Schlagwort-Archive: Anscheinsbeweis

Anscheinsbeweis beim berührungslosen Unfall, oder: Haftungsverteilung beim berührungslosen Unfall

© Thaut Images – Fotolia.com

Und dann die zweite Entscheidung, die mit dem OLG Celle, Urt. v. 13.12.2023 – 14 U 32/23 – auch vom OLG Celle kommt. Es geht u.a. um die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei einem berührungslosen Unfall/Auffahrunfall und um die Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall.

Folgender Sachverhalt:

„Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagten zur Zahlung von materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall verpflichtet sind, bei dem er mit seinem Motorrad stürzte und verletzt wurde.

Der Kläger befuhr am 31. März 2021 mit seinem Motorrad in Begleitung seines Sohnes, dem Zeugen A., auf dessen Motorrad die B. Straße (L ) in Richtung H. Vor dem Kläger und seinem Sohn befuhr der Zeuge A1 mit seinem PKW die B. Straße in gleicher Richtung. Die aus Fahrtrichtung des Klägers gesehene Gegenfahrbahn, die die Beklagte zu 1. mit dem bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Fahrzeug der Marke Mercedes befuhr, war im Kurvenverlauf durch einen Müllwagen blockiert, der zu diesem Zeitpunkt von Mitarbeitern des Abfallservice O. GmbH mit gelben Säcken beladen wurde. Die Beklagte zu 1. versuchte, an dem Müllwagen vorbei zu fahren, und wechselte hierzu auf die Fahrbahn des Klägers und des vor ihm fahrenden Zeugen A1. Der Zeuge A1 bremste sein Fahrzeug stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1., die sich noch auf der Fahrbahn des Zeugen befand, zu vermeiden. Auch der Kläger, dessen Motorrad über kein ABS verfügte, machte eine Vollbremsung, geriet dabei ins Rutschen und stürzte. Die Fahrzeuge des Klägers und des Zeugen A1 kollidierten nicht. Der hinter dem Kläger fahrende Zeuge A. konnte sein Motorrad abbremsen, ohne selbst zu stürzen. Die Beklagte zu 1. wendete ihr Fahrzeug bei der nächsten Gelegenheit und fuhr zur Unfallstelle zurück. Die zugelassene Höchstgeschwindigkeit beträgt am Unfallort 70 km/h. Der Kläger, der vom Unfallort mit dem Rettungshubschrauber ins Krankhaus transportiert wurde, erlitt durch den Sturz eine Schulterblattfraktur links, eine Lungenkontusion sowie eine Schürfwunde am linken Knie. Er war infolgedessen bis zum 25. Mai 2021 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 08. Juni 2021 forderte der Kläger die Beklagte zu 2. auf, ihre Haftung aus dem Unfallgeschehen vollständig dem Grunde nach anzuerkennen. Die Beklagte zu 2. lehnte jegliche Haftung ab.

Der Kläger hat behauptet, er habe zum Fahrzeug des Zeugen A1 einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten. Er sei vor dem Sturz nicht schneller als 70 km/h gefahren. Er sei mit seinem Motorrad gestürzt, weil die Beklagte zu 1. Anlass für seine und die Vollbremsung des Zeugen A1 gegeben habe. Der Kläger war der Ansicht, dass der Unfall für ihn – auch aufgrund des fehlenden ABS – unvermeidbar gewesen sei. Ferner sei sein Motorrad durch den Sturz beschädigt worden und dieser Sachschaden betrage 2.750,00 €. Darüber hinaus seien weitere Kosten für das außergerichtliche Schadensgutachten in Höhe von 698,95 € sowie eine Kostenpauschale von 25 € angefallen. Die Heilbehandlungen des Klägers seien noch nicht abgeschlossen, wie sich aus dem ärztlichen Attest vom 19. Mai 2021 ergebe. Er könne daher seine – materiellen wie auch immateriellen – Schäden nicht abschließend beziffern, so dass ein Feststellungsinteresse bestehe.

Die Beklagten haben behauptet, der Kläger habe bereits zum Fahrzeug des Zeugen A1 keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten und darüber hinaus die zugelassene Höchstgeschwindigkeit überschritten. Die Beklagte zu 1. habe ohne Komplikationen an dem Müllwagen vorbeifahren können. Der Kläger habe daher seinen Sturz durch einen Bremsfehler und das Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit allein verursacht. Eine Haftung der Beklagten bestünde nicht. Zudem bestehe bereits kein Feststellunginteresse. Die Behandlungen des Klägers seien abgeschlossen, so dass ihm eine Bezifferung seiner Schäden möglich gewesen wäre.“

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Feststellungsklage sei zwar zulässig, aber in der Sache unbegründet. Der Kläger habe den Sturz seines Motorrades allein verschuldet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht erwiesen, dass die Beklagte zu 1. risikoreich „überholt“ habe. Eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer durch den Überholvorgang der Beklagten zu 1. sei nicht festzustellen. Nach Würdigung der Angaben der Parteien und der Zeugenaussagen ließe sich zwar weder ein risikoreiches Überholen der Beklagten zu 1. noch ein zu geringer Abstand des Klägers auf das Fahrzeug des Zeugen A1 sicher nachweisen. Es bestünden aber Indizien für ein zu dichtes Auffahren, die sich aus den Schilderungen der Zeugen A. und A1 ergeben würden. Nach Würdigung des Gutachtens lasse sich feststellen, dass durch das Tätigen des Handbremshebels das Vorderrad blockiert und dadurch das Motorrad Stabilität verloren habe. Infolgedessen sei das Motorrad weggerutscht und der Kläger gestürzt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. O. sei jedoch keine zeitliche Kopplung zwischen der Bewegung des Motorrades und dem Fahrzeug des Zeugen A. herstellbar. Der Kläger habe damit den Nachweis der Unvermeidbarkeit nicht geführt. Vielmehr sei aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen festzustellen, dass der Kläger den Unfall hätte vermeiden können, wenn er kontrolliert gebremst hätte. Der entstandene Schaden sei ihm daher selbst zuzurechnen.

