an und in der Wohnung tätigen Polizeibeamten und Rettungskräfte als Spurenverursacher ausgeschlossen.“

Das sachverständig beratene Landgericht hat sich nicht von der Täterschaft des Angeklagten mit einer zur Verurteilung ausreichenden Sicherheit überzeugen können. Zwar spreche die an der Geldbörse und am Leichnam sichergestellte DNA des Angeklagten in erheblichem Maße dafür, dass er die Tat begangen habe. Jedoch bestehe die konkrete Möglichkeit, dass die DNA des Angeklagten aus dem Treppenhaus durch Sekundär- oder Tertiärübertragung an den Tatort gelangt sei. Mehrere Personen hätten die Wohnung ohne Schutzkleidung betreten oder die Schutzkleidung bereits angezogen, bevor sie den Hauseingang des Mehrfamilienhauses betreten hätten. Zudem seien vor Eintreffen der Spurensicherungskräfte Veränderungen an der Leiche, insbesondere der Oberbekleidung, vorgenommen worden. Auch seien der Personalausweis und die Krankenkassenkarte des Opfers den Rettungskräften aus der Wohnung herausgegeben und anschließend wieder in die Wohnung verbracht sowie in die Geldbörse zurückgesteckt worden. Erst danach sei die Geldbörse auf Spuren untersucht worden.

Der BGH hat die Beweiswürdigung des LG als lückenhaft beanstandet:

„2. a) Entsprechend den Ausführungen der Beschwerdeführerin begegnet es durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass sich das Landgericht nicht näher mit der Aussagekraft der Ergebnisse der DYS-Marker-Untersuchungen betreffend die Spuren 02.007, 02.012 und 02.018 auseinandergesetzt und diese nicht erkennbar mit dem ihnen zukommenden Gewicht in seine Beweiswürdigung eingestellt hat.

Namentlich die beweiswürdigenden Ausführungen betreffend die Spur 02.012 an der Hose der Getöteten, wonach der Angeklagte als Mitverursacher insoweit (lediglich) nicht ausgeschlossen werden könne (UA S. 37), lassen besorgen, dass das Landgericht diesen Befunden letztlich überhaupt keinen Beweiswert beigemessen hat. Dafür spricht auch, dass es sich im Weiteren ausdrücklich nur mit den „DNA-Treffern“ befasst und die an der Hose gefundene Spur außer Acht lässt (UA S. 54). Damit wird aber verkannt, dass die Untersuchung mit DYS-Markern das Y-Chromosom betrifft, das in väterlicher Linie gekoppelt und von Mutationen abgesehen unverändert weitervererbt wird (vgl. LR-StPO/Sander, 27. Aufl., § 261 Rn. 171 mwN). Demgemäß kommen als Verursacher – worauf auch der Sachverständige hingewiesen hat (UA S. 37) – neben dem Angeklagten nur aus derselben väterlichen Linie stammende männliche Verwandte wie seine Brüder als Spurenverursacher in Betracht. Anhaltspunkte für eine Anwesenheit seiner Brüder sind aber nicht vorhanden.

b) Das angefochtene Urteil lässt eine umfassende Gewichtung der vorhandenen Beweisanzeichen vermissen. Der gerichtsbiologische Sachverständige hatte zwar ausgeführt, dass eine sekundäre oder tertiäre Übertragung von DNA an den Tatort „grundsätzlich immer möglich“ sei. Gegenständlich halte er eine solche Übertragung aber für unwahrscheinlich, weil die DNA des Angeklagten an zwei verschiedenen Orten, nämlich an der Leiche und an der Geldbörse, gefunden worden sei. Dem entspricht das durch den Senat eingeholte Gutachten des Sachverständigen für forensische DNA-Analyse Prof. Dr. Courts (Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Köln).

Vor diesem Hintergrund hätte es näherer Erörterung bedurft, dass sich vom Angeklagten herrührende Spuren an mehreren Stellen des Leichnams befanden (vgl. auch BGH, Urteil vom 12. Januar 2012 – 4 StR 499/11, NStZ 2012 648 [dort nicht abgedruckt] LR-StPO/Sander, aaO, § 261 Rn. 156; siehe auch Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger/Schneider/Schneider, NStZ 2022, 72, 75, 78). Dies gilt umso mehr, als mit dem Arm der Getöteten (multiple Druckmale) und ihrem Brustbereich (Rippenbrüche, vermutlich verursacht durch Knien oder Sitzen des Täters auf dem Brustkorb) Stellen betroffen waren, die nach den Feststellungen massiver Gewalthandlungen von Seiten des Täters ausgesetzt waren. Eine Überspannung der Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt es in diesem Zusammenhang dar, wenn die Jugendkammer darauf verweist, dass nicht habe festgestellt werden können, ob der Ort der jeweiligen Spuren exakt mit den Druckmalen korrespondiere. Denn dieser Umstand kann seine Erklärung zwanglos in einem Verrutschen der Kleidung finden. Den Urteilsgründen (UA S. 14 f.) lässt sich überdies nicht entnehmen, dass durch die Rettungskräfte bzw. Polizeibeamten gerade am Arm des Opfers Veränderungen vorgenommen wurden.

