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Rechtsmittel I: Das „fehlerhafte Rechtsverständnis der Verteidigerin“, oder: „Herr lass Hirn vom Himmel regnen“.

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Heute ist Christi Himmelfahrt und damit dann auch Vatertag. Daher zunächst allen Väter und Großväter 🙂 herzliche Grüße und einen schönen Tag, ob mit oder ohne Bollerwagen. Wenn mit Bollerwagen: Immer daran denken: Abstand halten.

Und wegen des Vatertages fange ich hier heute etwas später an, aber: Normales Programm 🙂 , also drei Entscheidungen. Der Themenkreis heute: Rechtsmittel und was dazugehört.

Und den Opener macht der BGH, Beschl. v. 11.03.2020 – 4 StR 68/20. Es geht um die Revision eines Angeklagten gegen ein Urteil des LG Bielefeld, durch das der Angeklagte u.a. wegen schwerer räuberischer Erpressung iu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden. Das LG hat durch Beschluss vom 11.12.2019 die rechtzeitig eingelegte Revision des Angeklagten gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, weil weder er selbst zu Protokoll der Geschäftsstelle noch seine Verteidigerin einen Revisionsantrag gestellt oder die Revision begründet haben. Gegen diesen – ihr am 17.12.2019 zugestellten – Beschluss hat die Verteidigerin des Angeklagten am 24.12.2019 die Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO beantragt. Sie hat ferner zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Revisionsbegründung beantragt.

Der BGH hat den Wiedereinsetzungantrag als unzulässig zurückverwiesen:

„1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision ist unzulässig.

a) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden gehindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO). Innerhalb der Antragsfrist von einer Woche ist die versäumte Handlung nachzuholen (§ 45 Abs. 2 Satz 2 StPO). Letzteres ist nicht erfolgt. Weder das Schreiben des Angeklagten vom 19. Dezember 2019 noch der Antrag der Verteidigerin vom 24. Dezember 2019 enthält eine Begründung der Revision in der durch § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form. Eine Revisionsbegründung ist auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vorgelegt worden.

b) An der Verwerfung des Wiedereinsetzungsgesuchs ist der Senat nicht ausnahmsweise aus dem in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK gewährleisteten Recht eines Angeklagten auf tatsächliche und wirksame Verteidigung als besonderer Aspekt des nach Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren (EGMR, Slg. 1999-I Nr. 27 – Van Geyseghem/Belgien, NJW 1999, 2353) gehindert. Die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geforderten Maßnahmen zur Kompensierung des hier vorliegenden Verteidigerverschuldens wurden im vorliegenden Fall ergriffen.

aa) Die Verteidigerin hat nicht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre (vgl. BVerfG, NJW 1983, 2762, 2765; BGH, Beschluss vom 18. Januar 2018 – 4 StR 610/17 Rn. 2), die Revision des Angeklagten form- und fristgerecht begründet und auch beim Stellen des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Nachholung dieser versäumten Handlung unterlassen. Dieses Unterlassen gründet ersichtlich auf einem fehlerhaften Rechtsverständnis der Verteidigerin über die Wirkung einer Pflichtverteidigerbestellung. Die Beiordnung als Pflichtverteidiger endet entgegen der im Wiedereinsetzungsgesuch geäußerten Auffassung der Verteidigerin nicht etwa mit Einlegung der Revision, sondern wirkt über die erste Instanz hinaus für das gesamte Verfahren und erfasst damit auch die Revisionsbegründung (so ausdrücklich nun § 143 Abs. 1 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019, BGBl. I S. 2128); ausgenommen war bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung vom 17. Dezember 2018 (BGBl. I, 2018; S. 2571) lediglich die Revisionshauptverhandlung (zur früheren Rechtslage: Willnow in KK-StPO, 8. Aufl., § 141 StPO Rn. 10).

