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Beweiswürdigung beim sexuellen Missbrauch, oder: Das „Porno-Video“ auf dem Handy hätte man erörtern müssen

entnommen openclipart.org

Mit dem BGH, Urt. v. 26.04.2017 – 5 StR 445/16 – hat der 5. Strafsenat des BGH in einem Verfahren wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. ein Urteil des LG Saarbrücken aufgehoben, das den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei gesprochen hat. Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, seine damals sechsjährige Stieftochter L. in den Wochen vor dem 20.11.2013 in fünf Fällen in ihrem Zimmer bzw. im Keller des von ihnen bewohnten Hauses dazu gebracht zu haben, an ihm den Oralverkehr zu vollziehen. Im Zusammenhang mit einer dieser Taten soll der Angeklagte der Nebenklägerin auch Videos mit pornographischem Inhalt, insbesondere Oralverkehr, gezeigt haben. Die Stietochter hatte dieses gegenüber ihrer Mutter, einer Familienhelferin und bei einer audiovisuell aufgezeichneten ermittlungsrichterlichen Vernehmung in Anwesenheit der aussagepsychologischen Sachverständigen bestätigt. Sie hatte außerdem angegeben, dass der Angeklagte ihr auf seinem Handy ein Video gezeigt, in dem eine Frau bei einem Mann das getan habe, was sie beim Angeklagten gemacht habe. Die Sachverständige hatte ausgeführt, dass aus aussagepsychologischer Sicht hinsichtlich dreier Fälle des Oralverkehrs „wahrscheinlich“ von einem tatsächlichen Erlebnishintergrund auszugehen sei. Demgegenüber hatte ist das Landgericht zu der Einschätzung gelangt, dass die Angaben der Nebenklägerin, die in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, aber die Verwertung ihrer früheren Angaben gestattet hat, „nicht geeignet“ seien, die Tatvorwürfe zu beweisen.

Der BGH hebt wegen eines Verstoßes gegen § 261 StPO auf:

„Die Revision der Nebenklägerin hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, mit der sie die Verletzung von § 261 StPO beanstandet. Das Landgericht hat sich durch das Unterlassen der Erörterung in die Hauptverhandlung eingeführter Beweiserkenntnisse zu pornographischen Videodateien auf dem Mobiltelefon des Angeklagten nicht mit allen erhobenen Beweisen auseinandergesetzt und daher seine Überzeugung nicht aus dem vollständigen Inhalt der Beweisaufnahme geschöpft…..

b) Die Rüge ist auch begründet.

aa) Aus dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) folgt mit dem Ausschöpfungsgebot die Verpflichtung des erkennenden Gerichts, den gesamten beigebrachten Verfahrensstoff erschöpfend zu würdigen. In den schriftlichen Urteilsgründen muss es dies – auch bei freisprechen-den Urteilen – erkennen lassen. Umstände, die geeignet sind, die gerichtliche Entscheidung wesentlich zu beeinflussen, dürfen nicht stillschweigend über-gangen werden, sondern müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen werden (BGH, Urteil vom 10. Juli 1980 – 4 StR 303/80, NJW 1980, 2423 f.; Beschluss vom 18. Juni 2008 – 2 StR 485/07, NStZ 2008, 705, 706; LR-StPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 14, 56 ff.).

bb) Dies zugrunde gelegt, hätte sich die Strafkammer in dem Urteil mit dem – dort nicht erwähnten – IT-Gutachten über die Auswertung des Mobiltelefons des Angeklagten auseinandersetzen müssen.

(1) Denn das Landgericht hat festgestellt, dass die Nebenklägerin konstant angegeben hatte, der Angeklagte habe ihr im unmittelbaren Zusammen-hang mit den angeklagten Taten einen oder mehrere Videofilme vorgeführt, die zeigten, „wie das gehe“ bzw. wie „eine Frau sich hingekniet und am Penis gelutscht“ habe; diesen Film bzw. diese Filme habe er ihr auf seinem Handy vorgespielt.

(2) Es handelt sich bei dem Vorhandensein solcher pornographischer Videos auf dem Mobiltelefon des Angeklagten nicht um eine unbedeutende Indiztatsache, der letztlich in der Gesamtheit der Beweiswürdigung kein erhebliches Gewicht beizumessen wäre.