Schließlich fehlen Ausführungen dazu, ob die Gesamtheit der am Leichnam gefundenen Spuren Primärübertragungen so sehr nahelegen, dass aus sachverständiger Sicht ohnehin unwahrscheinliche sekundäre oder tertiäre Übertragungen aus dem Hausflur heraus nur noch theoretisch in Betracht kommen. Diese wären auch deswegen notwendig gewesen, weil in der Wohnung – was das Landgericht im Grundsatz nicht verkannt hat – keine Spuren von anderen den Hausflur wie der Angeklagte nutzenden männlichen Hausbewohnern, von den Rettungskräften oder den Polizeibeamten gefunden wurden.“

Beweiswürdigung I: Nur eingeschränkte Überprüfung, oder: Wenn das Tatgericht zu viele Fehler macht

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Ich meine, dass ich schon länger keine Entscheidungen zur Beweiswürdigungsfragen vorgestellt habe. Daher heute die Thematik.

Und ich eröffne mit dem schon etwas älteren BGH, Urt. v. 02.02.2022 – 5 StR 282/21. Ergangen ist die Entscheidung in einem BtM-Verfahren. Das LG hatte den Angeklagten vom Vorwurf des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in einer Vielzahl von Fällen freigesprochen. Dagegen hatte die StA Revision eingelegt, beschränkt auf einen Fall. Die Revision hatte Erfolg:

„Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

F., sein Bruder, der Mitangeklagte Fa. und zwei weitere Mitangeklagte waren aufgrund von Ermittlungsmaßnahmen in anderen Strafverfahren und daraufhin angeordneten Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen in den Verdacht geraten, am Betrieb eines Kokainlieferservice im B.er Stadtgebiet beteiligt zu sein, bei dem Kokain in Einheiten von 0,5 Gramm, abgefüllt in sogenannten Eppendorfgefäßen, telefonisch bestellt werden konnte und dann an der gewünschten Adresse angeliefert wurde.

Der Angeklagte lebte seit dem Jahr 2016 mit seiner damaligen Lebensgefährtin in deren Wohnung. Er blieb indes – wie sein Bruder, der zumindest zeitweise mit Frau und Tochter in einer anderen Wohnung in B. lebt – in der Dreizimmerwohnung der Mutter gemeldet. Der Angeklagte begab sich nach einem Streit mit seiner Lebensgefährtin etwa zwei bis drei Tage vor dem 26. Februar 2019 mit einer Reisetasche, Rasierzeug und Zahnbürste sowie einigen Kleidungsstücken in die Wohnung der Mutter, um dort in einem unbewohnten Zimmer zu übernachten. Bei der Durchsuchung am 26. Februar 2019 wurden in dem von dem Angeklagten genutzten Zimmer unter einem dort befindlichen Schreibtisch in einem Karton Eppendorfgefäße und fünf Druckverschlussbeutel gefunden sowie – daneben auf dem Boden liegend – insgesamt 221 Gramm Kokaingemisch teilweiser fester Substanz mit einem Wirkstoffgehalt von 182,9 Gramm Kokainhydrochlorid bei einer Messunsicherheit von +/- 5 %, verpackt in zwei Schnellverschlusstütchen und vier verknotete Kunststoffbeutel sowie eine kleine Feinwaage mit betäubungsmittelsuspekten Anhaftungen. An zwei der Kunststoffbeutel fanden sich im Knotenbereich DNA-Spuren des Angeklagten. Darüber hinaus wurden in dem Zimmer insgesamt elf Mobiltelefone sichergestellt, wovon sich acht Telefone in einer der Schreibtischschubladen befanden. Es handelte es sich um ältere Modelle, mindestens vier Modelle waren äußerlich defekt. Im Wohnzimmer wurde Bargeld in Höhe von 8.800 Euro in einer Stückelung von 14 x 500, 7 x 100‚ 21 x 50, 2 x 20 und 1 x 10 Euro in einer kleinen schwarzen Ledertasche unter einem Kissen der Couch sichergestellt; auch an dieser Ledertasche fanden sich DNA-Spuren des Angeklagten.

2. Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil ihm weder ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge noch der Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nachzuweisen gewesen sei. Dazu hat die Strafkammer ausgeführt: Dem Angeklagten sei seine Einlassung nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu widerlegen, dass er, als er das Zimmer bezogen habe, „verschiedene Tüten“ auf dem Schreibtisch vorgefunden und geöffnet und dabei „wahrgenommen [habe], dass es sich hierbei um Drogen handelte“. Er habe die Tüten daraufhin wieder verschlossen und unter den Schreibtisch auf eine Kiste geräumt, in die er nicht hineingeschaut habe; an eine Feinwaage habe er keine Erinnerung. Das Zimmer sei „zeitweise von verschiedenen Mitgliedern der Großfamilie F. […] bewohnt worden […] so dass auch mehrere Schlüssel zu der Wohnung existierten.“ Das Geld in der Geldtasche im Wohnzimmer unter den Sofakissen gehöre seiner Mutter, die nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 2017 eine Erbschaft von 9.000 Euro erhalten habe; davon habe er sich im Einverständnis mit ihr 200 Euro genommen, weil er Geld gebraucht habe. Zu den Mobiltelefonen könne er nur sagen, dass sein Bruder zu diesem Zeitpunkt in einem Reparatur- und Verkaufsladen für Mobiltelefone gearbeitet habe.

II.

Die während des Revisionsverfahrens wirksam auf den Teilfreispruch betreffend den Angeklagten im Fall VIII.3. der Urteilsgründe beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet, denn die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

1. Allerdings muss das Revisionsgericht es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa BGH, Urteile vom 10. November 2021 – 5 StR 127/21 Rn. 11; vom 4. November 2021 – 3 StR 105/21 Rn. 6, jeweils mwN).

2. Solche Rechtsfehler liegen hier vor. Denn die Beweiswürdigung weist Lücken auf, die Strafkammer hat falsche Maßstäbe angelegt und überzogene Anforderungen an ihre Überzeugungsbildung gestellt. Im Einzelnen:

a) Es erweist sich – jedenfalls mit Blick auf das Beweisergebnis im Übrigen – als rechtsfehlerhaft, dass das Landgericht den Angeklagten freigesprochen hat, weil es gemeint hat, mangels anderer Erkenntnisse nach der Beweisaufnahme seine Einlassung nicht widerlegen zu können. Nach dieser hätten andere Mitglieder der Familie F., von denen bereits einige wegen Betäubungsmittelhandels verurteilt wurden, zeitweise in dem freien Schlafzimmer in der Wohnung der Mutter gewohnt. Es sei „durchaus möglich“, dass der Angeklagte, der „aus einer drogenerfahrenen Familie stamme“, die Beutel mit Kokain nur geöffnet und dabei seine DNA-Spuren hinterlassen habe, weil er lediglich habe wissen wollen, „ob sich in allen Beuteln Kokain befand oder etwa beispielsweise auch oder nur Streckmittel.“

Der Umstand, dass das Landgericht davon ausgegangen ist, es müsse die Einlassung des Angeklagten „widerlegen“, deutet hier bereits darauf hin, dass es überzogene Anforderungen an seine Überzeugungsbildung angelegt hat. Denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat; auch entlastende Angaben des Angeklagten sind nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. November 2021 – 5 StR 127/21 Rn. 11 mwN).

Für die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten waren schon keine Anhaltspunkte ersichtlich: Er hat keinen – auch nur entfernten – Verwandten, der angeblich das Zimmer genutzt habe, namhaft gemacht, was sich als gegebenenfalls zu würdigendes Teilschweigen erweist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 2017 – 2 StR 258/16 Rn. 23). Konkrete tatsächliche Umstände, die dafür sprechen, dass jemand anders als der Angeklagte die Betäubungsmittel in das Zimmer gebracht hatte, hat die Strafkammer nicht festgestellt. Vielmehr war es der Angeklagte, der die Tüten mit Kokain nachweislich nicht nur flüchtig berührt, sondern auch verknotet hatte. Der pauschale Verweis der Strafkammer auf die „drogenerfahrene“ Familie des Angeklagten, innerhalb derer es bereits zu Verurteilungen wegen Betäubungsmittelhandels gekommen sei, bleibt insoweit gänzlich vage. Hinzu kommt, dass das von der Strafkammer unterstellte Motiv des Angeklagten für das angebliche Öffnen von zwei verknoteten Beuteln mit Kokain nicht einmal von ihm selbst in seiner Einlassung genannt worden ist. Nach alledem hat das Landgericht die naheliegende Möglichkeit außer Betracht gelassen, dass es sich bei der Einlassung des Angeklagten insoweit um eine bloße Schutzbehauptung handeln könnte.