bb) Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat allerdings nur ausnahmsweise angelastet werden, da die Führung der Verteidigung Sache des Angeklagten und seines Verteidigers ist, einerlei ob er staatlich bestellt oder vom Mandanten ausgewählt und bezahlt wird. Für Behörden und Gerichte besteht eine Verpflichtung zum Eingreifen nur, wenn das Versagen eines Pflichtverteidigers offenkundig ist oder wenn sie davon unterrichtet werden (EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2002 – 38830/97 – Czekalla/Portugal, NJW 2003, 1229; EGMR, Urteil vom 22. März 2007 – 59519/00 . Staroszczyk/Polen, NJW 2008, 2317). So ist das Gericht an der Verwerfung eines Rechtsmittels nur gehindert und zum Eingreifen verpflichtet, wenn die eindeutige Missachtung einer reinen Formvorschrift durch den Pflichtverteidiger zur Folge hat, dass dem Betroffenen ein ihm an sich zustehendes Rechtsmittel genommen wird, ohne dass dies von einem höherrangigen Gericht bereinigt wird. Ein derartiges „offenkundiges Versagen“ macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „positive Maßnahme seitens der zuständigen Behörden“ erforderlich, wozu beispielsweise die Aufforderung an die Pflichtverteidigerin gehört, ihren Schriftsatz zu ergänzen oder zu berichtigen (EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2002 – 38830/97 . Czekalla/Portugal, NJW 2003, 1229, 1230).

cc) Letzteren Anforderungen genügt der Verfahrensgang. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei der von § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich geforderten Nachholung der Revisionsbegründung als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Wiedereinsetzung um eine „reine Formvorschrift“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt. Jedenfalls ist dem Erfordernis einer positiven Maßnahme durch die zuständige Behörde zur Beseitigung des „Versagens“ vorliegend Genüge getan: Die der Verteidigerin und dem Angeklagten zugestellte Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 7. Februar 2020 weist eindeutig auf das Fehlen der Revisionsbegründung als . einzigem . Hindernis für die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs hin. Die erforderlichen Reaktionen hierauf sind nicht erfolgt.

dd) Es liegt auch keine Häufung außerordentlicher Umstände vor, die eine darüber hinaus gehende Flexibilität in der Rechtsgewährung fordert, um sicherzustellen, dass der Zugang zum Gericht nicht konventionswidrig eingeschränkt wird (EGMR, Urteil vom 1. September 2016 – 24062/13 – Marc Brauer/Deutschland, NVwZ 2018, 635, 637). Denn anders als in dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Fall ist der Angeklagte hier nicht psychisch krank und auch nicht in einer persönlich schwierigen Lage, die durch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und Postzustellungsprobleme gekennzeichnet war. Vorliegend befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft und ist ersichtlich zur Kommunikation mit Justizbehörden in der Lage, was sein Schreiben vom 19. Dezember 2019 als Reaktion auf die Zustellung des Beschlusses gemäß § 346 Abs. 1 StPO belegt.“

Wenn man das liest, kann man m.E. nur rufen: Herr lass Hirn vom Himmel regnen. Aber nicht für den Senat, sondern für die Verteidigerin. Und bitte: Entschuldigung für dieses „Weihnachtsgeschenk“? M.E. nicht. Denn das hat mit dem neuen Rechts nichts zu tun, sondern war schon zum alten Recht unbestritten, dass die Pflichtverteidigerbestellung für das ganze Verfahren gilt. Ich verstehe nicht, warum solche Rechtsanwälte „verteidigen“?

Pflichti I: Pflichtverteidiger im Revisionsverfahren, oder: Kein Wechsel

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Heute dann mal wieder drei Entscheidungen zur Pflichtverteidigung.

Ich eröffne den Reigen mit dem BGH, Beschl. v. 07.08.2019 – 3 StR 165/19, in dem der BGH in Zusammenhang mit der Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag  u.a. noch einmal zur Frage der „Auswechselung“ des Pflichtverteidigers in der Revisionsinstanz Stellung nimmt. Wiedereinsetzung war gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision beantragt worden. Außerdem hatte der Angeklagte beantragt, ihm nach § 140 StPO einen Pflichtverteidiger anstelle oder neben seiner bisherigen Verteidigerin beizuordnen. Das hatte das LG abgelehnt.

Der BGH verweigert Wiedereinsetzung und führt u.a. aus:

„bb) Die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag ist ebenso wenig zurückzustellen, um die Sache an das Landgericht zur Beiordnung eines anderen oder weiteren Pflichtverteidigers zurückzugeben.

