Archiv der Kategorie: Zivilrecht

beA I: Streit um das Zustellungsdatum des Urteils, oder: Anordnung der Vorlage des beA-Nachrichtenjournals

Bild von OpenIcons auf Pixabay

Und dann auf in die neue Woche, und zwar zunächst mit beA-Beiträgen

Den Opener macht hier der OLG München, Beschl. v. 26.4.2024 – 23 U 8369/21. Gestritten wird in dem Verfahren um das Zustellungsdatum des erstinstanzlichen Urteils. Das OLG hat die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals angeordnet:

„1. Der Senat hält auch unter Berücksichtigung der Einwände des Klägervertreters im Schriftsatz vom 09.02.2024 an seiner Einschätzung aus dem Hinweisbeschluss vom 02.02.2024 fest, dass weder dem Beweisantrag der Klägerin auf Vorlage der Mandantenkorrespondenz des Beklagtenvertreters mit dem Beklagten noch dem Antrag auf Parteieinvernahme des Beklagten stattzugeben ist. Auf die im Hinweisbeschluss hierfür angeführten Gründe wird Bezug genommen.

2. Im Schriftsatz vom 09.02.2024 (S. 3) nimmt die Klägerin indes nunmehr ausdrücklich auf das beA-Nachrichtenjournal des Beklagtenvertreters für die Übersendung des Landgerichtsurteils Bezug. Der Senat beabsichtigt daher, gemäß § 142 Abs. 1 ZPO anzuordnen, dass der Beklagte dieses Journal betreffend die Übersendung des Landgerichtsurteils in ausgedruckter Form als Urkunde vorlegt.

2.1. Die Klagepartei hat sich auf das Nachrichtenjournal bezogen im Sinne des § 142 Abs. 1 ZPO.

2.2. Der Ausdruck aus dem beA-Nachrichtenjournal des Beklagtenvertreters ist als Ausdruck eines elektronischen Dokuments eine sonstige Unterlage im Sinne des § 142 Abs. 1 ZPO (Muslielak/Voit/Stadler, 2. Aufl. 2023, ZPO, § 142 Rn. 2). Sie befindet sich im Besitz der beklagten Partei. Hierzu genügt der mittelbare Besitz der Partei, der dadurch begründet wird, dass sich das Journal in den Händen des seinen Anweisungen unterliegenden Rechtsanwalts befindet (Musielak/Voit/Stadler, a.a.O., § 142 Rn. 3). Dass der Beklagtenvertreter den Ausdruck u.U. erst noch erstellen muss, hindert die zumindest analoge Anwendung des § 142 Abs. 1 ZPO nicht (BGH NJW 2013, 1003 Tz. 9 ff. für die Anfertigung einer Eigentümerliste; Anders/Gehle/Bünnigmann, 82. Aufl. 2024, ZPO, § 142 Rn. 11).

2.3. Nach derzeitiger, vorläufiger Ansicht des Senats entspricht es in vorliegendem Einzelfall pflichtgemäßem Ermessen, die Vorlage anzuordnen.

2.3.1. Das beA-Nachrichtenjournal protokolliert im System des Rechtsanwalts, wann eine Nachricht eingegangen ist und wer sie wann zum ersten Mal geöffnet hat (Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Rn. 15; Ultsch WuB 2023, 298, 301). Dies kann ein gewichtiges Beweismittel für die Klagepartei sein, die vorliegend die Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters genannten Zustelldatums behauptet.

2.3.2. Ein das Klägerinteresse überwiegendes Geheimhaltungsinteresse der beklagten Partei oder ihres Prozessvertreters ist nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Frage, wann das Urteil des Landgerichts erstmals seitens des Beklagtenvertreters geöffnet wurde, hat der Beklagte kein schützenswertes Interesse, die Information aus dem Verfahren herauszuhalten. Im Gegenteil: Die für die Zulässigkeit der Berufung wesentliche Vorfrage ist – wie die Zulässigkeit der Berufung – von Amts wegen zu klären. Anders als bei der Vorlage von Mandantenkorrespondenz geht es hierbei nicht um die interne Kommunikation eines Rechtsanwalts mit seinem Mandanten etwa über die Prozessstrategie.