Angesichts der – was die Strafkammer im Ansatz auch nicht verkannt hat – den Angeklagten in erheblichem Maße belastenden objektiven Beweismittel, namentlich der DNA-Spuren, aber auch der übrigen Auffindesituation, bestand hier zudem Anlass für eine besonders sorgfältige Erörterung der näheren Umstände der Einlassung. Insbesondere – zumal vor dem Hintergrund, dass das Urteil nichts zum Einlassungsverhalten vor der Hauptverhandlung mitteilt – hätte sich eine Auseinandersetzung damit aufgedrängt, ob die Angaben des Angeklagten in Kenntnis der Ergebnisse der abgeschlossenen Ermittlungen gemacht wurden und ihnen deswegen ein geringerer Beweiswert beizumessen sein könnte, weil der Angeklagte bei diesem Kenntnisstand die Möglichkeit hatte, seine Darstellung an die bisherigen Ermittlungserkenntnisse anzupassen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 5 StR 411/20, NStZ 2021, 319 mwN).

b) Rechtsfehlerhaft ist weiter, dass die Strafkammer die Einlassung des Angeklagten nicht – wie geboten – einer echten Plausibilitätsprüfung unterzogen und erschöpfend gewürdigt hat (vgl. etwa BGH, Urteil vom 10. Mai 2017 – 2 StR 258/16 Rn. 20). Denn an die Bewertung der Einlassung des Angeklagten sind die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel (vgl. BGH, Urteil vom 6. November 2003 – 4 StR 270/03, NStZ-RR 2004, 88; MüKo-StPO/Miebach, § 261 Rn. 167 mwN). Ein wesentlicher Gesichtspunkt der Glaubhaftigkeitsprüfung ist dabei die Plausibilität und Stimmigkeit der Einlassung an sich (vgl. BGH, Urteile vom 16. Dezember 2020 – 2 StR 209/20 Rn. 21 ff.; vom 5. November 2020 – 4 StR 381/20, NStZ 2021, 574 mwN; Beschluss vom 12. November 2019 – 5 StR 451/19 Rn. 7 mwN).

aa) Die Strafkammer hat ausweislich der Urteilsgründe lediglich die Einlassung des Angeklagten, er habe nur für ein paar Tage in dem Zimmer in der Wohnung seiner Mutter gewohnt, einer näheren Plausibilitätsprüfung unterzogen und insoweit ausgeführt, dafür spreche, dass sein Rasierzeug und die Zahnbürste in dem von ihm bewohnten Zimmer auf dem Schreibtisch gefunden worden seien und nicht im Badezimmer. Wie der Generalbundesanwalt indes zutreffend ausgeführt hat, ist es für die Frage, ob der Angeklagte im Zeitpunkt der Durchsuchung Betäubungsmittel in dem von ihm genutzten Zimmer aufbewahrte, um mit ihnen Handel zu treiben, bedeutungslos, ob er in der Wohnung seiner Mutter seinen Lebensmittelpunkt hatte oder sich nur vorübergehend dort aufhielt.

bb) Ungeprüft übernommen hat das Landgericht hingegen die angesichts des eingeräumten vorangegangenen Drogenfundes für sich genommen wenig plausible Erklärung, der Angeklagte habe in die unter dem Tisch stehende Kiste, in der sich die Eppendorfgefäße zur Portionierung und Auslieferung des Kokains befanden, nicht hineingeschaut, als er die Tüten mit Betäubungsmitteln eben darauf abgelegt habe und er habe an die ebenfalls dort liegende Feinwaage „keine Erinnerung“. Eine Plausibilitätsprüfung hätte die Frage ergeben, wie sich diese Einlassung und die darin zum Ausdruck gebrachte Indifferenz des Angeklagten gegenüber anderen zum Betäubungsmittelhandel dienenden Gegenständen mit dem ihm unterstellten Interesse am genauen Inhalt der mit Kokain befüllten Tüten in Einklang bringen lässt.

cc) Schließlich hat das Landgericht auch die Einlassung des Angeklagten, das im Wohnzimmer in einer Geldtasche mit DNA-Spuren von ihm aufgefundene Geld stamme aus einer Erbschaft der Mutter aus dem Jahr 2017 nicht der gebotenen kritischen Prüfung unterworfen. Diese hätte die Frage aufgeworfen, warum er ausgerechnet im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Wohnungsdurchsuchung von den von der Mutter ererbten 9.000 Euro, die bis dahin – also über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren – offenbar unangetastet blieben, Geld erhalten haben sollte und die Tasche danach nicht seiner Mutter zurück in ihr Zimmer gelegt, sondern im Wohnzimmer unter den Sofakissen versteckt haben will.