Dagegen die Berufung, die teilweise Erfolg hatte. Auch hier verweise ich wegen des Umfangs der Gründe wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltext und stelle hier nur die Leitsätze ein. Die lauten:

    1. Auch bei einem berührungslosen Unfall können die Grundsätze zum Anscheinsbeweis Anwendung finden (ebenso OLG Schleswig, Beschluss vom 17. Februar 2022 – 7 U 144/21, SVR 2022, 302; entgegen OLG München, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 10 U 767/16, Rn. 9; OLG Hamm, Urteil vom 9. Mai 2023 – 7 U 17/23, Rn. 51)
    2. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht, rechtzeitig auf eine wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren, und verhindert er lediglich durch einen vorherigen Sturz (hier: als Motorradfahrer) eine Kollision mit dem vorausfahrenden Kraftfahrzeug, spricht wie im Fall einer „Auffahrkollision“ der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Hinterherfahrenden.
    3. Wer an einer unübersichtlichen Engstelle vor einer Kurve ein Hindernis (hier: ein haltendes Müllfahrzeug) links umfährt, muss gemäß § 6 Satz 1 StVO den Gegenverkehr sichern und besonders vorsichtig prüfen, ob ein Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde.

Haftungsverteilung nach Zusammenstoß Bus/Pkw, oder: Wer haftet wie?

entnommen wikimedia.org

Die zweite Entscheidung, das OLG Celle, Urt. v. 10.11.2021, Az. 14 U 96/21 – behandelt dann noch einmal einen „Busunfall“. Nach dem Sachverhalt wollte der klagende Pkw-Fahrer an einem Linienbus linksseitig vorbeifahren. Gerade in dem Moment fuhr der Bus schräg nach links auf die Straße. Noch beim Anfahren des Linienbusses kam es zu einer Kollision zwischen beiden Fahrzeugen. Zwischen den Parteien war streitig, ob der Busfahrer vor dem Anfahren den linksseitigen Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, um sein Einfahren auf die Fahrbahn anzuzeigen.

Das LG war von einer hälftigen Schadensteilung ausgegangen. Die Berufung des Klägers hatte teilweise Erfolg. Das OLG hat den Schaden dann 25 zu 75 % verteilt:

„b) Im Rahmen der deshalb nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Zunächst ist das Gewicht des jeweiligen Verursachungsbeitrages der Kfz-Halter bzw. -Führer zu bestimmen, wobei zum Nachteil der einen oder anderen Seite nur feststehende, d. h. unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden dürfen, die sich auch nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVG § 17 Rn. 12). In einem zweiten Schritt sind die beiden Verursachungsanteile gegeneinander abzuwägen (Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19 –, Rn. 66 m.w.N., juris).

aa) Der Fahrer des Linienomnibusses hat gegen § 10 Abs. 1 StVO verstoßen, dessen Verschulden sich die Beklagte zurechnen lassen muss. Halter und Fahrer bilden insoweit eine Zurechnungseinheit (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVG § 17 Rn. 5). Den gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung konnte die Beklagte nicht erschüttern.

(1) Gem. § 10 Satz 1 StVO muss sich der Einfahrende vom Fahrbahnrand auf eine Fahrbahn so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Der Vorrang des fließenden Verkehrs gilt grundsätzlich auch gegenüber dem Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs.

Um derartigen Fahrzeugen, die an feste Fahrpläne und an die Einhaltung bestimmter Fahrzeiten gebunden sind, aber das Anfahren und Einordnen in den fließenden Verkehr zur Sicherstellung der zeitlichen Vorgaben zu erleichtern, bestimmt § 20 Abs. 5 StVO, dass diesen das Abfahren von gekennzeichneten Haltestellen zu ermöglichen ist und andere Fahrzeuge, wenn nötig, warten müssen.

Diese dem fließenden Verkehr auferlegte Verpflichtung schränkt den sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs insoweit ein, als dieser eine durch das Anfahren der Linienfahrzeuge entstehende Behinderung hinzunehmen hat (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 20 StVO Rn. 12 m.w.N.).

Diese Einschränkung des Vorrangs des fließenden Verkehrs gilt aber erst dann, wenn der Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs sein Vorhaben ordnungsgemäß und rechtzeitig angezeigt hat (§ 10 Satz 2 StVO). In diesem Fall muss sich der fließende Verkehr auf das Einfahren des Busses einstellen, eine Behinderung hinnehmen und nötigenfalls auch mit einer mittelstarken Bremsung anhalten (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 20 StVO Rn. 12 a.E.; BayObLG, Beschluss vom 22.2.1990 – 2 Ob OWi 519/89NZV 1990, 402, 403).