Zwar stützt die Strafkammer den Freispruch des Angeklagten (auch) darauf, dass nicht ausgeschlossen werden könne, „dass die Nebenklägerin Gesehenes als Erlebtes berichtet hat“ (UA S. 27), L. also „die Bewegungen erst gemacht hat, weil sie sie zuvor auf einem pornographischen Film gesehen hat“ (UA S. 24), und „sie Dinge, die sie eventuell auf einem Video gesehen hat, auf sich übertragen hat, um dem polizeilichen Erwartungsdruck gerecht zu werden“ (UA S. 25). Bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin nimmt die Strafkammer aber nicht hinreichend deren objektive Bestätigung dahin in den Blick, dass auf dem Mobiltelefon des Angeklagten tatsächlich pornographische Videos gespeichert waren, die Oralverkehr zum Inhalt haben, und diese Filme für ein Vorspielen in der von der Nebenklägerin geschilderten Tatsituation tatsächlich zur Verfügung standen. Damit lässt die Jugendkammer ein Beweisergebnis außer Betracht, dessen Aussagekraft über das von ihr gleichsam unterstellte und nicht näher in den Kontext der vorgeworfenen Tathandlungen eingeordnete Ansehen pornographischer Filme durch die Nebenklägerin wesentlich hinausgeht.“

Ohrfeige – „Wichser“ – Bierflasche/Messer – Notwehr

Das BGH, Urt. v. 21.03.2017 – 1 StR 486/16 – befasst sich u.a. mit der Frage der Notwehr. Daneben spielen auch noch Beweiswürdigungsfragen eine Rolle. Die lasse ich hier mal außen vor, weil sie – wie immer – recht schwer darzustellen sind.. Bei der „Notwehrfrage“ geht es um folgenden Sachverhalt:

„Am Abend des 28. November 2015 traf der Nebenkläger vor seinem Hauseingang auf den alkoholisierten Angeklagten. Aus unklarem Anlass gerieten beide in Streit, in dessen Verlauf der Angeklagte den Nebenkläger als „Wichser“ bezeichnete. Im Rahmen der plötzlich auch körperlich geführten Auseinandersetzung wurde der Angeklagte an der Schläfe verletzt und erlitt eine blutende Wunde. Diese resultierte daraus, dass der Nebenkläger mit einer mitgeführten Bierflasche zuschlug oder mit ihr nach dem Angeklagten warf. Der Angeklagte zog sein Klappmesser hervor, öffnete dies und führte es in Richtung des Nebenklägers. Dieser hob zur Abwehr den linken Arm vor den Körper, so dass er von dem Messer an der linken Hand getroffen wurde, wodurch Muskelfasern und Sehnen durchtrennt wurden.

„Offen blieb“, ob der Angeklagte zuerst mit dem Messer den Nebenkläger verletzte, dieser dann mit der Bierflasche den Angeklagten verletzte oder ob umgekehrt zunächst der Angeklagte mit einem Wurf oder Schlag mit der Bierflasche durch den Nebenkläger verletzt wurde und sodann der Angeklagte das Messer gegen den Nebenkläger führte. „Möglicherweise“ war es der Nebenkläger, welcher mit der Bierflasche in der Hand gegen die Schläfe des Angeklagten schlug und diesen erheblich verletzte, wogegen sich der Angeklagte unmittelbar wehrte – weil der Nebenkläger noch den Flaschenhals in Händen hielt und ihn weiter attackieren wollte –, indem er das Messer hervorzog, um sich gegen diesen fortdauernden Angriff zu verteidigen.“

Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung frei gesprochen. Zur Begründung des Freispruchs hat das LG ausgeführt, „aufgrund der Beweislage nicht ausschließen zu können, dass der Nebenkläger den Angeklagten zuerst angegriffen habe, wogegen sich der Angeklagte im Rahmen eines dynamischen Geschehens unmittelbar mit dem Messer zur Wehr gesetzt habe, um den Angriff und ein Nachsetzen des Nebenklägers mit dem noch in der Hand gehaltenen Flaschenhals zu verhindern.“ Zur Notwehr führt der BGH aus:

„3. Die Würdigung als gerechtfertigte Verteidigung gegenüber einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff hat Bestand.

a) Ersichtlich ist das Landgericht unter Anwendung des Zweifelssatzes vom Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffs im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB ausgegangen.