Zwar hat der Bundesgerichtshof (s. Beschlüsse vom 18. Januar 2018 – 4 StR 610/17, NStZ-RR 2018, 84; vom 5. Juni 2018 – 4 StR 138/18, juris) eine derartige Zurückgabe der Sache zur Bestellung eines anderen Verteidigers vor der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Fällen angeordnet, in denen ein – das Verschulden des Angeklagten ausschließender – „offenkundiger Mangel“ der Verteidigung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (s. Urteil vom 10. Oktober 2002 – 38830/97, NJW 2003, 1229 Tz. 59 ff. mwN) vorlag (vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Juni 2016 – 2 StR 265/15, BGHR StPO § 44 Verschulden 11). Dahinstehen kann, ob hier ein solcher „offenkundiger Mangel“ der Verteidigung darin zu sehen ist, dass die Verteidigerin des Angeklagten, nachdem sie Revision eingelegt hatte, das Rechtsmittel nicht begründet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juni 2018 – 4 StR 138/18, aaO; ferner BGH, Beschluss vom 28. Juni 2016 – 2 StR 265/15, aaO), insbesondere ob ihre fernmündliche Bekundung, sie sehe keine „Revisionsgründe“, einen derartigen Mangel ausschließt. Zu bedenken ist freilich, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem von der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts in Bezug genommenen Urteil vom 22. März 2007 (59519/00, NJW 2008, 2317) zwar für das polnische Prozesskostenhilferecht darauf erkannt hat, es sei nicht Aufgabe des Staates, einen – beigeordneten – Prozesskostenhilfeanwalt dazu zu zwingen, ein nach seiner Überzeugung aussichtloses Rechtsmittel einzulegen. Jedoch hat er es gleichermaßen als notwendig erachtet, dass der „Mandant“ noch ausreichend Zeit habe, einen anderen – beizuordnenden – Prozesskostenhilfeanwalt zu finden (s. aaO, Tz. 132 f.).

Unabhängig hiervon trifft den Angeklagten jedoch ein erhebliches eigenes Verschulden jedenfalls ab dem 13. März 2019, als er die Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle hätte formwirksam nachholen können. Er hat dies nicht nur unterlassen, sondern – der dienstlichen Stellungnahme des mit der Protokollierung befassten Rechtspflegers vom 24. April 2019 zufolge – ausdrücklich mitgeteilt, er habe „nunmehr einen Rechtsanwalt, auf eigene Kosten, beauftragt“, der auch schon „alles in die Wege geleitet“ habe. Jedenfalls unter Zugrundelegung dieser Angaben lag ein Mangel der Verteidigung nicht (mehr) vor.“

Um die Auswechselung des Pflichtverteidigers ging es im Übrigen auch im BGH, Beschl. v. 16.08.2019 – 3 StR 149/19. Den Antrag hat der BGH – kurz und zackig – beschieden mit: „Allein der Umstand, dass der Angeklagte nunmehr einem weiteren Verteidiger sein Vertrauen schenkt, reicht im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben der §§140ff. StPO zur Auswechslung des Pflichtverteidigers nicht aus.“

Pflichtverteidigerwechsel und Gebot der Kostenneutralität, oder: In den Umbeiordnungsbeschluss wird nichts „hineingelesen“

entnommen openclipart.org

Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.04.2018 – 18 Qs 28/16. Das LG entscheidet in ihm über die Gebühren des (neuen) Pflichtverteidigers nach einem Pflichtverteidigerwechsel.

Dem Angeklagten war Rechtsanwalt P. beigeordnet. Nachdem der Angeklagte vom AG verurteilt worden ist, legen sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Dann zeigt Rechtsanwalt Dr. M. in der Berufungsinstanz unter Vorlage einer Vollmacht an, vom Angeklagten „zunächst“ als Wahlverteidiger mandatiert worden zu sein. Zugleich beantragt er namens und im Auftrag des Verurteilten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger und kündigte an, für den Fall der Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen.

Auf gerichtliche Nachfrage meldete Rechtsanwalt P. gewisse grundsätzliche Bedenken gegen die Zulässigkeit einer – zwischenzeitlich (auch) vom Angeklagten in einem eigenen Schreiben gewünschten – Auswechslung des Pflichtverteidigers ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes an, erklärte jedoch ausdrücklich, dass er letztlich „anheimstelle“, eine etwa für geboten erachtete Entpflichtung vorzunehmen.