2.3.3. Allerdings ist im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass nach § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO a.F. (§ 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO n.F.) grundsätzlich allein das Empfangsbekenntnis als Nachweis der Zustellung genügt. Die gesetzliche Wertung darf nicht vorschnell dahin abgeändert werden, dass der Zustellempfänger zusätzlich auch noch das beA-Nachrichtenjournal vorlegen muss, um seiner Nachweispflicht zu genügen. Eine Anordnung der Vorlage des Journals ist daher nur dann gerechtfertigt und angemessen, wenn konkrete Umstände vorgetragen oder sonst verfahrensgegenständlich sind, die im Einzelfall einen besonderen, gegenüber dem Normalfall gesteigerten Überprüfungsbedarf indizieren (vgl. Anders/Gehle/Anders, a.a.O., § 130 a Rn. 7; Musielak/Voit/Stadler, a.a.O., § 142 Rn. 3, Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Rn. 23).

Nach diesen Grundsätzen dürfte die Anordnung hier zu treffen sein: Zwischen der Absendung des Teilurteils am 07.10.2021 und der elektronischen Bestätigung des Eingangs der Nachricht im System des Beklagtenvertreters am gleichen Tag einerseits und dem 22.10.2021 als Zustelldatum gemäß dem Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters andererseits lagen mehr als zwei Wochen. Diese erhebliche Dauer belegt zwar für sich nicht die Unrichtigkeit des Empfangsbekenntnisses (BGH NJW-RR 2021, 1584 Tz. 11; Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Rn. 13; hierzu bereits Hinweis vom 02.02.2024). Sie rechtfertigt – in Verbindung mit den übrigen Umständen des vorliegenden Einzelfalls – hier indes, die Vorlage des Nachrichtenjournals zur näheren Überprüfung anzuordnen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Ernpfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat (vgl. BeckOK BRAO/Günther, 22. Ed. 1.2.24, BRAO § 54 Rn. 8 f.; BeckOK BORA/Günther, 42. Ed. 1.12.23, BORA § 14 Rn. 8; Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Tz. 8). Der Beklagtenvertreter hat bislang nicht erklärt, wie und warum es gleichwohl zu der deutlich über eine Woche hinausgehenden Zustellverzögerung kam. Hinzu kommt, dass der Beklagtenvertreter – gleichfalls bislang ohne Erläuterung – das Empfangsbekenntnis erst unter dem Datum 04.11.2021 gezeichnet und dann erst mit Fax vom 19.11.2021 (9:41 Uhr) an das Landgericht übersandt hat, nachdem er zuvor bereits dreimal (am 21.10.21, am 4.11.21, am 17.11.21) vom Landgericht dazu gemahnt worden war.

Insgesamt dürfte sich aus der gegebenen Situation ein weiterer, besonderer Aufklärungsbedarf ergeben, der das Beweisinteresse der Klägerin überwiegen und die Anordnung gemäß § 142 ZPO angemessen erscheinen lassen dürfte.“

Die Eventualeinberufung der Mitgliederversammlung, oder: Grundlage in der Vereinssatzung?

Vereinsrecht- 11. Aufl.Es ist „Saturdaytime“ und damit „Kessel-Buntes-Tag. In dem köchelt heute etwas zum Vereinsrecht und dann noch etwas zu Corona.

Den Opener mache ich mit dem Vereinsrecht, und zwar mit dem Hinweis auf den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.04.2024 – 19 W 21/24 (Wx) – zur Eventualeinberufung der Mitgliederversammlung eines Vereins.

Und da die Problematik bereits entschieden ist und das OLg dem folgt, reicht der Leitsatz- Und zwar:

Eine Eventualeinberufung zur Mitgliederversammlung für den Fall fehlender Beschlussfähigkeit ist nur bei entsprechender Satzungsgrundlage zulässig (Anschluss an BayObLG, Beschluss vom 18. September 2002 – 3Z BR 148/02 –, juris, Rn. 12; LG Bremen, Beschluss vom 14. Oktober 1998 – 2 T 736/98).

Die Fragen sind übrigens auch behandelt bei <<Werbemodus an>> Burhoff, Vereinsrecht, 11. Aufl, 2022, das man hier bestellen kann <<Werbemodus aus>>.