Bis zu der Ankündigung, die die Absicht in den fließenden Verkehr einzufahren mittels Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig anzeigt, bleibt auch in Bezug auf einen Linienbus das Vorrecht des fließenden Verkehrs bestehen. Dies hat zur Folge, dass der Anscheinsbeweis, der auf einen Verstoß gegen die in § 10 StVO normierten Sorgfaltsanforderungen schließen lässt, bis zur Betätigung eines Fahrtrichtungsanzeigers durch den Fahrer eines Linienomnibusses, auch gegenüber diesem gilt, wenn sich in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren eine Kollision mit dem fließenden Verkehr ereignet (a.A. KG Berlin in den Entscheidungen vom 24. Juli 2008 – 12 U 142/07 – und vom 1.11.2018 – 22 U 128/17, juris; sowie LG Saarbrücken, Urteil vom 05. April 2012 – 13 S 209/11, Rn. 13, juris, wonach keinem der Fahrer ein Verstoß nachgewiesen werden könne, was eine hälftige Schadensteilung nach sich ziehe).

Erst wenn der Fahrer des Linienbusses sichergestellt hat, dass den Anforderungen des § 10 Satz 2 StVO Genüge getan ist, also der Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig zuvor gesetzt war und nach Rückschau nicht anzunehmen ist, dass andere Verkehrsteilnehmer mehr als nur mittelstark bremsen müssten, entsteht sein Vorrecht gem. § 20 Abs. 5 StVO (vgl. BGH, Beschluss vom 06. Dezember 1978 – 4 StR 130/78 –, BGHSt 28, 218-224, Rn. 10, juris: in der Entscheidung stand allerdings fest, dass der Fahrzeuglenker des Linienomnibusses geblinkt hatte), was in der Folge den Anscheinsbeweis gegen den Einfahrenden entfallen lässt (vgl. Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 20 StVO (Stand: 27.04.2017), Rn. 39 m.w.N.).

Ist – wie hier – streitig, ob der Fahrer des Linienomnibusses den Fahrtrichtungsanzeiger überhaupt gesetzt hat, um seine Absicht, in den fließenden Verkehr einzufahren, anzukündigen, dann trifft ihn auch die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme seines Vorrechts tatsächlich vorliegen.

Denn § 20 Abs. 5 StVO erlaubt es nur unter der Voraussetzung einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Anzeige, das ansonsten bestehende Vorrecht anderer Verkehrsteilnehmer im fließenden Verkehr zu „missachten“. Wenn das Vorrecht des Fahrers eines Linienomnibusses aber erst ab der Anzeige gilt, muss er auch beweisen, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Vorrechts, einer Ausnahmeregelung in der Straßenverkehrsordnung, vorgelegen haben.

Eine andere Beweislastverteilung sieht die Straßenverkehrsordnung auch nicht bei anderen Ausnahmeregelungen vor, die ein Vorrecht zu Lasten des eigentlich bevorrechtigten Verkehrs begründen. Auch im Rahmen der Inanspruchnahme des § 38 Abs. 1 StVO trifft den Halter des Einsatzfahrzeuges die Darlegungs- und Beweislast für die Umstände, aus denen er die Berechtigung herleitet, das sonst bestehende Vorrecht anderer Verkehrsteilnehmer zu „missachten“ (BGH, Urteil vom 09. Juli 1962 – III ZR 85/61 –, BGHZ 37, 336-341; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. Juli 2011 – 4 U 23/11 –, Rn. 30; OLG Düsseldorf, Urteil vom 11. November 1991 – 1 U 129/90 –, Senat, Urteil vom 29. September 2010 – 14 U 27/10 –, Rn. 15, juris). Gem. § 38 StVO hat der Halter die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass Blaulicht und Horn rechtzeitig eingeschaltet waren und der Sonderrechtsfahrer seine verkehrsrechtlichen Sorgfaltspflichten erfüllt hat (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 38 StVO Rn. 9 m.w.N.; KG Berlin, Urteil vom 14. Juli 1997 – 12 U 1541/96 –, juris). Erst dann ist der Fahrer unter Beachtung größtmöglicher Sorgfalt berechtigt, sein Vorrecht wahrzunehmen. Kann er sein Vorrecht nicht beweisen, kann dies zur Alleinhaftung des Rettungswagenhalters führen (Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. Juli 2011 – 4 U 23/11 –, juris).

Die gleiche Beweislastverteilung ist auch im Rahmen des § 20 Abs. 5 StVO anzusetzen. Denn denjenigen, der sich auf ein Vorrecht beruft, trifft nach den allgemeinen Darlegungs- und Beweislastregeln auch die Obliegenheit, dessen Voraussetzungen darzulegen und ggf. zu beweisen (vgl. zu § 38 StVO: Wern, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 38 StVO (Stand: 12.06.2020), Rn. 23).

Dies ist der Beklagten nach den vorgenannten Maßgaben nicht gelungen. Nach dem nicht zu beanstandenden Ergebnis der Beweisaufnahme des Landgerichts konnte nicht geklärt werden, ob der Zeuge R. als Fahrer des Linienomnibusses seine Absicht, nach links in den fließenden Verkehr einzufahren, durch einen Fahrtrichtungsanzeiger angekündigt hat, bevor er in diesen eingefahren ist.