aa) Gegenwärtig in diesem Sinne kann auch ein Verhalten sein, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätz-licher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1991 – 2 StR 535/91, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 5; Urteil vom 24. November 2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38 mwN). Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 2005 – 1 StR 99/05, NStZ 2006, 152, 153; Beschluss vom 25. Januar 2017 – 1 StR 588/16). Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind daher nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlichen oder unverändert fortdauernden) Rechtsgutverletzung (vgl. BGH, Urteile vom 18. April 2002 – 3 StR 503/01, NStZ-RR 2002, 203; vom 9. August 2005 – 1 StR 99/05, NStZ 2006, 152, 153 und vom 24. November 2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38; Beschluss vom 25. Januar 2017 – 1 StR 588/16; siehe auch Beschluss vom 28. Oktober 2015 – 5 StR 397/15, JuS 2016, 562)……………..

b) Eine Einschränkung des Notwehrrechts wegen eines sozialethisch zu missbilligenden vorwerfbaren Vorverhaltens des Angeklagten ergibt sich nicht. Hierbei war zu berücksichtigen, dass nach dem als festgestellt beschriebenen Sachverhalt der Angeklagte den Nebenkläger im Rahmen einer bereits andauernden wechselseitigen Auseinandersetzung „Wichser“ genannt hat. Nach der ausweislich der Urteilsgründe nicht widerlegten Einlassung des Angeklagten erfolgte diese Äußerung erst als Reaktion auf eine Ohrfeige des Nebenklägers. Außerdem würde eine solche Äußerung in der konkreten Situation auch nicht zu einer Einschränkung des Notwehrrechts gegenüber dem mittels eines abgebrochenen Flaschenhalses unmittelbar drohenden Angriff führen. Denn zumutbare Möglichkeiten, dem Angriff auszuweichen oder sich zurückhaltender zu verteidigen, sind nach der Tatsachengrundlage, wonach es sich um ein in Sekundenbruchteilen ablaufendes Geschehen ohne Gelegenheit zum Nachdenken für den Angeklagten gehandelt hat, nicht erkennbar (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 1989 – 4 StR 2/89, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 4; Urteil vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139).

c) Nach dem der rechtlichen Würdigung zugrunde gelegten Sachverhalt handelte der Angeklagte, um sich gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zu verteidigen. Dies wird durch seine Angabe, er habe „aus Angst, dass M. ihm den Flaschenhals reinramme“, sein Messer herausgeholt und eine Stechbewegung gemacht, ausreichend belegt. Da der Angeklagte infolgedes-sen mit Verteidigungswillen handelte, kommt es entgegen der Ansicht des Ge-neralbundesanwalts nicht darauf an, dass der Angeklagte einen weiteren An-griff nur „für möglich gehalten“ hat (vgl. nur BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 3 StR 199/15, NStZ 2016, 333 mwN).“

Das aussagepsychologische Glaubwürdigkeitsgutachten, oder: Wenn die Richter meinen, es besser zu können

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Jeder Verteidiger kennt das Zaubermitel „Glaubwürdigkeitsgutachten“. Es spielt in fast jedem Verfahren mit Sexualbezug eine Rolle. So auch in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs, in dem das LG Marburg den Angeklagten verurteilt hat. In dem Verfahren ist das LG der Einlassung des Angeklagten nicht gefolgt – es hat sie als „verquastes Gerede von der Erziehungsaufgabe eines Vaters, die Tochter in die erwachsene Sexualität einzuführen“, angesehen und hat seine Überzeugung auf die Angaben des (angeblichen) Tatopfers gestützt. Das LG hatte dazu ein aussage-psychologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Die Zeugin hatte in der Hauptverhandlung erstmals bekundet, sie habe Bilder im Kopf und sehe kleine filmartige Szenen des Missbrauchsgeschehens. Anlass für das Gutachten war die Frage, ob sich dahinter dissoziative Zustände verbergen könnten, deren Aufdeckung und Beurteilung dem Sachverstand der Strafkammer nicht mehr hinreichend zugänglich seien.

Die Sachverständige hat dann ihr Gutachten erstattet. Ergebnis: Das Vorliegen eines dissoziativen Zustands wird verneint. Sie geht weiterhin davon aus, dass die sog. Nullhypothese nicht zuverlässig zurückgewiesen werden könne, da die Ausbildung von Pseudoerinnerungen sehr wahrscheinlich sei. Dies hat sie auf verschiedene Erwägungen gestützt, etwa auf den Umstand, dass die Tat lange zurückliege und die Zeugin zeitweise keinen bewussten Erinnerungszugang gehabt habe, auf das Vorliegen einer kognitiven Mangelsituation zur Zeit der Entstehung der Aussage, indem sie Erinnerungen aus Träumen entwickelt habe, auf das Gegebensein einer affektiven Mangelsituation und auch darauf, dass sich übergenaue Erinnerung an Einzelheiten fänden, die gedächtnispsychologisch nicht zu erwarten seien.

