Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

StPO II: AG meint, seine Strafgewalt reicht nicht aus, oder: Vorschnelle Verweisung bindet nicht

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 25.04.2022 – 1 AR 10/22. Es geht um die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses des AG an das LG, der auf nicht ausreichende Strafgewalt des AG gestützt ist.

Dem Angeklagten werden mit der Anklage mehrere Vergehen, unter anderem des Verstoßes gegen Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht, der Beleidigung, der Bedrohung, der gefährlichen Körperverletzung und des Diebstahls, zur Last. Das AG – Schöffengericht – hat die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen, das Verfahren eröffnet und am 18.11., 02.12. Und 21.12.2021 Hauptverhandlungstermine durchgeführt.g des Angeklagten, um diesen erneut zu hören. Am Ende des ersten Hauptverhandlungstages verkündete der vorsitzende Richter des Schöffengerichts den Beschluss, dass das Verfahren gem. § 270 StPO an das Landgericht Zweibrücken verwiesen wird. In der Begründung führt das Amtsgericht aus, es halte sich nach Durchführung der Beweisaufnahme für unzuständig und schildert zunächst den Anklagevorwurf betreffend den 29.07.2020 wie in der Anklageschrift ausgeführt. Nach Durchführung der Beweisaufnahme komme nach Auffassung des Amtsgerichts eine Strafbarkeit nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB in Betracht und es bestehe ein hinreichender Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO. Mit Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz reiche es für die Verweisung aus, wenn feststehe, dass im Falle eines Schuldspruchs die Straf- bzw. Rechtsfolgengewalt des Gerichts nicht ausreicht, auch wenn die Schuldfrage nicht hinreichend geklärt sei.

Die Strafkammer beim LG sieht das anders und hat die Sache dem OLG zur Bestimmung der Zuständigkeit vorgelegt. Das hat entschieden, dass das AG zustänig bleibt:

„2. Das Amtsgericht Pirmasens – Schöffengericht – ist das für die weitere Durchführung des Verfahrens sachlich zuständige Gericht.

An eine nach Beginn der Hauptverhandlung gemäß § 270 StPO ergangene Verweisung ist das Gericht höherer Ordnung grundsätzlich gebunden, selbst wenn der diesbezügliche Beschluss formell oder sachlich fehlerhaft sein sollte. Die Bindungswirkung entfällt jedoch ausnahmsweise dann, wenn die Verweisung mit dem Grundprinzip der rechtsstaatlichen Ordnung in Widerspruch steht, der Mangel für einen verständigen Betrachter offenkundig ist und die Entscheidung nicht mehr vertretbar erscheint (OLG Köln, Beschluss vom 13.09.2010 – 2 Ws 561/10, juris; KG Berlin, Beschluss vom 13.03.2009 – 4 ARs 11/09, 1 AR 273/09, juris; jew. m. w. N.). Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob sich das verweisende Gericht so weit von dem durch Art. 101 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz vorgegebenen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass die Entscheidung nicht mehr zu rechtfertigen ist. Die Grenze zum Verfassungsverstoß ist überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist (BVerfG, Beschluss vom 20.06.2012 – 2 BvR 1048/11, juris Rn.129).

Eine Verweisung wegen unzureichender Rechtsfolgenkompetenz (§ 24 Abs. 2 GVG) darf dabei vom Amtsgericht erst dann vorgenommen werden, wenn es die Verhandlung soweit geführt hat, dass der Schuldspruch feststeht, und sich die Straferwartung bei veränderter Sach- und Rechtslage so weit verfestigt hat, dass nicht mehr zu erwarten ist, eine mildere Beurteilung werde noch eine Strafe im Rahmen seiner Strafgewalt als ausreichend erscheinen lassen (h. M. vgl. BGH, Urteil vom 22.04.1999 – 4 StR 19/99, juris Rn.5; OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.09.2011 – 3 Ws 912/11, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 18.11.2013 – 2 Ws 610/13, juris). Bei unveränderter Sach- und Rechtslage bleibt das Gericht zunächst an seine der Eröffnungsentscheidung zugrundeliegende Straferwartung gebunden, weil sonst die für eine geordnete Verfahrensabwicklung notwendige Kontinuität der einmal – im Interesse der Verfahrensbeschleunigung gemäß §§ 210, 336 Satz 2 StPO grundsätzlich unanfechtbar – begründeten Zuständigkeit ständig in Frage gestellt werden könnte (BGH aaO). Dabei muss für die Straferwartung auch geklärt werden, ob die Voraussetzungen für einen minder schweren Fall vorliegen und ob so noch eine Strafe innerhalb der Strafgewalt des Amtsgerichts in Betracht kommt. Eine dem hinreichenden Tatverdacht entsprechende „hinreichende Straferwartung“ existiert gerade nicht (BGH aaO).