Die Beklagte konnte insoweit nicht beweisen, dass ihr das Vorrecht aus § 20 Abs. 5 StVO zugestanden hat. Der Anscheinsbeweis, der im Rahmen des § 10 StVO grundsätzlich für das Verschulden des Ein- oder Ausfahrenden spricht, wenn es in einem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Ein- oder Anfahren zu einem Unfall gekommen ist, bleibt daher bestehen.

(2) Der Beklagten ist indes kein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 StVO anzulasten, wonach beim Abbiegen eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs auszuschließen ist. Der Begriff erfasst jede Fahrtrichtungsänderung im Längsverkehr, bei der der Fahrzeugführer seine Fahrbahn nach der Seite verlässt oder auf ihr in einem Bogen die Gegenrichtung oder den gegenüberliegenden Straßenrand zu erreichen versucht (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 9 StVO (Stand: 07.08.2018), Rn. 8). Ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen (Gutachten vom 9.2.2021, Seite 8) war der Linienomnibus bei der Kollision noch nicht in den Längsverkehr eingeordnet gewesen, sondern dabei, von der Haltestelle anzufahren.

bb) Seitens des Klägers kann kein Verschulden an dem Verkehrsunfall festgestellt werden.

(1) Der Kläger hat nicht gegen § 20 Abs. 5 StVO verstoßen. Die Inanspruchnahme ihres Vorrechts ist durch die Beklagte nicht bewiesen worden (s.o.).

(2) Dem Kläger kann darüber hinaus auch kein Verstoß gegen § 20 Abs. 1 StVO angelastet werden. Danach ist an haltenden Omnibussen des Linienverkehrs nur vorsichtig vorbeizufahren. Vorsichtiges Vorbeifahren setzt in der Regel eine mäßige Geschwindigkeit voraus, die im Einzelfall, etwa wenn mit dem Heraustreten von Kindern zu rechnen ist, auch Schrittgeschwindigkeit bedeuten kann (Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 17. Juli 2007 – 4 U 338/06 – 108 –, Rn. 41, juris). Wenn es keine weiteren Anhaltspunkte gibt, die eine deutliche Geschwindigkeitsreduzierung bis zum Anhalten gebieten, kann unter einer vorsichtigen Fahrweise eine Geschwindigkeit von jedenfalls nicht mehr als 30 km/h verstanden werden (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 13. April 2010 – 9 U 62/08 –, Rn. 26, juris; KG Hinweisbeschluss v. 1.11.2018 – 22 U 128/17, BeckRS 2018, 33246 Rn. 17, beck-online; Spelz, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 20 StVO (Stand: 27.04.2017), Rn. 20).

Nach diesen Maßgaben ist ein Verschulden des Klägers nicht bewiesen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist der Kläger eine Ausgangsgeschwindigkeit von etwa 30 km/h gefahren (Gutachten vom 9.2.2021, Seite 12). Die Beklagte hat im Rahmen ihrer Berufungserwiderung ohnehin keinen Angriff geführt, der zu einer Quotenverschiebung zu Lasten des Klägers hätte führen können.

c) Bei einer vorzunehmenden Abwägung verbleibt auf Seiten des Klägers eine erhöhte Betriebsgefahr seines Kraftfahrzeuges, die mit 25% zu bemessen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann die allgemeine Betriebsgefahr durch besondere Umstände erhöht sein, was bei der Schadensteilung mit zu berücksichtigen ist (BGH, Urteil vom 27. Juni 2000 – VI ZR 126/99 –, Rn. 23, juris m.w.N.; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 17 StVG Rn. 11 m.w.N.). Erhöht ist die Betriebsgefahr, wenn die Gefahren, die regelmäßig und notwendigerweise mit dem Betrieb des Kraftfahrzeuges verbunden sind, durch das Hinzutreten besonderer unfallursächlicher Umstände vergrößert werden (Scholten, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 17 StVG (Stand: 28.03.2018), Rn. 21).

Dies war vorliegend der Fall. Bereits aus dem Wortlaut des § 20 Abs. 1 StVO folgt, dass an haltenden Linienomnibussen nur vorsichtig vorbeizufahren ist. Dies intendiert die gesetzgeberische Wertung, welche beinhaltet, dass es sich dabei um ein Fahrmanöver handelt, aus welchem eine abstrakt erhöhte Gefährlichkeit erwächst. Zu der dem Kraftfahrzeug ohnehin innewohnenden Betriebsgefahr von 20 % (st. Rspr. u.a. des Senats, vgl. etwa Urteil vom 15.05.2018 – 14 U 175/17 – juris, Urteil vom 27.09.2001 – 14 U 296/00 – juris) kommt insoweit ein weiterer gefahrträchtiger Umstand hinzu.

Dieser Umstand war auch erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden, ansonsten hätte er außer Ansatz bleiben müssen (vgl. BGH, Urteile vom 10. Januar 1995 – VI ZR 247/94, VersR 1995, 357 f.; vom 21. November 2006 – VI ZR 115/05, VersR 2007, 263 Rn. 15 m.w.N.; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 17 StVG Rn. 5 f. m.w.N.), was eine erhöhte Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs in dieser konkreten Unfallsituation rechtfertigt.