c) Jedenfalls angesichts der Gesamtheit der aufgezeigten Rechtsfehler kann der Freispruch des Angeklagten – auch eingedenk der eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts – keinen Bestand haben. Die Sache bedarf deshalb insoweit umfassender neuer Verhandlung und Entscheidung.“

Steuer I: Feststellungen im Steuerstrafverfahren, oder: Geeignete Schätzungsmethoden

Bild von Markus Winkler auf Pixabay

Thema Steuer? Ja, aber nicht das Steuer im Auto, sondern Steuerstrafrecht und was damit zu tun hat.

Und die erste Entscheidung ist dann der BGH, Beschl. v. 10.02.2022 – 1 StR 484/21 -, der sich zu  für das Steuerstrafverfahren geeigneten Schätzungsmethoden äußert.

Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen Steuerhinterziehung von Körperschaft- und Gewerbesteuer für die Besteuerungszeiträume 2009 bis 2013 sowie Umsatzsteuer in den Besteuerungszeiträumen 2010 bis 2013) verurteilt. Dabei hatte das LG seine Feststellungen zu den sich nach den Steuererklärungen ergebenden – eingetretenen oder erstrebten – Steuerverkürzungen auf eine Schätzung gestützt, weil Rechnungen über nicht in die Buchhaltung aufgenommene Warenumsätze nicht existent beziehungsweise auffindbar waren. Seiner Schätzung hatte das LG für die einzelnen Besteuerungszeiträume durchgeführte Warenverkehrsrechnungen zugrundegelegt und hierfür den Anfangsbestand und die Einkäufe gemäß Buchhaltung den Verkäufen gemäß Buchhaltung gegenübergestellt.

Der BGH hat aufgehoben, weil eingetretene oder erstrebte Steuerverkürzungen durch die landgerichtliche Schätzung nicht rechtsfehlerfrei belegt waren:

„a) Im Steuerstrafverfahren ist die Schätzung zulässig, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen aber ungewiss ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 29. Januar 2014 – 1 StR 561/13 Rn. 19; vom 20. Dezember 2016 – 1 StR 505/16 Rn. 14; vom 29. August 2018 – 1 StR 374/18 Rn. 7; vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 26 und vom 11. März 2021 – 1 StR 521/20 Rn. 11; jeweils mwN). Bei der Wahl der Schätzungsmethode hat das Tatgericht einen Beurteilungsspielraum; es muss jedoch nachvollziehbar darlegen, warum es sich der gewählten Schätzungsmethode bedient hat und weshalb diese im konkreten Fall für die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen geeignet ist (st. Rspr.; z.B. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2009 – 1 StR 283/09, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 4 Rn. 12 ff.; vom 14. Juni 2011 – 1 StR 90/11 Rn. 10; vom 8. August 2019 – 1 StR 87/19 Rn. 7 und vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 26 f.; jeweils mwN). Bei seiner Überzeugungsbildung hat das Tatgericht die vom Besteuerungsverfahren abweichenden strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze (§ 261 StPO) zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2017 – 1 StR 176/17 Rn. 6). Die Schätzungsgrundlagen sind in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar mitzuteilen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2009 – 1 StR 283/09, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 4 Rn. 12; vom 24. Mai 2017 – 1 StR 176/17 Rn. 6 und vom 25. November 2021 – 5 StR 211/20 Rn. 14).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Denn die der Schätzung zugrunde gelegten Warenverkehrsrechnungen auf Basis der angenommenen Doppelverkürzung auf Einnahmen- und Ausgabenseite sind nicht rechtsfehlerfrei durchgeführt worden.

aa) Eine Warenverkehrsrechnung ist grundsätzlich ebenso wie die Geldverkehrsrechnung eine auch für das Steuerstrafverfahren geeignete Schätzungsmethode (vgl. zur Geldverkehrsrechnung BGH, Beschluss vom 5. September 2019 – 1 StR 12/19 Rn. 27). Voraussetzung für eine belastbare Geld- oder Warenverkehrsrechnung ist aber stets, dass die Rechnung von einem gesicherten Anfangsbestand und einem gesicherten Endbestand ausgeht (st. Rspr.; grundlegend BFH, Urteil vom 21. Februar 1974 – I R 65/72, BFHE 112, 213 Rn. 12 ff., in der Folge u.a. BFH, Urteil vom 2. März 1982 – VIII R 225/80 Rn. 19 ff.; aus neuerer Zeit BFH, Urteil vom 12. Dezember 2017 – VIII R 5/14 Rn. 42; Beschluss vom 23. Februar 2018 – X B 65/17 Rn. 40).

bb) Dies ist hier nicht der Fall. Dass die sich aus den Inventurlisten der B.    GmbH ergebenden Anfangs- und Endbestände den tatsächlichen Warenbeständen zum jeweiligen Stichtag entsprachen, ist nicht rechtsfehlerfrei belegt.