Der Vorsitzende der zuständigen Jugendkammer nimmt dann die Beiordnung von Rechtsanwalt P. zurück und ordnet den Rechtsanwalt Dr. M. als neuen Pflichtverteidiger bei. Der Tenor der Entscheidung enthält keine über den bloßen Ausspruch der Rücknahme, der Ablehnung und der Beiordnung hinausgehende Zusätze. In den Gründen des Beschlusses heißt es auszugsweise: „Die Kammer vertritt die Auffassung, dass eine Auswechslung des Verteidigers jedenfalls dann zulässig ist, wenn der Angeklagte und beide Verteidiger damit einverstanden sind, dadurch keine Verfahrensverzögerung eintritt und keine Mehrkosten entstehen. […] Im Übrigen geht die Kammer davon aus, dass durch den Verteidigerwechsel keine Mehrkosten entstehen“.

Nach Abschluss der zweiten Instanz macht Dr. M dann seine Pflichtverteidigervergütung geltend. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des AG schließt sich dazu der Auffassung der Bezirksrevisorin an, die gegen den Kostenfestsetzungsantrag eingewandt hatte, dass die Auswechslung des Pflichtverteidigers ausdrücklich unter Bezugnahme auf das Erfordernis der „Kostenneutralität“ begründet worden sei, weshalb der Vergütungsantrag des Rechtsanwalts Dr. M. im Hinblick darauf, dass der frühere Pflichtverteidiger auf die schon bei ihm angefallenen Gebühren (Grundgebühr, Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren) seinerseits nicht verzichtet habe, zur Vermeidung einer Doppelzahlung um 504,00 € (netto) gekürzt werden müsse. Das sieht das LG anders:

„Dem Beschwerdeführer steht die von ihm beantragte Verfahrensgebühr zu. In diesem Punkt lässt sich von vornherein eine gebotene „Kostenneutralität“ nicht als Gegenargument heranziehen. Auch die geltend gemachte Grundgebühr muss dem Beschwerdeführer gewährt werden, ungeachtet des Umstands, dass eine solche schon durch das Tätigwerden des früheren Pflichtverteidigers angefallen war. Das nachträgliche Ausnutzen der falschen gerichtlichen Sachbehandlung durch den Beschwerdeführer, der unter den gegebenen Umständen nicht hätte beigeordnet werden dürfen, rechtfertigt es für sich genommen noch nicht, dem Einfordern von „Mehrkosten“ den Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenzuhalten.

1. Die Verfahrensgebühr gemäß RVG-VV Nrn. 4124, 4125 in Höhe von 312,00 € (netto) ist dem Beschwerdeführer, gestützt auf § 48 RVG, antragsgemäß zu zahlen. Die faktisch eintretende Doppelbelastung der Staatskasse mit dieser Gebühr ist unbeachtlich.

Dem früheren Pflichtverteidiger ist die in Rede stehende Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren (RVG-VV Nrn. 4124, 4125) zu Unrecht erstattet worden. Die Gebühr entsteht grundsätzlich mit jeder Tätigkeit, die sich auf die Ausführung des Auftrags zur Verteidigung in der Berufungsinstanz richtet. Wenn der Verteidiger allerdings – wie hier – bereits im ersten Rechtszug tätig war, decken die Gebühren gemäß RVG-VV Nrn. 4100 ff. die (bloße) Einlegung der Berufung noch mit ab (§ 19 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 10 Halbsatz 1 RVG); die neue Gebühreninstanz beginnt für diesen Verteidiger damit erst nach der Einlegung der Berufung (vgl. KG, Beschluss vom 02.09.2016 – Az. 4 Ws 125/16, NStZ 2017, 305; OLG Bamberg, Beschluss vom 18.08.2005 – Az. Ws 626/05, NJW 2006, 1536). Nach Aktenlage hatte vorliegend der frühere Pflichtverteidiger nach der Rechtsmitteleinlegung im Berufungsverfahren keine Aktivitäten mehr entfaltet. Die Beiordnung des Beschwerdeführers hat also in diesem Punkt, eine zutreffende Sachbehandlung unterstellt, keine „Mehrkosten“ verursacht; der Umstand, dass der frühere Pflichtverteidiger eine nicht angefallene Gebühr erhalten hat, kann dem Beschwerdeführer nicht zum Nachteil gereichen.

2. Auch die Zahlung der Grundgebühr gemäß RVG-VV Nrn. 4100, 4101 in Höhe von 192,00 € (netto) kann dem Beschwerdeführer nicht versagt worden. Die bei der Beiordnung intendierte „Kostenneutralität“ steht dem nicht entgegen, weder auf den im Vergütungs- und im Erinnerungsverfahren beschrittenen Wegen (eines vermeintlichen wirksamen Vorbehalts bei der Beiordnung oder eines vermeintlichen Verzichts) noch über den Einwand des Rechtsmissbrauchs.

a) Der Beiordnungsbeschluss enthält keine einschränkende Bedingung, auf deren Grundlage sich der Gebührenanspruch des Beschwerdeführers um die „Mehrkosten“ kürzen ließe.