Die Strafkammer kann es besser und folgt dem Gutachten nicht, „weil es keine gesicherten aussagepsychologischen Erkenntnisse gebe, auf deren Grundlage sich der Wahrheitsgehalt einer Aussage in Fällen wie dem vorliegenden zweifelsfrei bestimmen lasse, und das noch viel weniger möglich sei, wenn suggestive Ein-flüsse in Rede stünden. Damit werde der Beweiswert des Gutachtens und die Bindungswirkung für das Gericht an das Ergebnis des Gutachtens schwerwie-gend beeinträchtigt….“

Dem BGH reicht das so nicht. Er hat im BGH, Beschl. v. 29.09.2016 – 2 StR 63/16 – aufgehoben und beanstandet einen Beweiswürdigungsfehler:

„Diese Beweiswürdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Es ist einem Tatgericht nicht verwehrt, vom Gutachten eines Sachverständigen abzuweichen. Wenn das Tatgericht aber eine Frage, für die es geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss es die maßgeblichen Überlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen, damit ersichtlich wird, dass es mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt (vgl. Senat, NStZ 2009, 571; ferner BGH, NStZ-RR 2015, 82; st. Rspr.). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

a) Die Strafkammer legt ihrer Entscheidung im Ausgangspunkt eine gutachtenkritische Sichtweise zugrunde, die zu einer schwerwiegenden Einschränkung des Beweiswerts des Gutachtens führen soll. Dies wird zum einen etwa damit belegt, dass es einen über Wissenschaftsgenerationen hinweg erworbenen und gesicherten Stand der Erkenntnisse nicht gebe (UA S. 49); zum anderen gäbe es ein grundsätzliches Problem der Aussagepsychologie; zwar dürften die statistischen Methoden als wissenschaftlich gesichert angesehen werden; die für eine qualitative Bewertung eines solcherart gefundenen Ergebnisses entscheidende Frage sei aber, welche Aussagekraft dem Ergebnis zukomme. Dies sei letztlich nur aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung möglich, die sich jedoch gerade nicht wissenschaftlich zwingend ableiten lasse und auch sonst in einer justiziablen Weise kaum erkennbar sei (UA S. 51). Dies gelte etwa auch so für den von der Sachverständigen als Beleg für die angenommene irrtümliche Erinnerung angeführten Umstand erwarteter Gedächtnisleistungen, dabei handele es sich nicht um zwingende, in einem wissenschaftlichen Sinn auf jeden Einzelfall übertragbare Erkenntnisse (UA S. 53).

Diese Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass die Strafkammer den möglichen Erkenntnisgewinn aussagepsychologischer Gutachten für das Strafverfahren grundsätzlich in Frage stellt, jedenfalls dann, wenn – wie hier – der Grund für die Einholung des Gutachtens – das mögliche Vorliegen dissoziativer Zustände – in Wegfall geraten ist. Dies wird der Bedeutung aussagepsychologischer Begutachtung im Strafverfahren nicht gerecht. Ob es (au-to)suggestive Einflüsse auf eine Aussage gegeben hat oder nicht, ist grundsätzlich sachverständiger Prüfung zugänglich (vgl. Greuel, in: Egg (Hrsg.), Psychologisch-psychiatrische Begutachtung in der Strafjustiz, 2012, S. 33, 49). Dass mögliche Erkenntnisse aus einer sachverständigen Erörterung nicht zwingend sind, machen weder das daraus folgende Ergebnis unbrauchbar noch führt dies dazu, dass damit eigene richterliche Würdigungen ohne Weiteres zu einer gegenüber der sachverständigen Einschätzung besseren Erkenntnisquelle werden. Dies gilt auch für eine Strafkammer, die aus sehr langer Tätigkeit weiß, dass „Ergebnisse der Forschung nicht ohne Weiteres für die gerichtliche Entscheidung nutzbar“ seien, sondern „stets genauer Betrachtung im Einzelfall bedürften“. Die genaue richterliche Betrachtung im Einzelfall belegt nicht besseres Fachwissen gegenüber (vom Landgericht als nicht aussagekräftig empfundene) sachverständigen Würdigungen. Schon dieser skeptische Zugriff auf das aussagepsychologische Gutachten macht die Beweiswürdigung mangelhaft; es ist nicht auszuschließen, dass sich bei der gebotenen offenen Würdigung des Gutachtens deren Ergebnisse als tragfähig erwiesen hätten.“

Das reicht dann schon zur Aufhebung. Auf die anderen vom BGH angesprochenen Umstände/Fehler kommt es dann nicht mehr an.

Unfallmanipulation, oder: Wann ist der Rechtsanwalt (strafbarer) Gehilfe?

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Als erste Entscheidung am Samstag dann den BGH, Beschl. v. 26.01.2017 – 1 StR 636/16. Ja, richtig gelesen, eine strafrechtliche Entscheidung, was ungewohnt ist im samstäglichen „Kessel Buntes“. Aber die Entscheidung hat die Problematik der Unfallmanipulation (mit) zum Gegenstand und passt daher ganz gut.

Mit dem Beschluss v. 26.01.2017 hat der BGH ein Urteil des LG Stuttgart aufgehoben. Das hatte den dort angeklagten Rechtsanwalt wegen Beihilfe zum versuchten Betrug in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 70 Euro verurteilt. Grundlage waren folgende Feststellungen des LG: Der Mitangeklagte H. T. ist vom LGt wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in drei Fällen (§ 315b StGB) sowie wegen Betrugs in zwölf Fällen, davon in sieben Fällen versucht, (§§ 22, 263 StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt, seine mitangeklagte Ehefrau N. T. wegen Beihilfe zum Betrug in zwei Fällen und Beihilfe zum versuchten Betrug in drei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt worden. Dem Mitangeklagten H. T. wurde vor allem angelastet, durch fingierte Unfälle einen Betrug bzw. versuchten Betrug gegenüber den gegnerischen Versicherungen begangen zu haben. Dazu nutzte dieser entweder geringfügige Fahrfehler anderer Verkehrsteilnehmer bewusst zur Herbeiführung eines Verkehrsunfalls aus oder machte bei Straßen- bzw. Parkunfällen nicht auf das Unfallereignis zurückzuführende Schäden geltend, um den jeweiligen Sachbearbeiter der in Anspruch genommenen gegnerischen Versicherung entsprechend zu täuschen.

Der Angeklagte hatte als Rechtsanwalt im Namen der Mitangeklagten H. bzw. N. T. in zwei Fällen mit anwaltlichen Schreiben jeweils gegenüber den Versicherungsunternehmen der Geschädigten Ansprüche aus solchen fingierten Verkehrsunfällen geltend gemacht. Zu einer Auszahlung von Versicherungsleistungen kam es in beiden Fällen nicht. Das LG war davon überzeugt, dass dem Angeklagten, nachdem er in zwei vorausgegangenen Fällen jeweils Schreiben der Versicherungen erhalten hatte, in denen diese die Auszahlung der erhobenen Forderungen wegen fehlender Plausibilität und Kompatibilität der Schäden verweigerten, die Betrugsabsichten des Mitangeklagten bewusst waren. „Um im hart umkämpften Anwaltsmarkt keinen Mandanten zu verlieren„, sei der Angeklagte jedoch weiterhin bereit gewesen, für die Mitangeklagten tätig zu sein.

Der BGH hat aufgehoben, weil das das Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen einer strafbaren Beihilfe danach nicht belegt sei:

„a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind für die Beihilfestrafbarkeit bei berufstypischen „neutralen“ Handlungen die folgenden Grundsätze zu beachten: Zielt das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf ab, eine strafbare Handlung zu begehen, und weiß dies der Hilfeleistende, so ist sein Tatbeitrag als Beihilfehandlung zu werten. In diesem Fall verliert sein Tun stets den „Alltagscharakter“; es ist als „Solidarisierung“ mit dem Täter zu deuten und dann auch nicht mehr als sozialadäquat anzusehen. Weiß der Hilfeleistende dagegen nicht, wie der von ihm geleistete Beitrag vom Haupttäter verwendet wird, hält er es lediglich für möglich, dass sein Tun zur Begehung einer Straftat genutzt wird, so ist sein Handeln regelmäßig noch nicht als strafbare Beihilfehandlung zu beurteilen, es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten war derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein ließ (BGH, Beschluss vom 20. September 1999 – 5 StR 729/98, BGHR StGB § 27 Abs. 1 Hilfeleisten 20; Urteile vom 22. Januar 2014 – 5 StR 468/12, wistra 2014, 176 und vom 1. August 2000 – 5 StR 624/99, BGHSt 46, 107, 112 ff.).

b) Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht tragfähig belegt.

Zwar stellt das Landgericht fest, dass der Angeklagte S. bei seiner anwaltlichen Tätigkeit gewusst habe, dass die von ihm geltend gemachten Ansprüche nicht bestehen. Es gründet diese Überzeugung darauf, dass er innerhalb von mehr als drei Jahren vor dem Tatgeschehen schon mehrmals Ansprüche aus Unfallgeschehen – einmal für H. T. und dreimal für N. T. – geltend gemacht habe. Diese Häufigkeit der Unfallbeteiligungen innerhalb „kürzester Zeit“ hätte ihm auffallen müssen. Zudem habe er in zwei dieser Fälle im Zeitraum Januar bis Februar 2014 zwei Schreiben von Versicherungen erhalten, die die Auszahlung der erhobenen Forderungen wegen fehlender Plausibilität und Kompatibilität der Schäden verweigerten. Er habe außerdem im August 2014 die Verteidigung des H. T. in einem Ermittlungsverfahren übernommen. Das Verfahren sei wegen des Vorwurfs des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und gewerbsmäßigen Betrugs geführt worden.

Der hieraus gezogene Schluss auf das festgestellte Wissen um die Nichtberechtigung der geltend gemachten Ansprüche und mithin der nach den oben aufgezeigten Maßgaben ausreichenden subjektiven Voraussetzungen beruht nicht auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung, da die Erwägungen hierzu lückenhaft bleiben.

Das Tätigwerden im gegen den H. T. gerichteten Ermittlungsverfahren ist schon deswegen kein geeigneter Ansatzpunkt, da nicht festgestellt ist, welche Kenntnisse der Angeklagte über die Vorwürfe tatsächlich erlangt hat. Zudem betraf das Ermittlungsverfahren H. T. ; der Angeklagte wurde jedoch zur Durchsetzung der Ansprüche der Mitangeklagten N. T. tätig. Das mehrfache Auftreten von Ersatzansprüchen der Eheleute T. innerhalb von mehr als drei Jahren hätte zwar Anlass sein können, an der Berechtigung der geltend gemachten Ansprüche zu zweifeln, das Wissen um die Nichtberechtigung der Ansprüche folgt daraus – auch mangels näherer Auseinandersetzung des Landgerichts mit den Abläufen in der Kanzlei des Angeklag-ten und seiner Vorstellung über die Beschäftigung der Eheleute T. – indes nicht. Der Beweiswert der ablehnenden Schreiben der Versicherung lässt sich angesichts der kargen Feststellungen hierzu nicht beurteilen. So wird schon nicht mitgeteilt, ob diese Schreiben überhaupt Ansprüche betrafen, die von N. T. geltend gemacht worden sind.2

Nun ja – kann man ohne Kenntnis der Akten und der Beweisergebnisse sicher nicht abschließend beurteilen. „Unschön“ ist es aber auf jeden Fall.

Kauf von Kokain im Darknet, oder: Das kann man im Zweifel nicht nachweisen

Eine kleine, aber feine Entscheidung hat mir der der Kollege Nobis, Iserlohn, gestern übersandt. Für den Mandanten ist der AG Iserlohn, Beschl. v. 10.03.2017 – 16 Ds 139/17 – natürlich von weitreichender Bedeutung. Denn das AG hat das Verfahren wegen des Vorwurfs eines Verstoßes gegen das BtMG – zweimaliger Ankauf von Kokain –  nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Begründung:

„Dem Angeschuldigten wird vorgeworfen, über das sogenannte Darknet in zwei Fällen Kokain bestellt zu haben, welches ihm allerdings nur in einem Fall per Post geliefert worden sein soll, weil eine der Sendungen zuvor abgefangen worden war. Insoweit wird ihm Erwerb und versuchter Erwerb von Betäubungsmitteln zur Last gelegt.

Der Angeschuldigte bestreitet die Tat.

Vor diesem Hintergrund ist eine Verurteilung mit den zur Verfügung stehenden Beweismitteln nicht wahrscheinlich, da letztlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine andere Person mit oder ohne Wissen des Angeschuldigten die entsprechenden Bestellungen aufgegeben haben kann.

Mithin war die Eröffnung des Verfahrens mangels hinreichender Verurteilungswahrscheinlichkeit aus tatsächlichen Gründen abzulehnen.“

Sollte man als Verteidiger auf dem Schirm haben 🙂 .

Zusatz: Denn dazu hat es schon eine Entscheidung gegeben, nämlich den AG Köln, Beschl. v. 19.12.2016 – 543 Ds 437/16  (vgl. dazu hier: Handel mit Amphetamin und MDMA aus den Niederlanden, oder: Wer hat bestellt?