Ausgehend von der gesetzgeberischen Wertung einer abstrakten Gefährdungssituation hat sich diese ausgewirkt, indem es zu einer Kollision zwischen dem vorbeifahrenden klägerischen Fahrzeug und dem Linienbus gekommen ist, der in den fließenden Verkehr einfahren wollte. Der Kläger ist insoweit mit den gutachterlich festgestellten 30 km/h zwar noch „vorsichtig“ im Sinne des § 20 Abs. 1 StVO gefahren, so dass ihm kein Verschulden zur Last gelegt werden kann. Er hatte mit dieser Geschwindigkeit aber dennoch die Obergrenze der vom Gesetzgeber geforderten vorsichtigen Fahrweise erreicht, was sich in der konkreten Situation gefahrerhöhend niedergeschlagen hat. Denn er konnte mit der gefahrenen Geschwindigkeit nicht mehr unfallvermeidend reagieren, als der Linienbus zum Einfahren in den fließenden Verkehr angesetzt hat, und ist seitlich in den Linienomnibus hineingefahren.“

Anscheinsbeweis auch bei (Ketten)Auffahrunfall nach Starkbremsung?, oder: Haftungsverteilung

Bild von LillyCantabile auf Pixabay

Bei der zweiten Entscheidung des Tages handelt es sich mal wieder um ein OLG-Urteil, das sich nach einem Verkehrsunfall mit der Frage der Haftungsverteilung befasst.

Das OLG Celle, Urt. v. 16.12.2020 – 14 U 87/20 – hat einen Auffahrunfall zum Gegenstand, also eine Unfallsituation, die man schon auch als Dauerbrenner bezeichnen kann. Es handelt sich allerdings um einen sog. „Kettenauffahrunfall“. Gestritten worden ist u.a. auch um die Frage, ob auch in den Fällen der Anscheinsbeweis gilt.

Das das Urteil recht umfangreiche begründet ist, stelle ich hier dann mal nur die Leitsätze ein, den Rest dann bitte im Volltext selbst lesen:

1. Gegen den Auffahrenden spricht der Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung, sofern nicht besondere Umstände vorliegen, die gegen die Typizität des Geschehens sprechen.

2. Auch im Falle eines Kettenauffahrunfalls kann nach den Umständen des Einzelfalls ein Anscheinsbeweis gegen den ersten Auffahrenden sprechen.

3. Der Hintermann muss grundsätzlich, wenn keine atypische Konstellation vorliegt, mit einem plötzlichen scharfen Bremsen des Vorausfahrenden rechnen; der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist in dem Fall nicht erschüttert.

4. Der Auffahrende haftet auch bei unverhofft starkem Bremsen des Vorausfahrenden ohne zwingenden Grund in der Regel überwiegend (hier 70 : 30).

„Das Halteverbotschild hat da nicht gestanden“, oder: Doch, es gilt der Anscsheinsbeweis

entnommen wikimedia.org
Urheber Mediatus

Im Kessel Buntes dann heute zwei verwaltungsrechtliche Entscheidungen.

Die erste befasst sich mit dem Dauerthema „Abschleppen“. Im VG Düsseldorf, Urt. v. 06.10.2020 – 14 K 6187/19 – geht es mal wieder um die Abschleppkosten, und zwar nacheinem Abschleppen aus einem „mobilen absoluten Halteverbot“. Der Kläger hatte u.a. einegwandt, dass die Schilder nicht drei volle Tage vor dem Abschleppvorgang aufgestellt worden seien. Er hatte mit seiner Klage keinen Erfolg:

„Der Bescheid ist rechtmäßig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der vorgenannten Ermächtigungsgrundlage sind erfüllt. Hiernach hat der für eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit verantwortliche Störer die durch eine rechtmäßige Sicherstellung oder Ersatzvornahme entstandenen Kosten zu tragen.

Ob die hier in Rede stehende Abschleppmaßnahme als Sicherstellung gemäß § 24 Nr. 13 OBG NRW, § 46 Abs. 3, § 43 Nr. 1 PolG NRW oder als Ersatzvornahme einer Beseitigungsmaßnahme gemäß § 14 OBG NRW, § 55 Abs. 2, § 57 Abs. 1 Nr. 1, § 59 VwVG NRW auf Grundlage der ordnungsrechtlichen Generalklausel anzusehen ist, kann dahinstehen,
vgl. OVG Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 28. November 2000 – 5 A 2625/00 -, Rn. 13, juris,

denn sie ist nach beiden Alternativen rechtmäßig. Die in den vorgenannten Vorschriften vorausgesetzte gegenwärtige bzw. konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestand vorliegend. Eine Gefahr im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne liegt jedenfalls bei einem Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung, mithin bei einer Zuwiderhandlung gegen formelle und materielle Gesetze vor.

Eine derartige Zuwiderhandlung ist gegeben.

Der Parkvorgang auf dem Parkplatz „L2. “ in N2. verstieß gegen § 41 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) i.V.m. Nr. 62 der Anl. 2 zu § 41 Abs. 2 StVO (Zeichen 283). Denn aufgrund der auf dem Platz aufgestellten Halteverbotsschilder mit dem Datumszusatz war das Halten an dem von dem abgeschleppten PKW genutzten Parkplatz zu diesem Zeitpunkt verboten.

Denn nach der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die auf den – in den Verwaltungsvorgängen befindlichen – Fotos neben dem Fahrzeug des Klägers sichtbaren mobilen Haltverbotszeichen mit dem Zeitzusatz „ab 17.06.2019 ab 22:00 Uhr“ auf dem Parkplatz ab dem 13. Juni 2019 ordnungsgemäß aufgestellt waren, durchgehend bis zum Tag der Abschleppmaßnahme am 19. Juni 2019 vor Ort vorhanden waren und zwischenzeitlich weder abgebaut noch unkenntlich gemacht worden sind. Das Vorhandensein der Halteverbotsschilder am 18. Juni 2019 ist in den Verwaltungsvorgängen der Beklagten fotografisch dokumentiert. Das Aufstellen der Schilder am 13. Juni 2019 ergibt sich aus 3 verschiedenen Belegen unterschiedlicher Personen: Zum einen ergibt es sich aus dem Tagesbericht des Mitarbeiters I1. . Zum anderen ergibt es sich aus dem handschriftlichen Vermerk der Mitarbeiterin D. . Schließlich ergibt es sich aus dem handschriftlichen Vermerk der Außendienstmitarbeiter vom 19. Juni 2019. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diese verschiedenen Mitarbeiter alle eine unrichtige Dokumentation festgehalten haben. So ist auch plausibel, dass der nachträglich ausgedruckte Tagesbericht das Datum seines Ausdrucks trägt und dass die Mitarbeiterin D. das Ergebnis ihrer Überprüfung vor Ort richtig festgehalten hat.

Damit besteht grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für die ununterbrochene Anwesenheit und Wahrnehmbarkeit der Verkehrszeichen vor Ort,
vgl. VG Bremen, Urteil vom 13. August 2009, – 5 K 3876/08 -, Juris, VG Leipzig, Urteil vom 14. November 2007, Az. 1 K 483/06, Juris.

Denn nach der Lebenserfahrung werden Schilder in der Regel nicht von Unbefugten versetzt oder gar entfernt. Der Beweis des ersten Anscheins ist hier auch nicht durch die Darlegungen des Klägers erschüttert, da keine Tatsachen vorliegen, welche die ernsthafte und naheliegende Möglichkeit eines atypischen Verlaufs begründen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Vernehmung der Zeugin T2. . Denn sie hat im Rahmen ihrer Vernehmung in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und widerspruchsfrei bekundet, dass sie dem Kläger telefonisch die Auskunft erteilt habe, dass die Schilder ab dem 17. Juni 2019 wirksam gewesen seien. Weiter habe sie ihm gesagt, dass sie als für die Erstellung der Bescheide im Innendienst Zuständige keine Kenntnis davon habe, wann die Schilder genau aufgestellt worden seien und sich diesbezüglich erkundigen müsste.

Das Gericht hat keine Veranlassung die Glaubhaftigkeit der Zeugin in Zweifel zu ziehen. Die Zeugin hat das Kerngeschehen hinsichtlich des Vorhandenseins der mobilen Halteverbotszeichen ohne Belastungstendenzen wiedergegeben. Das Gericht geht folglich davon aus, dass die mobilen Haltverbotsschilder ordnungsgemäß aufgestellt waren, als der Kläger seinen PKW am Wochenende des 15./16. Juni 2019 auf dem Parkplatz abstellte.

Unerheblich ist darüber hinaus, dass der Kläger, wie er vorträgt, kein Halteverbotsschild gesehen hat. Auf ein Verschulden kommt es im Bereich des hier vorliegenden Gefahrenabwehrrechts nicht an. Denn der mit dem Halteverbot erlassene Verwaltungsakt ist gegenüber dem Kläger wirksam geworden. Verkehrszeichen und damit auch Halteverbotszeichen stellen nach der ständigen Rechtsprechung Verwaltungsakte im Sinne von § 35 VwVfG NRW in Form von Allgemeinverfügungen dar. Dieser Verwaltungsakt wird gemäß § 43 Abs. 1 VwVfG NRW gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekanntgegeben wird. Die Bekanntgabe erfolgt nach den bundesrechtlichen Vorschriften der StVO durch Aufstellung des Verkehrsschildes (§ 39 Abs. 1 und 2, § 45 Abs. 4 StVO). Bei der Aufstellung handelt es sich um eine besondere Form der öffentlichen Bekanntgabe.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 1996 – 11 C 15.95 -, Rn. 9, juris.

Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, dass sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon „mit einem raschen und beiläufigen Blick“ erfassen kann, so äußern sie ihre Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, unabhängig davon, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrgenommen hat.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. April 2016 – 3 C 10/15 -, Rn. 15, 19 f. ; – juris; BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 1996 – 11 C 15.95 -, Rn. 9, juris; OVG NRW, Urteil vom 23. Mai 1995 – 5 A 2092/93 -, Rn. 4 ff.; OVG NRW, Urteil vom 15. Mai 1990 – 5 A 1687/89 -, Rn. 7 ff., juris.

Allerdings sind an die Sichtbarkeit von Verkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr betreffen, niedrigere Anforderungen zu stellen, als an solche für den fließenden Verkehr. Diese müssen – anders als beim fließenden Verkehr – nicht bereits mit einem raschen und beiläufigen Blick erfasst werden können.
Vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 30. Juni 2009 – 3 Bf 408/08 -, Rn. 31 ff., juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 20. August 2013 – 14 K 5618/12 – juris, Urteil vom 08.11.2016 – 14 K 8007/15 – juris.

