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Zu schnell gefahren? – Pflichtverteidiger erforderlich

Jedenfalls kann man so ggf. im JGG-Verfahren argumentieren und sich dazu auf LG Dortmund, Beschl. v. 28.06.2011 –  31 Qs-139 Js 2099110-37/11, der sich zu Bestellung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren verhält, berufen.

Ziemlich knapp, aber immerhin führt das LG aus:

„Nach §§ 68 JGG, 140 Abs. 2 StPO bestellt der Vorsitzende einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Es kann dahin stehen, ob vorliegend wegen der Schwere der Tat die Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist. Jedenfalls erscheint die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich. Unabhängig davon, dass bereits fünf Zeugen zum Hauptverhandlungstermin geladen wurden, ist es möglich, dass zur Frage der Geschwindigkeit des vorn Angeklagten gefahrenen Fahrzeugs die Einholung eines Gutachtens erforderlich sein wird. Die in diesem Zusammenhang aufkommenden Fragen des materiellen und prozessualen Strafrechts lassen eine angemessene Verteidigung des heranwachsenden Angeklagten unter Würdigung sämtlicher Umstände nur mit Hilfe eines Verteidigers möglich erscheinen.“

Neues (?) zum Pflichtverteidiger für den inhaftierten Beschuldigten (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO)

Na ja, so ganz viel Neues ist in OLG Düsseldorf, Beschl. v.  16. 3. 2011 – III-4 Ws 127/11 nicht enthalten, da einige der angesprochenen Fragen auch schon von anderen OLGs behandelt worden sind (vgl. z.B. OLG Koblenz). Aber dennoch, berichtenswert, vor allem wegen des Leitsatzes zu 2).

  1. Verzichtet der Beschuldigte, dem nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ein Pflichtverteidiger wegen Vollstreckung der Untersuchungshaft beizuordnen ist, im Rahmen seiner Anhörung durch den Ermittlungsrichter auf sein Recht zur Benennung eines Verteidigers seiner Wahl, so ist ihm gleichwohl eine angemessene Überlegungs- und Erklärungsfrist zu gewähren, wenn zweifelhaft erscheint, dass er sich der Tragweite und Bindungswirkung seiner Erklärung bewusst ist.
  2. Die Beiordnung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO entfällt mit der Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft.
  3. Hat sich nach Haftentlassung ein Wahlverteidiger bestellt, so ist bei erneutem Vollzug von Untersuchungshaft nunmehr dieser auf einen entsprechenden Antrag des Beschuldigten; eine rechtsmissbräuchliche Verdrängung des bisherigen Pflichtverteidigers liegt dann nicht vor.

Falsche Verdächtigung ist schwierig,

jedenfalls dann, wenn die Tat offenbar so kompliziert ist, wie es im LG Essen, Beschl. v.06.04.2011 -56 Qs 25/11 offenbar der Fall war. Mehrere Einlassungen, schwierige subjektive Seite. Da kann man nur mit einem Pflichtverteidiger arbeiten. Und den hat das LG dann auf die Beschwerde hin beigeordnet und dazu u.a.  ausgeführt:

„Hinzu kommt, dass die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Vertei­diger gemäß § 147 StPO zusteht, hier nicht umfassend vorbereitet werden kann, was die Schwierigkeit der Sachlage vertieft (vgl. Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 140 Rz. 22 mit Nachweisen aus der obergerichtlichen Rspr.). Denn um die Tatvorwürfe zu prüfen, ist die Kenntnis der Einlassungen und der Zeugenaussagen von Bedeutung. Diese können wegen des Zeitablaufs auch nicht mehr aus dem Ge­dächtnis rekonstruiert werden.

Zwar hat der unverteidigte Angeklagte auf seinen Antrag einen Anspruch auf Aus­künfte und Abschriften aus den Akten, wenn er sich sonst nicht angemessen vertei­digen könnte (§ 147 Abs. 7 StPO). Doch erscheint die Angeklagte M. im vorlie­genden Fall nicht in der Lage, die für ihre Verteidigung relevanten Teile der Akten zu benennen und in ihrer Bedeutung einzuschätzen, so dass (vollständige) Aktenein­sicht durch einen Verteidiger zwingend erforderlich ist...“

Pflichtverteidigung – ich bin sehr erstaunt,…

welche amtsgerichtlichen Entscheidungen es dann doch immer wieder gibt (ich schreibe bewusst nicht „fassungslos“, sonst hagelt es wieder Kommentare :-)). Jedenfalls fragt man sich, was bei den AG denn  nun gelesen wird.

Nun ja, wenn schon keine Rechtsprechung, dann aber vielleicht doch die „Bibel der StPO“, den „Meyer-Goßner“. Und da steht doch ziemlich eindeutig in der Kommentierung zu § 140 StPO, dass es eben nicht nur auf die im jeweiligen Verfahren zu erwartende Strafe, sondern auch auf Auswirkungen der Verurteilung, sprich z.B. einen ggf. zu erwartenden Widerruf von Strafaussetzung, ankommt. Wenn man das weiß bzw. gewusst hätte, dann hätte man dem Angeklagten in OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13. April 2011 – 2 RVs 27/11 schon beim AG einen Pflichtverteidiger beigeordnet. Denn 8 Monate Freiheitsstrafe im Verfahren und 9 Monate drohender Widerruf in einem anderen Verfahren, sind eben mehr als die magische Zahl „1 Jahr Freiheitsstrafe“, bei der – so kann man es wohl formulieren – ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden muss. Das OLG hat es dann gerichtet.

Unabhängig davon: Man kann m.E. sogar der Auffassung sein, dass allein die 8 Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung ausgereicht hätten, einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Aber so weit ist die Rechtsprechung noch nicht.

Pflichtverteidiger – Aspekt der Waffengleichheit

Auch du, mein Sohn Brutus, aber im positiven Sinn :-).

Auch das OLG Jena, Beschl. v. 15.11.2011 – 1 Ss 1/11 geht davon aus, dass dann, wenn dem Geschädigten ein Beistand beigeordnet worden ist, i.d.R (= praktisch immer) dem Angeklagten ein Pflichtverteidi­ger beizuordnen ist. Prinzip der Waffengleichheit, was demnächst in einen neuen § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO übernommen werden soll.