Rechtsabbiegen des Lang-Lkw mit Linksschwenk, oder: Man muss sich einweisen lassen

Bild von Bishnu Sarangi auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung, dem OLG Stuttgart, Urt. v. 11.04.2024 – 2 U 176/22 – hat das OLG zur Haftungsverteilung bei eienm Abbiegeunfall Stellung genommen.

Geklagt wird von einem Kaskoversicherer, der im Regress Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend macht. Dem liegt etwas Folgendes Verkehrsgeschehen zugrunde: Am Unfalltag stand der Beklagte Ziff. 1 mit dem bei der Beklagten Ziff. 2 versicherten Fahrzeug auf der zweispurigen Abbiegespur von der K.-Straße auf die R-Straße in S. und wartete an der Ampel auf Grünlicht. Bei dem Fahrzeug handelt es sich um einen Lang-Lkw, ein Gespann von etwas mehr als 25 m. Das Fahrzeug nahm teilweise auch die linke Spur in Anspruch, wobei zwischen den Parteien der genaue Standort streitig ist. Der bei der Klägerin versicherte und vom Zeugen M. gelenkte Mercedes GLE 350 stand links von dem Beklagtenfahrzeug, wobei auch hier der genaue Standort einschließlich des Abstands zum Beklagtenfahrzeug zwischen den Parteien streitig ist.

Nachdem der Beklagte Ziff. 1 mit dem Lang-Lkw angefahren war, kam es zur Kollision zwischen der linken vorderen Ecke des Anhängers und der rechten hinteren Seite des bei der Klägerin versicherten Fahrzeugs.

Der Reparaturaufwand am Pkw beträgt 12.171,40 EUR netto, die Wertminderung 1.848,74 EUR. Die Klägerin hat den Schaden ihres Versicherungsnehmers reguliert. Im Regress hat die Beklagte Ziff. 2 an die Klägerin ein Drittel der Reparaturkosten (4.057,13 EUR) erstattet.

Mit der Klage verfolgt die Klägerin weitergehende Erstattungsansprüche. Das LG hat der teilweise stattgegeben. Dabei legte das LG einen Haftungsanteil der Beklagten von 1/3 zu Grunde.  Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche noch in Höhe von 75 % des Nettoschadens weiter. Die Berufung hatte Erfolg.

Das OLG geht von einem nach § 18 Abs. 1 StVG haftungsbegründenden/vermuteten Verschulden des Beklagten Ziff. 1 als Fahrer des Lang-LKW aus. Das ergebe sich aus einem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO. Zwischen den Parteien sei auch nicht streitig, dass weder höhere Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG, § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG) noch eine Unabwendbarkeit des Unfalls (§ 17 Abs. 3 StVG, § 18 Abs. 3 StVG) vorliegt.

Zur Haftungsabwägung führt das OLG dann aus:

„Nicht gefolgt werden kann allerdings der Wertung des Landgerichts, wonach die Klägerin lediglich 1/3 des Schadens ersetzt verlangen kann. Vielmehr ist ihr Schaden antragsgemäß mit einem Anteil von 3/4 zu ersetzen.

Bei der gemäß § 17 Absatz 3 StVG (i.V.m. § 18 Absatz 3 StVG) durchzuführenden Abwägung kommt es entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat (BGH, Urteil vom 20. Januar 1998 – VI ZR 59/97, juris Rn. 8). Einzustellen ist auch die Betriebsgefahr (BGH, Urteil vom 07. März 2017 – VI ZR 125/16, juris Rn. 16). Die Betriebsgefahr kann durch besondere Umstände erhöht sein, namentlich durch eine fehlerhafte oder verkehrswidrige Fahrweise (BGH, Urteil vom 27. Juni 2000 – VI ZR 126/99, juris Rn. 23). Einzubeziehen sind jedoch nur diejenigen unstreitigen oder erwiesenen Faktoren, die eingetreten sind, zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und einem der Beteiligten zuzurechnen sind (BGH, Urteil vom 21. November 2006 – VI ZR 115/05, juris Rn. 15).

1. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Betriebsgefahr des vom Beklagten Ziff. 1 gelenkten Fahrzeugs äußerst hoch anzusetzen. Es handelt sich um ein sehr langes Gespann von über 25 Metern, dessen Fahrverhalten beim Rechtsabbiegen vom Beklagten Ziff. 1 in der konkreten Verkehrssituation nicht sicher beherrschbar war. Wegen der Länge seines Fahrzeugs war der Fahrer gezwungen, die linke Abbiegespur teilweise mitzubenutzen, um den Abbiegevorgang fahrtechnisch absolvieren zu können. Schon dieser Umstand erhöht die Betriebsgefahr immens. Dies gilt insbesondere, wenn die Nutzung der fremden Fahrbahn in der vom Beklagten Ziff. 1 angestellten Erwägung geschieht, den Verkehrsfluss gezielt zu stören, um den Abbiegevorgang überhaupt erst oder mit erhöhtem Komfort durchführen zu können. Dieses Fahrverhalten hat ganz erheblich zum Verkehrsunfall beigetragen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass anhand der Angaben des Sachverständigen nicht sicher beurteilt werden kann – was der Vortrag des Beklagten Ziff. 1 allerdings nahelegt –, ob der Beklagte Ziff. 1 zugleich gegen das Gebot, möglichst weit rechts zu fahren (§ 2 Absatz 2 StVO, § 9 Absatz 1 Satz 2 StVO), verstoßen hat.

Weiter ist die Betriebsgefahr des Lang-Lkws dadurch erhöht, dass der Anhänger beim Rechtsabbiegen an seiner vorderen linken Ecke nach links ausschwenkt und der Fahrer aus seiner Position nicht beobachten kann, ob hierdurch der nachfolgende Verkehr gefährdet wird. Dies steht aufgrund der Fahrversuche des Sachverständigen R. mit einem typgleichen Lang-LKW fest. Der Sachverständige hat festgestellt, dass der Fahrer keine Möglichkeit mehr hat, den Verkehrsraum links neben dem Auflieger zu beobachten, sobald sich das Zugfahrzeug nach Beginn des Abbiegevorgangs nach rechts wegbewegt hat. Weiter hat der Sachverständige bei den Fahrversuchen beobachtet, dass sich die linken Ecken des Zugfahrzeugs auf der gleichen Fahrlinie bewegen, sich dann aber während der Kurvenfahrt die linke vordere Ecke des Aufliegers nach links bewegt, also aus der Fahrlinie des Zugfahrzeuges ausschert, und zwar etwa einen Meter über einen im Fahrversuch an der Fahrlinie positionierten Gegenstand hinaus. Aus diesen Feststellungen des Sachverständigen folgt, dass das Beklagtenfahrzeug beim Abbiegevorgang die fremde Spur benutzt hat, ohne dass der Fahrer die Möglichkeit hatte, den gefährdeten Verkehrsraum zu beobachten. Der Fahrer muss jedoch Sichteinschränkungen berücksichtigen (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 19. März 1996 – 10 U 167/95, juris Rn. 5 zum toten Winkel). All dies begründet eine sehr hohe Betriebsgefahr, die sich in dem Verkehrsunfall auch realisiert hat.

Diese Betriebsgefahr hat sich noch dadurch erhöht, dass – wie der Beklagte Ziff. 1 in seiner erstinstanzlichen Anhörung angegeben hat – regelmäßig Fahrzeuge versuchen, sich an dem Lang-Lkw „vorbeizudrücken“. Deshalb versucht der Beklagte, mit dem Motorwagen die linke und mit dem Anhänger die rechte Spur zu blockieren, damit sich niemand an ihm vorbeidrücken könne. Nach den Ausführungen des Sachverständigen konnten die beiden Fahrspuren wegen ihrer Gesamtbreite jedoch nicht so blockiert werden, dass ein Vorbeifahren anderer Fahrzeuge zu verhindern war.