Einen Verkehrsteilnehmer, der sein Fahrzeug abstellt, treffen dementsprechend auch andere Sorgfalts- und Informationspflichten hinsichtlich der Beschilderung und der maßgeblichen örtlichen Verkehrsregelungen als einen Teilnehmer am fließenden Verkehr. Die Sorgfaltsanforderungen richten sich stets nach den konkreten Umständen des Einzelfalles.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. Juni 1997 – 5 A 4278/95 -, Rn. 5 ff., juris; OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2004 – 5 A 850/03 -, Rn. 38, juris; OVG NRW, Urteil vom 15. Mai 1990- 5 A 1687/89 -, Rn. 7 ff., juris.

In Bezug auf Einschränkungen des Parkens und Haltens ist ein Verkehrsteilnehmer daher grundsätzlich verpflichtet, sich nach etwa vorhandenen Verkehrszeichen mit Sorgfalt umzusehen und sich über den örtlichen und zeitlichen Geltungsbereich eines (mobilen) Haltverbotsschilds zu informieren. Dabei muss er jedenfalls den leicht einsehbaren Nahbereich auf das Vorhandensein verkehrsrechtlicher Regelungen überprüfen, bevor er sein Fahrzeug endgültig abstellt.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. Mai 1990 – 5 A 1687/89 – juris (40 m Gehweg zumutbar); OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. Juni 1997 – 5 A 4278/95 -, Rn. 5 ff., juris; OVG Hamburg, Urteil vom 30. Juni 2009 – 3 Bf 408/08 -, Rn. 31 ff., juris.

Unter Zugrundelegung der vorgenannten Kriterien sind die mobilen Haltverbotszeichen ordnungsgemäß bekannt gegeben worden und waren ausweislich des vorliegenden Fotomaterials nach dem Sichtbarkeitsgrundsatz für einen durchschnittlichen Kraftfahrer bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hinreichend erkennbar. Dies gilt auch unter Einbeziehung der am Eingang des Parkplatzes aufgestellten Schilder. Denn aus der Zusammenschau der Schilder ist ersichtlich, dass das absolute Halteverbot für die jeweils bezeichneten Reihen der Parkplätze gelten sollte.

…..“

Na ja, ……

Vollbremsung für eine Taube, oder: (Allein)Haftung des Auffahrenden oder des Bremsers?

entnommen wikimedia.org
By IqRS at de.wikipedia – Own work, CC BY-SA 2.0 de

Die zweite Entscheidung kommt heute vom AG Dortmund. Es handelt sich um das AG Dortmund, Urt. v. 10.07.2018 – 425 C 2383/18, also schon etwas älter, aber noch einen Bericht wert. Entschieden hat das AG einen Verkehrsunfall an einer Lichtzeichenanlage. Dort hatte der Beklagte bei Rotlicht halten müssen. Als die Ampel auf Grün unschaltete, fuhr der Beklagte wieder an. Er bremste seinen Pkw jedoch unmittelbar dnach plötzlich wieder ab. Grund: Vor dem Beklagten überquerte eine Taube die Straße, der Beklagte wollte die nicht überfahren. Der nachfolgende Pkw der Klägerin fuhr auf. Der macht seinen Schaden geltend. Die Parteien streiten dann um die Anwendung des Anscheinsbeweises. Dazu das AG Dortmund:

„Der Verkehrsunfall beruht bezüglich beider Fahrzeuge weder auf höherer Gewalt iSd § 7 Abs. 2 StVG noch lag ein unabwendbares Ereignis iSd § 17 Abs. 3 StVG vor.

In welchem Umfang die Beklagten der Klägerin zum Schadensersatz verpflichtet sind, hängt somit von den Umständen ab, insbesondere davon, inwieweit der Schaden vorwiegend von der einen oder der anderen Partei verursacht worden ist § 17 Abs. 1StVG. Dabei ist jede Partei für Umstände, die die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der anderen Partei erhöhen können, beweispflichtig.

II.

Insofern gilt Folgendes:

1. Es spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Unfallverursachung durch den Fahrer des Fahrzeugs der Klägerin. Dieser Beweis des ersten Anscheins setzt einen typischen Geschehnisablauf voraus, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist. Ein solch typischer Geschehnisablauf ist im Straßenverkehr, das Auffahren auf ein anderes Fahrzeug. Hier spricht die Lebenserfahrung dafür, dass der Kraftfahrer der auf ein vor ihm fahrendes oder stehendes Fahrzeug auffährt, entweder zu schnell, mit unzureichendem Sicherheitsabstand oder unaufmerksam gefahren ist (BGHZ 192, 84). Nach § 4 Abs. 1 S. 1 StVO muss ein solcher Abstand eingehalten werden, dass hinter diesem angehalten werden kann, wenn plötzlich gebremst wird.

Dieser Beweis des ersten Anscheins kann jedoch erschüttert bzw. ausgeräumt werden, wenn der Auffahrende einen anderen ernsthaften, typischen Geschehnisablauf darlegt und beweist. Dabei genügt die bloße Darlegung anderer oder theoretischer Möglichkeiten zur Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht. Eine solche Entkräftung des Anscheinsbeweises hätte zur Folge, dass der Beklagte die von ihm bekundete Unfalldarstellung wieder in vollem Umfang beweisen muss.

Die Beklagten haben den gegen sie sprechenden Beweis des ersten Anscheins nicht entkräftet.

Bereits nach eigenem Sachvortrag der Klägerin ist der Anscheinsbeweis nicht entkräftet. Der Anscheinsbeweis wäre nicht dadurch erschüttert, dass der Beklagte zu 2) für eine Taube stark gebremst hat.

Das Bremsen für eine Taube war nicht ohne zwingenden Grund und stellt in dieser konkreten Situation keinen Verstoß gegen § 4 Abs. 1, S. 2 StVO dar. Der Zweck des § 4 Abs. 1, S. 2 StVO ist das Verhindern von Auffahrunfällen. Der Grund des Bremsens ist vorliegend dem Zweck des Bremsverbots mindestens gleichwertig.

Eine Abwägung der gefährdeten Rechtsgütern ergibt, dass in dem hier zu entscheidenden Fall der Beklagte zu 2) bremsen durfte. Die damit einhergehende Gefahr von Sachschäden an dem eigenen wie an dem fremden Kraftfahrzeug hat keinen Vorrang vor dem Tierwohl. Vielmehr ist hier zu beachten, dass der Unfall bei sehr geringer Geschwindigkeiten im Anfahrvorgang geschah. Aufgrund der geringen Geschwindigkeit waren auch keine Personenschäden zu erwarten. Es mag sein, dass der Fahrer des Fahrzeugs der Klägerin beim Anfahren an einer Kreuzung eine große Anzahl an möglichen Gefahren beachten muss. Gerade deshalb hat er jedoch den nötigen Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug herzustellen und einzuhalten sowie stets bremsbereit zu sein. Besonders im Stadtgebiet muss man stets damit rechnen, dass sich Gegenstände, die für den Hinterherfahrenden nicht oder nicht gut sichtbar sind, auf der Fahrbahn befinden.

Allein weil es sich bei einer Taube um ein Kleintier handelt, kann nicht verlangt werden, dass der Beklagte zu 2) das Tier hätte überfahren müssen. Das Töten eines Wirbeltiers stellt nach §§ 4 Abs. 1, 18 Abs. 1 Nr. 5 TierSchG grundsätzlich eine Ordnungswidrigkeit dar und ist dem Beklagten zu 2) nicht zuzumuten. Diese Vorschrift ist auch Folge des im Jahr 2002 in Art. 20a GG aufgenommen Tierschutz als Staatszielbestimmung der Bundesrepublik Deutschlands.

Das von der Klägerin angeführte Urteil des OLG Hamms vom 13.07.1993 behandelt einen anders gelagerten Sachverhalt. Dort erfolgte das Abbremsen des Vorausfahrenden im fließenden Verkehr und dementsprechend war die Geschwindigkeit der daran beteiligten Fahrzeuge höher. Das Abbremsen war für die Verkehrsteilnehmer von größerer Gefahr und stellte ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO dar. Vorliegend geschah der Unfall beim Anfahren an einer Ampel nach einer Rotlichtphase. Die mit dem Bremsvorgang verbundenen Geschwindigkeiten und Gefahren für die Verkehrsteilnehmer und deren Rechtsgütern sind geringer. Zudem war der Tierschutz im Jahr 1993 noch nicht als Staatszielbestimmung im Grundgesetz normiert.

2. Nichts anderes gilt, wenn man den Sachverhalt der Beklagten zugrunde legt. Danach hat der Beklagte zu 2) verkehrsbedingt gebremst. Auch insofern wäre es Sache der Klägerin gewesen darzulegen und zu beweisen, dass der Beklagte zu 2 ohne zwingenden Grund stark gebremst hat. Nach § 4 Abs. 1 S. 1 StVO muss ein solcher Abstand eingehalten werden, dass hinter diesem angehalten werden kann, wenn plötzlich gebremst wird. Insofern hat die Klägerin an ihrem Sachverhalt mit der Taube festgehalten.

III.

Nach § 17 Abs. 1 StVG hängt die Verpflichtung zum Schadensersatz von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von der einen oder anderen Partei verursacht worden ist. Dabei ist zu berücksichtigen, wer von den Beteiligten die erste, wer die bedeutendste und schwerwiegendste und wer die entscheidende, den Unfall auslösende Unfallursache gesetzt hat. Weiter ist die von den Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr zu untersuchen. Schließlich ist auch noch das Verschulden zu berücksichtigen, da auch dies ein die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs erhöhender Umstand sein kann.

Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge das Unfallereignis auf eine Unfallursache zurückzuführen ist, die der Fahrer des Fahrzeugs der Klägerin durch seinen zu geringen Abstand oder die Unaufmerksamkeit gesetzt hat. Das Fehlverhalten war bedeutend und unfallauslösend. Insofern ist nach neuerer Auffassung in Fällen der vorliegenden Art eine Alleinhaftung des Auffahrenden gegeben (Grünberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 14. Aufl., Rn 127; a.A. AG Solingen ZfS 2003, 539: Verteilung 75% zu 25% zu Lasten des Auffahrenden).“