Diesen Grundsätzen wird der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts nicht gerecht. Er weicht in einem solchen Maße von den erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen ab, dass er eine die Strafkammer bindende Verweisung nicht mehr vertretbar erscheinen lässt.

Im Rahmen der Beweisaufnahme wurde bereits der Sachverhalt nicht dahingehend hinreichend aufgeklärt, ob ein Schuldspruch wegen (schweren) Raubes überhaupt zu erfolgen hat. Darauf, dass sich das Amtsgericht in der Folge auch nicht dazu verhalten hat, ob tat- oder täterbezogene Umstände für das Vorliegen eines minder schweren Falles gem. § 250 Abs. 3 StGB vorhanden sind, kommt es deshalb nicht mehr an. In diesem Zusammenhang hat das Landgericht in seinem Beschluss jedoch zu Recht auch auf § 46a StGB hingewiesen.

Hinsichtlich des Schuldspruchs hat es das Amtsgericht einerseits versäumt, die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse an dem Handy – dem möglichen Tatobjekt – aufzuklären, andererseits hat es sich in keiner Weise mit der subjektiven Komponente des Raubtatbestandes auseinandergesetzt. Die auch von Seiten der Verteidigung beantragte Vernehmung der Zeugin J., die nach Auskunft des Angeklagten ebenso wie der Zeuge K. Angaben über die Eigentumsverhältnisse des Handys hätte machen können, hat das Amtsgericht nicht durchgeführt. Damit ist nicht hinreichend aufgeklärt, ob es sich objektiv um eine für den Angeklagten fremde bewegliche Sache – durch Schenkung und Eigentumsübertragung an den Zeugen B. – im Sinne der §§ 249, 242 StGB handelte, oder ob das Handy – wie von dem Angeklagten zunächst angegeben – noch in seinem Eigentum stand. Ebenso wenig hat das Amtsgericht den Angeklagten, der während der Aussage des ihn wesentlich belastenden Zeugen B. nicht anwesend war, erneut geladen und ihn zu den Angaben des Zeugen B. befragt. Dies wäre insbesondere mit Blick auf den für die Tatbestandsverwirklichung des schweren Raubes gem. § 250 StGB erforderlichen Vorsatz, der sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale und damit insbesondere auf die Fremdheit der Sache beziehen muss, veranlasst gewesen. Ebenso hat das Amtsgericht nicht geklärt, ob der Angeklagte das Raubmittel (hier die Gewalteinwirkung mithilfe des Baseballschlägers) nach seiner Vorstellung gerade einsetzte, um die Entwendung des Handys zu ermöglichen (spezifischer Zusammenhang zwischen qualifizierter Nötigung und Diebstahl). Hierzu verhalten sich die Ausführungen des Amtsgerichts nicht, und dies erscheint aufgrund der bislang durchgeführten Beweisaufnahme – entnommen aus dem Hauptverhandlungsprotokoll – auch keineswegs offenkundig. Gleiches gilt für die erforderliche Absicht rechtswidriger Zueignung des Tatobjektes. Das subjektive Vorstellungsbild des Angeklagten bleibt im derzeitigen Verfahrensstand offen. Ihm wurde weder Gelegenheit zur Äußerung nach § 257 Abs. 1 StPO gegeben noch wurde er zum Inhalt der Angaben des Zeugen B. und seinem Vorstellungsbild zum Tatzeitpunkt befragt. Das Amtsgericht hat seine Verweisung allein auf die Angaben des Zeugen B. gestützt, der jedoch selbst nur ausführte, er habe gedacht, der Angeklagte habe ihm das Handy geschenkt; es hätte sich jedoch bei den aufgezeigten Zweifeln, die sich bereits durch die Anträge sowohl der Vertreterin der Staatsanwaltschaft als auch der Verteidigung auch dem Gericht hätten aufdrängen müssen, zur erneuten Anhörung des Angeklagten und zur Vernehmung der Zeugin J. veranlasst sehen müssen.

Nach alledem steht ein Schuldspruch wegen schweren Raubes weder fest (so h. M. BGH aaO) noch ist er in diesem Verfahrensstadium auch nur zu erwarten (KG, Beschluss vom 13.11.1998 – 1 AR 1314-98/4 ARs 19/98, beckonline; Beschluss vom 13.03.2009 – 4 ARs 11/09, 1 AR 273/09, juris Rn.6: es soll genügen, dass der Schuldspruch „zu erwarten“ ist). In der Gesamtschau beruht die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen eines schweren Raubes gem. § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB letztlich auf Vermutungen des Amtsgerichts, das sich damit so weit von dem durch Art. 101 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz vorgegebenen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass die Verweisung nicht mehr vertretbar ist und die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses entfällt.“

StPO I: Zunächst Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO, oder: Kein Strafklageverbrauch

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Und heute dann dreimal StPO, allerdings nichts vom BGH, sondern dreimal vom OLG.

Als erstes greife ich eine Entscheidung auf, über die ich schon dreimal wegen der vom OLG entschiedenen materiellen Fragen berichtet habe, nämlich den OLG Hamm, Beschl. v. 10.03.2022 – 4 RVs 2/22 (Auto I: Viermonatiges StGB-Fahrverbot als Nebenstrafe, oder: Auch noch nach Zeitablauf von zwei Jahren? und: StGB II: (Kurze) Behinderung von Hilfsleistenden, oder: Bei schweren Verletzungen genügt bereits eine Minute und Strafzumessung III: Doppelverwertungsverbotsverstoß, oder: Aber noch milder geht es kaum). Heute dann noch einmal, und zwar wegen einer vom OLG ebenfalls angesprochenen verfahrensrechtlichen Frage.

Nach dem Sachverhalt des OLG-Beschlusses war das Verfahren zunächst von der StA mit Zustimmung des AG gem. § 153 Abs. 1 StPO eingestellt worden, nach neuen Erkenntnissen aber wiederaufgenommen worden. Dann hatte das AG den Angeklagten verurteilt. Der machte nun mit seiner Revision u.a. Strafklageverbraich geltend. Er hatte damit keinen Erfolg:

„1. Es kann dahinstehen, ob mit der Revision die Verfahrensrüge formgerecht erhoben worden ist. Denn die Frage des Strafklageverbrauchs hat der Senat von Amts wegen zu überprüfen (vgl. BGH NJW 1966, 114).

Vorliegend ist die Frage, ob Strafklageverbrauch durch die Einstellung gem. § 153 Abs. 1 StPO eingetreten ist, der Revision jedoch entzogen, nachdem das Landgericht der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Münster stattgegeben hat. Denn der Revision unterliegen keine gerichtlichen Entscheidungen, die ausdrücklich für unanfechtbar erklärt wurden oder mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sind, § 336 Satz 2 StPO. Das Landgericht Münster hat auf die gegen die teilweise Nichteröffnung des Verfahrens gerichtete sofortige Beschwerde einen Strafklageverbrauch durch Verfahrenseinstellung verneint und das Verfahren auch insoweit vor dem Amtsgericht eröffnet. Gemäß § 210 Abs. 1 StPO hat der Angeklagte kein Beschwerderecht gegen einen Eröffnungsbeschluss. Der Staatsanwaltschaft steht die sofortige Beschwerde nur gegen die Ablehnung der Eröffnung zu. Mit dem Eröffnungsbeschluss entscheidet das Gericht darüber, ob hinreichender Tatverdacht vorliegt und Prozesshindernisse – wie der Strafklageverbrauch – nicht vorliegen. Da der stattgebende Eröffnungsbeschluss gem. § 210 StPO unanfechtbar ist und zudem auch das Landgericht die Frage des Strafklageverbrauchs ausdrücklich beschieden hat, ist sie der Revisionsüberprüfung nicht mehr zugänglich.

Der Senat folgt überdies der Ansicht des Landgerichts, dass ein Strafklageverbrauch durch die Einstellung gem. § 153 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht eingetreten ist. Denn die Zustimmung des Amtsgerichts zur Einstellung durch die Staatsanwaltschaft ist keine gerichtliche Entscheidung, sondern lediglich eine Prozesserklärung (vgl. hierzu OLG Hamm NStZ 1983, 45; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 153 Rn. 11; Löwe/Rosenberg/Beulke, StPO, 26. Aufl., § 153 Rn. 46; KK/Diemer, StPO, 8. Aufl., § 153 Rn. 19). Durch die Zustimmung des Gerichts soll lediglich die von Seiten der Staatsanwaltschaft befürwortete Ausnahme vom Legalitätsprinzip mitgetragen werden (vgl. OLG Hamm a.a.O.). Ohnehin werden solche Einstellungen erfahrungsgemäß in einem frühen Verfahrensstadium getroffen, in dem der Sachverhalt oftmals noch nicht abschließend aufgeklärt ist. Die Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 1 Satz 1 StPO vermag auch keinen Vertrauensschutz bei dem Angeklagten hervorzurufen, welcher eine Wiederaufnahme ausschließt. Anders als in den Fällen des § 153 Abs. 2 StPO erfolgt die Einstellung nach § 153 Abs. 1 Satz 1 StPO in einem Verfahrensstadium, in dem die Ermittlungen gerade noch nicht abgeschlossen sind. Die Anregung erfolgt nicht durch das Gericht und eine wechselseitige Kontrolle ist mangels eines abschließend ermittelten Sachverhalts nicht möglich. Die Verfahrenseinstellung gem. § 153 Abs. 1 Satz 1 StPO ist daher nicht – wie es die Revision vorträgt – mit einer solchen gem. § 153 Abs. 2 StPO vergleichbar, so dass auch der von der Revision gezogene Vergleich mit der Entscheidung BGH NJW 2004, 375 fehlgeht.

StPO I: Unwirksamer Verbindungsbeschluss des LG, oder: Das gemeinschaftliche obere Gericht war der BGH

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Heute dann StPO-Entscheidungen. Alle drei kommen vom BGH.

Ich eröffne mit dem BGH, Beschl. v. 12.07.2022 – 3 StR 121/22.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen eines in Mönchengladbach begangenen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen einer in Ü. begangenen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, die teilweise Erfolg hatte. Der BGH hat die Veurteilung wegen einer in Ü. begangenen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis aufgehoben:

„1. Die Verurteilung des Angeklagten in Bezug auf Fall II. 4. der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht für die Entscheidung sachlich nicht zuständig war. Dieser Mangel ist gemäß § 6 StPO vom Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Mai 1990 – 4 StR 177/90 , BGHR StPO § 4 Verbindung 3 ; vom 1. Dezember 2005 – 4 StR 426/05 , juris Rn. 3).

Die Staatsanwaltschaft Aachen hatte wegen dieser Tat Anklage zum Amtsgericht – Schöffengericht – Geilenkirchen erhoben, das sie zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet hatte. Nachdem die Vorsitzende des Schöffengerichts erfahren hatte, dass gegen den Angeklagten ein Verfahren vor dem Landgericht Mönchengladbach anhängig war und Bereitschaft bestand, das Verfahren „zu übernehmen“, hat sie es dorthin abgegeben. Durch Beschluss vom 19. April 2021 hat das Landgericht dieses zu dem bei sich anhängigen Verfahren verbunden.

Dieser Verbindungsbeschluss ist unwirksam, da er nicht von dem hierfür zuständigen Gericht erlassen worden ist. Die Verbindung von Strafsachen, die nicht nur die örtliche, sondern auch die sachliche Zuständigkeit betrifft, kann nicht durch eine Vereinbarung der beteiligten Gerichte nach § 13 Abs. 2 Satz 1 StPO vorgenommen werden. Eine solche Verbindung kann vielmehr in den Fällen, in denen – wie im vorliegenden Fall – die verschiedenen Gerichte nicht alle zu dem Bezirk des ranghöheren gehören, gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 StPO nur durch Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts – hier des Bundesgerichtshofs – herbeigeführt werden (vgl. BGH, Urteil vom 30. August 1968 – 4 StR 335/68 , BGHSt 22, 232, 234 ; Beschlüsse vom 21. März 2000 – 1 StR 609/99 , NStZ 2000, 435 f.; vom 7. April 2005 – 3 StR 347/04 , NStZ 2005, 464 Rn. 1). Daran fehlt es. Die Sache ist insoweit nicht bei dem Landgericht Mönchengladbach rechtshängig geworden. Es besteht daher hinsichtlich dieser Tat ein Verfahrenshindernis, das zwar zu einer Teilaufhebung des Urteils, nicht jedoch zur Verfahrenseinstellung führt, da die Rechtshängigkeit des Verfahrens bei dem Amtsgericht – Schöffengericht – Geilenkirchen fortbesteht, eine Einstellung dieses Verfahren beenden würde und danach kein Raum für eine Sachentscheidung, gleich durch welches Gericht, verbliebe. Das Verfahren ist daher entsprechend § 355 StPO , soweit es Fall II. 4. der Urteilsgründe betrifft, an das weiterhin zuständige Amtsgericht Geilenkirchen zurückzuverweisen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juli 1995 – 2 StR 74/95 , BGHR StPO § 4 Verbindung 9 ; vom 16. April 1996 – 4 StR 80/95 , – NStZ-RR 1996, 232; vom 1. Dezember 2005 – 4 StR 426/05 , juris Rn. 4; vom 11. Juli 2013 – 3 StR 166/13 , NStZ-RR 2013, 378).“

 

U-Haft III: Laptop zur Verteidigung in der U-Haft, oder: Wann ist die „Durchsicht“ erlaubt?

Und dann stelle ich noch den KG, Beschl. v. 23.12.2021 – 5 Ws 261/21 – vor. Schon etwas älter, aber eine interessante Frage. Es geht nämlich um die Zulässigkeit der Durchsicht eines im Haftraum eines Untersuchungshäftlings befindlichen, zu Verteidigungszwecken überlassenen Laptops.

Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten einen mittäterschaftlich begangenen Mord zur Last. Der Angeklagte befindet sich seit dem 17. Januar 2014 in Untersuchungshaft. Die Schwurgerichtskammer hat am 20.11.2014 beschlossen, „dass wegen des erheblichen Akten- und Datenumfangs die Anschaffung eines […] Laptops“ für den jeweils Inhaftierten „zur Einsicht in der Haftanstalt […] erforderlich [sei], um im weiteren Verfahren eine sachgerechte Verteidigung zu gewährleisten“. Die Beschaffung der (fabrikneuen und nicht internetfähigen) Laptops wurde den Verteidigern übertragen, seitens des Landgerichts Berlin wurde die digitalisierten Akten einschließlich der Video- und Audiodateien auf die Laptops aufgespielt und an die Justizvollzugsanstalt M. übergeben, die ihrerseits die Sperrung der USB-Anschlüsse der Laptops vornahm und diese sodann an die Angeklagten aushändigte. Am 01.10.2019 hat das LG Berlin – Schwurgericht – den Angeklagten nach 300 Hauptverhandlungstagen wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen die Revision sowohl des Angeklagten als auch die Staatsanwaltschaft, über die im Dezember 2021 noch nicht entschieden war.

Wegen des gegen einen ebenfalls inhaftierten Mitangeklagten bestehenden Verdachts der Bedrohung im Zusammenhang mit der Nutzung sozialer Netzwerke war dessen Laptop untersucht und an diesem ein internetfähiger Zugang festgestellt worden. Dies hat die JVA zum Anlass genommen, auch die den weiteren inhaftierten Mittätern überlassenen Laptops aus den Hafträumen herauszunehmen und diese ebenfalls auf die manipulative Schaffung eines Internetzugangs zu überprüfen. Dabei wurden am 22.10.2020 betreffend den Laptop des Angeklagten ein freier Zugang zum Internet und auf dem Gerät gespeicherte private Fotos festgestellt. Das LG Berlin hat dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft die vorläufige Sicherstellung u.a. des aus dem Haftraum des Angeklagten entnommenen Laptops zur Auswertung angeordnet, „um die als Beweismittel im hiesigen Verfahren […] in Betracht kommenden Laptops durch das Landeskriminalamt inhaltlich darauf untersuchen zu lassen, ob eine richterliche Beschlagnahme (einzelner beweiserheblicher Daten) zu beantragen oder gegebenenfalls die Rückgabe zu veranlassen ist“.

Dagegen das Rechtsmittel des Angeklagten, das keinen Erfolg hatte. Hier die (amtlichen) Leitsätze der KG-Entscheidung:

    1. Das Sichtungsverfahren gemäß § 110 StPO wird zwar noch der Durchsuchung zugerechnet, ist jedoch angesichts der fortdauernden Besitzentziehung in seiner Wirkung für den Betroffenen der Beschlagnahme angenähert. Die Beschlagnahme oder Maßnahmen nach § 110 StPO sind, sofern Daten betroffen sind, am Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zu messen.
    2. Da das Verfahren im Stadium der Durchsicht gemäß § 110 StPO einen Teil der Durchsuchung nach § 102 StPO oder § 103 StPO bildet, kommt es für die Rechtmäßigkeit der Durchsicht nach § 110 StPO darauf an, ob die Voraussetzungen für eine Durchsuchung zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung vorlagen. Maßstab ist insoweit, wenn die Suche im Haftraum eines Untersuchungshäftlings Beweismitteln oder der Einziehung unterliegenden Gegenständen gilt, nicht § 44 UVollzG Berlin, sondern die §§ 102 ff. StPO.
    3. Das Recht auf eine effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren gebietet es, dass – über den Wortlaut des § 97 Abs. 1 StPO hinaus – Unterlagen, die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren anfertigt, weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürfen.
    4. Allein die naheliegende Möglichkeit, dass sich auf dem durchzusehenden Datenträger auch beschlagnahmefreie Gegenstände befinden, macht die Durchsicht und die hierzu erforderliche vorläufige Sicherstellung nicht rechtswidrig. Ist nicht sofort feststellbar, ob einzelne Aufzeichnungen der Verteidigung dienen, so können sie vorläufig sichergestellt werden. Eine Pflicht zur sofortigen ungelesenen Herausgabe besteht nur dann, wenn die Eigenschaft als Verteidigungsunterlage offensichtlich ist.

U-Haft III: Telefonat mit Ehegatte im Ausland erlaubt?, oder: Großzügiger Maßstab

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In der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, geht es auch um die Frage der/einer Telefonerlaubnis. Es geht um die Frage, ob der Angeklagte mit seiner in Bulgarien lebenden Ehefrau telefonieren darf. Das AG hatte die Frage verneint.. Das LG bejaht sie dann im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.08.2022 – 16 Qs 27/22:

„Der Beschluss war aufzuheben, da er nicht der Sach- und Rechtslage entspricht.

Nach § 119 Abs. 1 StPO dürfen derartige Beschränkungen, wie hier konkret bezüglich eines gestatteten Telefonats, nur auferlegt werden, sofern dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunklungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich ist. Das bedeutet, dass das Gericht, das für Entscheidungen nach § 119 Abs. 1 StPO zuständig ist. nur solche Argumente für Beschränkungen heranziehen darf, die aus Haftgründen. wenn auch aus solchen. die nicht im konkreten Haftbefehl aufgeführt sind. Berücksichtigung finden dürfen (AG Nürnberg, Beschluss vom 10.02.2022, Az. 57 Gs 1224/22; OLG Nürnberg. Beschluss vom 22.05.2014. Az. 1 Ws 153/14, 1 Ws 154/14).

Vorliegend ist nicht erkennbar, weshalb ein Telefonat mit der im Ausland lebenden Ehefrau, die in keinerlei Verbindung zur verfahrensgegenständlichen Tat steht, dem Zweck der Untersuchungshaft widersprechen soll bzw. wie durch das Telefonat das vorliegende Verfahren beeinträchtigt werden könnte.

Das Amtsgericht hat hierzu in der Begründung des angegriffenen Beschlusses auch keine näheren Ausführungen gemacht. Gründe der Anstaltsordnung haben bei der grundsätzlichen Frage von Genehmigungen von Telefonaten außer Acht zu bleiben, weil § 119 StPO die Erteilung von Beschränkungen nur gestattet, soweit diese haftgrundbezogen sind. Die Wahrung der Anstaltsordnung im Rahmen der Vorschriften des BayUVollzG ist ausschließlich Sache der Justizvollzugsanstalt, nicht der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts.

Im Übrigen ist bei Telefonaten mit nahen Familienangehörigen im Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG ein großzügigerer Maßstab angezeigt (OLG Nürnberg a.a.O.).“