Der Beklagte Ziff. 1 musste deshalb schon aufgrund der Fahrbahnbreite und seiner vorangegangenen Erfahrungen an der Unfallörtlichkeit damit rechnen, dass sich ein Fahrzeug an ihm „vorbeidrücken“ würde, konnte aber während des Abbiegevorgangs wegen der beschränkten Sichtverhältnisse nicht erkennen, ob durch den nach links weiter in die fremde Fahrbahn ausscherenden Anhänger nachfolgender Verkehr gefährdet wird. Somit war die Verkehrssituation für ihn nicht beherrschbar. Er muss vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr achten. Eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs muss ausgeschlossen sein (§ 9 Absatz 1 Satz 4 StVO). Dies gilt auch für den rechtsabbiegenden Verkehr und erfordert bei einem ausschwenkenden Fahrzeug ein äußerst sorgfältiges Verhalten, notfalls die Einweisung durch eine weitere Person (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 9 StVO Rn. 25).

Diese Straßenverkehrsregeln konnte der Beklagte Ziff. 1 aufgrund der Beschaffenheit seines Gespanns in der konkreten Verkehrssituation nicht einhalten, weil das Ausschwenken des Anhängers zu einer Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs führte und die eingeschränkten Sichtverhältnisse eine Beobachtung des gefährdeten Verkehrsraums auch nicht ermöglichten. Obwohl der Beklagte Ziff. 1 mit „vorbeidrückenden“ Autos rechnen musste und damit auch gerechnet hat, ist er ohne ausreichende Sicht gefahren. In einer solchen Situation hätte er sich von jemand anderem einweisen lassen müssen, um den Unfall zu vermeiden. In diesem Verstoß gegen § 9 Absatz 1 Satz 4 StVO liegt ein bei der Abwägung zu berücksichtigendes Verschulden des Beklagten Ziff. 1.

2. Demgegenüber hat das Landgericht die an den Fahrer des klägerischen Fahrzeugs gestellten Pflichten deutlich überspannt. Einem Kraftfahrer kann nicht dasjenige als Wissen unterstellt werden, was ein gerichtlicher Sachverständiger erst durch Fahrversuche herausfindet, dass nämlich die linke vordere Ecke eines Anhängers um einen Meter nach links ausschwenkt, wenn es sich um das Gespann eines Lang-Lkws handelt. Auch war das Blockieren beider Fahrspuren durch den Beklagten Ziff. 1 in keiner Weise geeignet, den nachfolgenden Verkehr vor solchen Gefahren zu warnen. Die Klägerin weist zu Recht darauf hin, dass andere Verkehrsteilnehmer dies auch dahingehend deuten können, dass der Lkw den Platz benötigt, um ausreichend Platz für das Abbiegen nach rechts zu bekommen.

Als relevante Abwägungskriterien verbleiben zum Nachteil der Klägerin mithin die allgemeine Betriebsgefahr eines Pkw sowie der von der Klägerin eingeräumte Verstoß gegen die allgemeinen Sorgfaltspflichten (§ 1 Absatz 2 StVO), weil der Fahrer trotz erkennbar enger Verhältnisse sich an dem Beklagtenfahrzeug „vorbeigedrückt“ hat.

3. Unter Abwägung der Verursachungsbeiträge hat die Klägerin nicht mehr als den von ihr eingeräumten Anteil von einem Viertel zu tragen. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann bei weitem nicht die Rede davon sein, der Fahrer des Klägerfahrzeugs habe den Unfall allein verursacht. Vielmehr war die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs in der konkreten Verkehrssituation extrem hoch und hat sich in dem Unfallgeschehen auch realisiert.“

Explosion beim Reinigen eines Kraftstofftanks, oder: Verletzung der Verkehrssicherungspflicht?

entnommen pixabay

Und heute dann (verkehrs)zivilrechtliche Entscheidungen, seit längerem mal wieder.

Ich starte in die Berichterstattung mit dem OLG Celle, Urt. v. 07.02.2024 – 14 U 113/23. Das OLG nimmt Stellung zur Verkehrssicherungspflicht als vertragliche Nebenpflicht im Werkvertrag bei Reinigung eines Kraftstofftanks.