(1) Die Beweiswürdigung ist allerdings Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen die Denkgesetze oder gegen gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; z.B. BGH, Urteil vom 16. Januar 2020 – 1 StR 89/19, BGHSt 64, 252, Rn. 23 mwN).

(2) Diesen Anforderungen wird die landgerichtliche Beweiswürdigung nicht gerecht. Sie erweist sich mit Blick auf die den Warenverkehrsrechnungen jeweils zugrunde gelegten Anfangs- und Endbestände als lückenhaft. Trotz Annahme einer Doppelverkürzung auf Wareneingangs- und Warenausgangsseite hat das Landgericht seinen Warenverkehrsrechnungen die vom Angeklagten beziehungsweise dem Zeugen E.   nach jeweiliger Inventur dokumentierten Anfangs- und Endbestände zugrunde gelegt und ergänzend darauf verwiesen, dass der Angeklagte und der Zeuge E.   angegeben hätten, die Inventurübersichten seien zutreffend. An einer Begründung, warum die Strafkammer die Inventuraufstellungen für zutreffend hält und den diesbezüglichen Angaben des Angeklagten und des Zeugen E.   folgt, obwohl sie sowohl die Aufzeichnungen des Angeklagten und des Zeugen E.   für die Buchhaltung der B.    GmbH für unrichtig hält als auch deren Angaben zur vollständigen Erfassung der Warenumsätze in der Buchhaltung im Übrigen als unglaubhaft erachtet, fehlt es indes (vgl. zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung, wenn das Gericht einer Zeugenaussage nur teilweise glauben will, BGH, Urteil vom 28. Oktober 2021 – 4 StR 118/21 Rn. 18 mwN). Mit der sich als naheliegend aufdrängenden Möglichkeit, dass die sich aus den Inventuraufstellungen ergebenden Warenanfangs- und Endbestände eines jeden Jahres ebenso wie die Buchhaltung der B.    GmbH im Übrigen unzutreffend sein könnten, hat sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt….“

StPO III: Nichtgewährung des Konfrontationsrechts, oder: Anforderungen an die Beweiswürdigung

Bild von Arek Socha auf Pixabay

Und dann als letztes Posting des Tages noch etwas zum sog. Konfrontationsrecht. Dau hat sich noch einmal der BGH, Beschl. v. 13.01.2022 – 3 StR 341/21 – geäußert.

Der Angeklagte ist wegen Verstöße gegen das BtMG verurteilt worden. Der Verurteilung sind Angaben eines S.  zugrunde gelegt worden, die dieser in der Hauptverhandlung des gegen ihn geführten Verfahrens als Angeklagter im Rahmen einer umfassend geständige Einlassung abgegeben hatte. In der Hauptverhandlung im Verfahren gegen den Angeklagaten hat S. ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO geltend gemacht, das ihm – ungeachtet der Rechtskraft seiner Verurteilung – vom Vorsitzenden zugebilligt worden ist. Die Strafkammer hat daraufhin einen an dem gegen S. geführten Verfahren beteiligten Richter als Zeugen vernommen. Sie hat ihre Feststellungen zur Tatbeteiligung des Angeklagten und damit zu dessen Verurteilung wesentlich auf die Angaben des S. in dessen Strafverfahren gestützt. Der BGH hat das nicht beanstandet:

„(2) Die Beweiswürdigung genügt auch den besonderen Anforderungen, die daraus resultieren, dass der Zeuge S. in der Hauptverhandlung nicht hat vernommen werden können und damit das aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK resultierende Recht des Angeklagten, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen (Konfrontationsrecht), nicht gewährleistet worden ist.

(a) Das von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK garantierte Recht des Angeklagten auf konfrontative Befragung von Belastungszeugen stellt eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK dar. Ob die fehlende Gelegenheit für den Angeklagten beziehungsweise seinen Verteidiger, einen Zeugen selbst zu befragen, eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK begründet, hängt daher von einer einzelfallbezogenen Gesamtwürdigung ab (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10,StV 2017, 213Rn. 100 f.; BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2009 – 2 BvR 547/08 , NJW 2010, 925, 926; BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16 , NStZ 2018, 51, 52; Beschlüsse vom 17. März 2010 – 2 StR 397/09 , BGHSt 55, 70 Rn. 16; vom 29. November 2006 – 1 StR 493/06 , BGHSt 51, 150 Rn. 16; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 8. Aufl., Art. 6 EMRK Rn. 95, 97 f., 109). Dabei ist nicht nur in Rechnung zu stellen, ob die Nichtgewährung des Konfrontationsrechts im Zurechnungsbereich der Justiz liegt, sondern vor allem auch in den Blick zu nehmen, mit welchem Gewicht die Verurteilung des Angeklagten auf die Bekundungen eines nicht konfrontativ befragten Zeugen gestützt worden ist und ob das Gericht die Unmöglichkeit der Befragung des Zeugen durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger kompensiert hat, namentlich durch eine besonders kritische und zurückhaltende Würdigung der Bekundungen des Zeugen (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10,StV 2017, 213Rn. 107 ff.; BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16 , NStZ 2018, 51, 52 ff.; Beschluss vom 26. April 2017 – 1 StR 32/17 , NStZ 2017, 602, 603).

(b) Bei Nichtgewährleistung des Rechts auf konfrontative Befragung nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK ist daher zum einen eine besonders sorgfältige und kritische Überprüfung der Aussage des betreffenden Belastungszeugen geboten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2009 – 2 BvR 547/08 , NJW 2010, 925, 926; BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16 , NStZ 2018, 51, 53 f.; Beschluss vom 22. Juni 2005 – 2 StR 4/05 , BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d Fragerecht 5; Urteil vom 25. Juli 2000 – 1 StR 169/00 , BGHSt 46, 93, 106 ; s. auch EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10,StV 2017, 213Rn. 126; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 8. Aufl., Art. 6 EMRK Rn. 106). Dies gilt auch in der hier vorliegenden Fallkonstellation, in der es um die Würdigung der früheren Einlassung eines möglichen Mittäters geht, der in der Hauptverhandlung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. August 2021 – 5 StR 223/21 , juris Rn. 3, 8; vom 12. Mai 2020 – 1 StR 596/19 , NStZ 2021, 183 Rn. 7; vom 15. Januar 2020 – 2 StR 352/18 ,StV 2020, 805Rn. 23 f.; vom 9. Januar 2020 – 2 StR 355/19 , juris Rn. 11; Urteile vom 19. Februar 2015 – 3 StR 597/14 , juris Rn. 6; vom 16. April 2014 – 1 StR 638/13 , NStZ-RR 2014, 246, 248 f.; Beschluss vom 22. Juni 2005 – 2 StR 4/05 , BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d Fragerecht 5).

Zum anderen darf eine Feststellung zu Lasten des Angeklagten regelmäßig – allerdings nicht zwingend (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10,StV 2017, 213Rn. 107 ff.; BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16 , NStZ 2018, 51, 52 ff.) – nur dann auf eine frühere Aussage des Zeugen gestützt werden, wenn sie durch andere wichtige und in unmittelbarem Tatbezug stehende Gesichtspunkte außerhalb der Aussage selbst bestätigt worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2009 – 2 BvR 547/08 , NJW 2010, 925, 926; BGH, Beschluss vom 31. August 2021 – 5 StR 223/21 , juris Rn. 8; Urteil vom 19. Februar 2015 – 3 StR 597/14 , juris Rn. 6; Beschlüsse vom 17. März 2010 – 2 StR 397/09 , BGHSt 55, 70 Rn. 16 f.; vom 22. Juni 2005 – 2 StR 4/05 , BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d Fragerecht 5; Urteil vom 25. Juli 2000 – 1 StR 169/00 , BGHSt 46, 93, 106 ; s. auch EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10,StV 2017, 213Rn. 123 ff.; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 8. Aufl., Art. 6 EMRK Rn. 107).

(c) Da sich S. auf ein ihm zugebilligtes Auskunftsverweigerungsrecht und damit die auch konventionsrechtlich anerkannte Selbstbelastungsfreiheit berufen hat, liegt der Nichtgewährung des Konfrontationsrechts kein justizielles Verschulden zu Grunde (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 2014 – 1 StR 638/13 , NStZ-RR 2014, 246, 248 mwN; EGMR, Urteil vom 19. Juli 2012 – 29881/07, JR 2013, 170 Rn. 58 ff.; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 8. Aufl., Art. 6 EMRK Rn. 102). Das Landgericht hat den Umstand der unterbliebenen konfrontativen Befragung des Zeugen gesehen und in eine kritische Beurteilung der Glaubhaftigkeit seiner Angaben eingestellt. Vor allem aber hat die Strafkammer ihre Überzeugung von der Schuld des Angeklagten nicht ausschließlich auf die nur mittelbar in die Hauptverhandlung eingeführten Angaben des S. gestützt. Denn sie hat frei von Rechtsfehlern den Bekundungen der Zeugen Se. und S. N. sowie der vernommenen Polizeibeamtin zu dem Vorfall am 2. November 2019 insbesondere vor dem Hintergrund, dass auch S. zu den bedrohten und zur Zahlung aufgeforderten Personen gehörte und dieser zudem einen “ “ als zur Gruppe der „Geldeintreiber“ gehörend bezeichnet hat, Indizwert für die Richtigkeit der Einlassung des S. in dem gegen ihn geführten Verfahren und damit für die Schuld des Angeklagten beigemessen. Damit ist auch den besonderen konventionsrechtlichen Anforderungen an die Beweiswürdigung Genüge getan.

(3) Zwar hat sich die Strafkammer in den Urteilsgründen nicht ausdrücklich beweiswürdigend damit auseinandergesetzt, dass der Zeuge S. sich in der Hauptverhandlung auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen und keine Angaben gemacht hat. Dies stellt hier jedoch – anders, als der Angeklagte und diesem folgend der Generalbundesanwalt meinen – keinen Rechtsfehler dar.

Der Vorsitzende der Strafkammer hat dem S. ausweislich der Urteilsgründe ein Auskunftsverweigerungsrecht zugebilligt, obgleich dieser wegen seiner Tatbeteiligung zum Vernehmungszeitpunkt bereits rechtskräftig verurteilt war. Das Urteil verhält sich nicht zu den vom Zeugen insofern geltend gemachten Gründen, insbesondere nicht dazu, ob der Zeuge vorgebracht hat, bei einer wahrheitsgemäßen Aussage laufe er Gefahr, sich im Hinblick auf den Verdacht der Straftat einer falschen Verdächtigung selbst zu belasten, weil sich herausstellen könne, dass er bei seiner Einlassung als Angeklagter in dem gegen ihn geführten Strafverfahren eine andere Person zu Unrecht einer Straftat bezichtigt habe (vgl. zur Ungeeignetheit einer solchen Behauptung, bei Fehlen konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte für frühere Falschangaben ein Auskunftsverweigerungsrecht zu begründen, OLG Hamm, Beschluss vom 28. Oktober 2014 – 5 Ws 375/14 , NStZ-RR 2015, 49, 50; KK-StPO/Bader, 8. Aufl., § 55 Rn. 9 mwN; s. auch BGH, Urteil vom 6. April 2017 – 3 StR 5/17 , NStZ 2017, 546, 547; Beschluss vom 1. Juni 1994 – StB 10/94 , BGHR StPO § 55 Abs. 1 Auskunftsverweigerung 4 ).

Die Strafkammer ist indes nicht in sachlich-rechtlicher Hinsicht gehalten gewesen, sich mit dem vom Zeugen vorgebrachten und vom Gericht akzeptierten Rechtsgrund für seine Berufung auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO in der Beweiswürdigung explizit auseinanderzusetzen. Ob eine derartige Erörterung geboten ist, lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern ist von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig (vgl. zur Pflicht einer kritischen Würdigung der Berufung eines Belastungszeugen auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO und zu deren Darlegung in den Urteilsgründen BGH, Beschluss vom 12. Mai 2020 – 1 StR 596/19 , NStZ 2021, 183 Rn. 11 f.; Urteil vom 23. Januar 2002 – 5 StR 130/01 , BGHSt 47, 220, 223 f. ; Beschluss vom 14. Februar 1984 – 5 StR 895/83 ,StV 1984, 233).

Vorliegend lassen die im Rahmen der sachlich-rechtlichen Nachprüfung des Urteils allein maßgeblichen Urteilsgründe keine Umstände aufscheinen, die ein solches Erörterungserfordernis begründen würden. Vielmehr zeigen sie gewichtige Beweisanzeichen auf, die für die Richtigkeit der früheren Angaben des S. sprechen. Hinweise, die auf eine frühere Falschbelastung des Angeklagten durch S. hindeuteten, sind ihnen nicht zu entnehmen. Zudem enthalten die Urteilsgründe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge ein Auskunftsverweigerungsrecht tatsächlich mit der vorgenannten Behauptung für sich in Anspruch genommen hat und sich eine solche Begründung gerade auf vermeintlich falsche frühere Angaben zum Nachteil des Angeklagten bezog.“