Es spricht vieles dafür, dass die im Zuge einer Auswechslung des Pflichtverteidigers erfolgende Beiordnung des neuen Verteidigers ohnehin nicht in zulässiger und gebührenrechtlich wirksamer Weise mit der Bedingung verknüpft werden kann, dass dem neuen Verteidiger keine Vergütungsanteile zustehen, die schon der frühere Verteidiger durch sein Tätigwerden verdient hat. Diese Frage mag hier aber dahinstehen, denn jedenfalls enthält der Beschluss vom 12.09.2014 – was auch der Beschwerdeführer in seiner Argumentation in den Vordergrund stellt – keine solche Bedingung. Dass der Vorsitzende der Jugendkammer von dem Beweggrund geleitet war und die Erwartung hegte, den Verteidigerwechsel „kostenneutral“ umzusetzen, kommt in den zitierten Sätzen der Begründung seines Beschlusses unmissverständlich zum Ausdruck. Anders als von der Bezirksrevisorin und vom Amtsgericht vertreten, erlaubt es dies allein allerdings nicht, in den maßgeblichen Tenor der Entscheidung, der seinerseits frei von jeglicher ausdrücklichen Einschränkung ist, eine entsprechende (konkludente) Bedingung „hineinzulesen“.

b) Der Beschwerdeführer hat auch nicht auf die Gebühr verzichtet; insbesondere kann seinem Schweigen zur Beiordnungsentscheidung kein solcher Erklärungsgehalt beigelegt werden.

Eine ausdrückliche Verzichtserklärung hat der Beschwerdeführer zu keiner Zeit abgegeben. Auch ein konkludenter Gebührenverzicht – durch schlüssiges Verhalten des Beschwerdeführers – ist nicht erfolgt. Auf der einen Seite ist der Bezirksrevisorin und dem Amtsgericht im Ausgangspunkt der jeweiligen Überlegungen darin zuzustimmen, dass die Zulässigkeit einer Auswechslung des Pflichtverteidigers, soweit es nicht um (hier nicht interessierende) Fälle einer groben Pflichtverletzung, einer Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses oder einer dringend gebotenen Verfahrenssicherung geht, nach inzwischen ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung mit Blick auf die zu beachtenden Fiskalinteressen davon abhängt, dass – über die sonstigen Voraussetzungen eines allseitigen Einverständnisses und der fehlenden Besorgnis einer Verfahrensverzögerung hinausgehend – der Staatskasse keine „Mehrkosten“ entstehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 143 Rn. 5a m.w.N.; BeckOK-StPO/Krawczyk, StPO § 143 Rn. 7 m.w.N.). Die hiergegen gerichteten Ausführungen des Beschwerdeführers in der Beschwerdebegründung gehen fehl. Die von ihm angeführten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen, in denen das schutzwürdige Interesse des Angeklagten an einer Verteidigung durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens betont wird, betreffen Fälle, in denen – anders als vorliegend – der neu beigeordnete Verteidiger dieses Vertrauen gerade nicht genoss. Der besonders herausgestellte Beschluss des OLG Braunschweig vom 28.07.2008 (Az. Ws 262/08) gibt dem Beschwerdeführer erst recht nichts an die Hand, denn darin wird ausdrücklich das Gebot der „Kostenneutralität“ (und damit das genaue Gegenteil des von ihm behaupteten Inhalts) vertreten. Auf der anderen Seite reicht der Befund, dass ein „einfacher“ (nicht auf besondere Umstände gestützter) Pflichtverteidigerwechsel nur in Betracht kommt, wenn er keine „Mehrkosten“ auslöst – was regelmäßig durch einen vorherigen (teilweisen) Gebührenverzicht entweder des neuen oder des bisherigen Verteidigers sichergestellt wird –, für sich genommen nicht aus, um in einer solchen Konstellation etwa das Antragsschreiben des um die Auswechslung mit eigener Beiordnung ersuchenden Rechtsanwalts ergänzend dahin auszulegen, dass es zugleich eine konkludente Verzichtserklärung enthält. Ebenso wenig kann in dieser Konstellation – anders als in der Entscheidung über die Erinnerung andeutungsweise geschehen – allein aus der ausgebliebenen Reaktion des Beschwerdeführers auf die Begründung der Beiordnungsentscheidung, der zufolge der Vorsitzende davon „ausging“, dass es nicht zu Doppelzahlungen von Gebührenpositionen kommen werde, ein stillschweigender Verzicht konstruiert werden; hierzu hätte es zuallererst einer – so schon nicht ersichtlichen – rechtlichen Verpflichtung des Beschwerdeführers zur Beseitigung der hier zu Unrecht in ihn gesetzten Erwartung (hinsichtlich seines Abrechnungsverhaltens) bedurft.