Folgender Sachverhalt: Gestritten wird um Schadensersatzansprüche aufgrund einer Explosion der kleinen privaten Tankstelle auf dem Grundstück der Klägerin. Die Klägerin betreibt ein mittelständisches Tischlereiunternehmen, welches über mehrere Firmenfahrzeuge verfügt. Um diese besser bewirtschaften zu können, beabsichtigte die Klägerin, eine auf ihrem Firmengelände befindliche kleine private Tankstelle vom Eigentümer, Herrn H., zu pachten und eigenständig zu betreiben. Allerdings war diese seit Jahren bereits nicht mehr in Betrieb, als sich die Klägerin entschloss, die Tankstelle zu pachten. Mit Mietvertrag vom 30. Juni 2016 mietete sie die auf ihrem Firmengelände befindliche Tankstelle zum eigenständigen Betrieb sowie eine Lagerhalle zu einer monatlichen Miete von 300 € zzgl. 19 % MwSt. Die Klägerin beauftragte die Beklagte mit E-Mail mit der fachgerechten Reinigung der zwei Tankstellentanks aus Kunststoff mit je 2x 2.000 l Fassungsvermögen. Zur Ausführung der Tankreinigung beauftragte die Beklagte wiederum die Firma des Streithelfers, den Pe. D. Tankschutzbetrieb. Die Mitarbeiter des Streithelfers führten am 11. September 2018 die Reinigungsarbeiten auf dem Grundstück der Klägerin aus, nachdem sie die Stromzufuhr der Pumpe der Tanks von der Klägerin unterbrechen ließen. Es kam zu einer Explosion eines Tanks der Tankstelle – wobei die Ursache, Zeitpunkt und das Ausmaß der Explosion zwischen den Parteien streitig ist. Personen wurden nicht verletzt. Die Klägerin zahlt an den Eigentümer die vereinbarte Miete weiter.

Im Streit ist vornehmlich Ursache und Zeitpunkt der Explosion und die Frage, ob sich die Beklagte schuldhaftes Handeln ihrer Mitarbeiter zurechnen lassen muss. Das LG hat die Klage abgewiesen, die Berufung hatte beim OLG teilweise Erfolg.

Das OLG hat seine Entscheidung umfangreich begründet. Ich stelle hier daher nur die Leitsätze vor und verweise im Übrigen auf den verlinkten Volltext:

1. Bei einem Vertrag über die Reinigung eines Kraftstofftanks besteht eine Schutzpflicht des reinigenden Fachunternehmens, die Rechtsgüter des Auftraggebers vor Beschädigungen beim Reinigungsvorgang zu bewahren. Es handelt sich dabei um einen Unterfall einer Verkehrssicherungspflicht als vertraglicher Nebenpflicht.

2. Der Auftragnehmer genügt grundsätzlich seiner Verkehrssicherungspflicht, wenn die von ihm übernommenen Arbeiten den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen.

3a) Die Beweislast für die objektive Pflichtverletzung, für den eingetretenen Schaden und für den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden trägt zwar im Grundsatz der Gläubiger. Etwas Anderes kann allerdings dann gelten, wenn als Schadensursache nur solche aus dem Obhuts- und Gefahrenbereich des Schuldners in Betracht kommen. Steht demnach fest, dass als Schadensursache nur eine solche aus dem Obhuts- und Gefahrenbereich des Schuldners in Betracht kommt, muss dieser sich nicht nur hinsichtlich der subjektiven Seite, sondern auch hinsichtlich der objektiven Pflichtwidrigkeit entlasten.

3b) Diese Beweislastverteilung gilt auch bei einer Schadensersatzhaftung, wenn die genaue Ursache nicht aufgeklärt werden kann.

4a) Die Technischen Regeln für Betriebssicherheit (TRBS 1112 Teil 1) zu Explosionsgefährdungen bei und durch Instandhaltungsarbeiten (Beurteilung und Schutzmaßnahmen) können zur Beurteilung der Sicherheit der durchgeführten Arbeiten herangezogen werden.

4b) Die technischen Regelungen zum Betriebsschutz geben im Anwendungsbereich als Zusammenfassung die für den Umgang mit Explosionsgefahren geltenden anerkannten Regeln der Technik und den Stand der geforderten Schutz- und Gefahrenbeurteilungsmaßnahmen wieder und sind somit zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung zur Sicherheit Gebotenen geeignet.