c) Es ist nach Aktenlage auch nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer seine Beiordnung unter Vorspiegelung einer gesicherten „Kostenneutralität“ des Verteidigerwechsels „erschlichen“ haben könnte. Dem bloßen nachträglichen Ausnutzen der durch einen gerichtlichen Fehler eröffneten Möglichkeit, mangels vorherigen Verzichts auch „Mehrkosten“ in Ansatz zu bringen, kann nicht unter Verweis auf den Gedanken des Rechtsmissbrauchs begegnet werden.

Der Beiordnungsbeschluss ist für das Vergütungsfestsetzungsverfahren bindend. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat nicht zu prüfen, ob die Beiordnung eines Rechtsanwalts zulässig war; er darf den Sachverhalt, auf dessen Grundlage das Gericht seine Entscheidung getroffen hat, nicht abweichend beurteilen (Mayer/Kroiß/Kießling, RVG, 7. Aufl., § 55 Rn. 17). Der Umstand, dass vorliegend eine „einfache“ Auswechslung des Pflichtverteidigers wegen der nicht gesicherten „Kostenneutralität“ gar nicht erst hätte erfolgen dürfen, ist damit grundsätzlich unbeachtlich. Die angesprochene Bindung besteht allerdings ausnahmsweise in dem Umfang nicht, in dem das Einfordern der Vergütung durch den Rechtsanwalt rechtsmissbräuchlich wäre; die Annahme eines Rechtsmissbrauchs drängt sich unter anderem dann auf, wenn der Anwalt seine Beiordnung „erschlichen“ oder bestimmte Gebühren „in erheblich zu missbilligender Weise zur Entstehung gebracht“ hat (Mayer/Kroiß/Kießling, a.a.O., § 55 Rn. 19). Unter den hier gegebenen Umständen ginge jedoch die anteilige Zurückweisung der Gebührenforderung zu weit, da es an belastbaren Anhaltspunkten für ein „Erschleichen“ der Beiordnung fehlt. Davon könnte höchstens die Rede sein, wenn der Beschwerdeführer – was nach Aktenlage nicht der Fall war – die Fehlvorstellung des Vorsitzenden hinsichtlich der „Kostenneutralität“ im Vorfeld der Entscheidung durch zurechenbares eigenes Verhalten objektiv mitverursacht hätte. Hinzu kommt, die subjektive Seite betreffend, dass der Beschwerdeführer – sieht man einmal von der immerhin in Betracht zu ziehenden Möglichkeit ab, dass seine Argumentation im Beschwerdeverfahren entgegen besserer Einsicht als Mittel zum Zweck vom Gebühreninteresse geleitet sein könnte – bis heute auf dem überraschenden Standpunkt beharrt, dass seine Beiordnung ohnehin, nämlich unabhängig vom Entstehen von „Mehrkosten“, habe erfolgen müssen. Auch wenn feststeht, dass der Beschwerdeführer bei zutreffender Sachbehandlung keine Grundgebühr beanspruchen könnte (weil das Gericht entweder einen Verzicht abgewartet oder die Beiordnung versagt hätte), lässt sich ein Fehler der vorliegenden Art, bei dem das Gericht mit der Beiordnung bewusst oder versehentlich „in Vorleistung“ geht, nicht ohne das Hinzutreten besonderer Begleitumstände bei der späteren Abrechnung korrigieren, denn das liefe darauf hinaus, das Einfordern einer angefallenen Gebühr allein unter dem Vorhalt eines unterbliebenen Verzichts als rechtsmissbräuchlich einzustufen.“

Ich bin immer wieder über die Findigkeit der Vertreter der Staatskasse erstaunt….