Flug II: Nichtantritt eines Fluges durch Fluggast, oder: Anspruch auf Erstattung von Steuern und Gebühren?

Bild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung, dem AG Königs Wusterhausen, Urt. v. 15. April 2024 – 4 C 4347/23 (2) – hat das AG zum Anspruch auf Erstattung unverbrauchter Steuern und Gebühren nach dem Nichtantritt eines gebuchten Fluges Stellung genommen.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten aus abgetretenem Recht die Erstattung nicht verbrauchter Steuern und Gebühren nach dem Nichtantritt eines gebuchten Fluges. Die in A. wohnhafte Frau B., die Zedentin buchte bei der Beklagten ein Ticket für den Flug EJU 5547 am 23.03.2023 von Edinburgh (EDI) nach Berlin (BER) und für den Flug EZY 3161 am 30.03.2023 zurück von Berlin nach Edinburgh. Sie bezahlte dafür 74,38 EUR an die Beklagte. Die Zedentin trat die Flüge nicht an.

Wenn die Beklagte die Zedentin befördert hätte, hätte sie an Dritte Steuern und Gebühren (insbesondere Luftverkehrsabgabe, Passagierentgelt für die Abfertigung am Startflughafen, Gebühren für die Sicherheitskontrolle am Startflughafen, usw.) von zusammen 61,44 EUR zahlen müssen. Diese Steuern und Gebühren hat die Beklagte für die streitgegenständliche Buchung aufgrund des Nichtantritts der Flüge durch die Zedentin nicht abführen müssen.

Die Klägerin zeigte der Beklagten mit Schreiben vom 26.03.2023 die Abtretung der Forderung an und forderte die Beklagte erfolglos zur Zahlung der Steuern und Gebühren binnen 14 Tagen auf. Sie ist der Auffassung, der Nichtantritt des Fluges durch die Zedentin stelle eine konkludente Kündigung des Beförderungsvertrages dar. Sie könne daher aus abgetretenem Recht gem. §§ 648 S. 2, 812 Abs. 1 S. 1, 2 BGB die nicht verbrauchten Steuern und Gebühren zurückfordern. Die Beklagte behauptet, in den Beförderungsvertrag seien ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), einbezogen worden. Danach sei ein Anspruch ausgeschlossen. Sie ist ferner der Auffassung, der Beförderungsvertrag unterliege nach Ziff. 21.1 AGB dem Recht von England und Wales. Die Rechtswahlklausel sei wirksam, insbesondere nicht unverständlich. Die verwendeten Begriffe „Übereinkommen“, ARP 2019“ und „Verordnung (EG) 261/2004“ seien in den AGB exakt definiert. Die Beklagte ist ferner der Auffassung, auch im Falle der Anwendbarkeit deutschen Rechts bestehe der Anspruch nicht, da sie das Kündigungsrecht durch Ziff. 5.1, 5.4 AGB wirksam ausgeschlossen habe.

Die Klage hatte Erfolg. Ich verweise wegen der Einzelheiten der Begründung auf den verlinkten Volltext und stelle hier nur die Leitsätze ein:

    1. Die Rechtswahlklausel „In Übereinstimmung mit der beschränkten Rechtswahlmöglichkeit nach dem zweiten Unterabsatz von Artikel 5 Abs. (2) der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (sog. ‚Rom I Verordnung‘) unterliegen ihr Beförderungsvertrag mit uns sowie diese Beförderungsbedingungen dem Recht von England und Wales. Von der Rechtswahl bleiben diejenigen Bestimmungen unberührt, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf, insbesondere der Übereinkommen, der APR 2019 oder der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (zu den Begriffen, siehe den Abschnitt „Definitionen“).“ in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Luftfahrtunternehmens ist gegenüber Verbrauchern wegen der Intransparenz des zweiten Satzes wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Klausel-RL unwirksam.
    2. Klauseln in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Luftfahrtunternehmens, mit denen der gesetzliche Anspruch auf Erstattung nicht verbrauchter Steuern und Gebühren im Falle der Kündigung des Beförderungsbetrages aus § 648 S. 2 BGB ausgeschlossen wird, sind gegenüber Verbrauchern gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam.