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Corona II: U-Haft, oder: Sicherungs(pflicht)verteidiger?

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Und auch die zweite „Corona-Entscheidung“ stammt aus dem Bereich der sog. Sechsmonatshaftprüfung. Es handelt sich erneut um einen Beschluss des OLG Stuttgart, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 72/20.

Er liegt auf der Linie der bisherigen zu den „Corona-Fragen“ bekannt gewordenen Entscheidungen. Daher hier zunächst nur die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO dar.
  2. Ein solcher wichtiger Grund kann auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.
  3. Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren nach § 121 ff. StPO nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu.
  4. Dabei wird allerdings – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn al-lein das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte.

Zu 1 – 3 ist das – wie gesagt – die bisherige Rechtsprechung. Darüber hinaus geht aber Leitsatz 4, zu dem das OLG ausführt:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 mwN). Falls sich entgegen der Annahme des Vorsitzenden des Schöffengerichts die Gefährdungslage zum 21. April 2020 noch nicht in einem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schöffengerichts umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Amtsgerichts, zu erwägen sein. Auch wird – auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden – ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn allein noch das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte. Jedenfalls sind die Anstrengungen des Gerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1, Abs. 2 StPO sowie den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“

Corona I: U-Haft, oder: Corona rechtfertigt Fortdauer der U-Haft

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Heute dann noch einmal ein „Corona-Tag“, und zwar mit zwei Entscheidungen zur U-Haft und einem weiteren Beschluss, der den neuen § 10 EGStPO betrifft.

Zunächst U-Haft. Und da beginne ich mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 71/20, den mir der Kollege H. Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Das OLG hat nach Aussetzung der begonnenen Hauptverhandlung die Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO durchgeführt und Haftfortdauer beschlossen. Kurzfassung: Corona ist ein anderer wichtiger Grund i.S. des § 121 StPO:

„Für die Annahme eines „anderen wichtigen Grundes“, der von seinem Gewicht her den in § 121 Abs. 1 StPO namentlich genannten Gründen gleichstehen muss (vgl. Schmitt, aaO, § 121 Rn. 18; Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 121, Rn. 28), kommt es entscheidend darauf an, ob die für die Strafverfolgung verantwortlichen Behörden und Gerichte ihrerseits alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, das Verfahren so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. August 1994 – 2 BvR 1291/94, juris Rn. 13; BGH, Beschluss vom 23. Juli 1991 – AK 29/91, BGHSt 38, 43). Einen wichtigen Grund bilden z. B. nicht behebbare und unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter (Schultheis in Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl., § 121 Rn. 16 mwN; KG Berlin, Beschluss vom 24. Februar 2009 – 1 Ws 25 – 27/09, juris). Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. März 2020 – HEs 1 Ws 84/20, juris Rn. 11 unter Hinweis auf OLG Hamburg, Beschluss vom 20. November 2015 – 1 Ws 148/15, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 17. April 2008 – 4 OBL 18/08, juris: Haftfortdauer bei einer hoch ansteckenden Erkrankung des Angeklagten und Ungewissheit über die Dauer seiner Verhandlungsunfähigkeit). Dem ist nach Auffassung des Senats die Quarantäneanordnung zur Vermeidung der Verbreitung der COVID-19-Pandemie bei einem dem gerichtlichen Spruchkörper angehörenden Richter gleichzusetzen. Hierbei handelt es sich um einen anderen, auf den Verfahrensgang ausstrahlenden Umstand außerhalb des Einwirkungsbereichs der Justiz.

 

Die in Rede stehende nicht vorhersehbare Quarantänemaßnahme stand der planmäßigen Fortführung der Hauptverhandlung entgegen. Die von der Strafkammer getroffene Entscheidung, die Hauptverhandlung auszusetzen, erfolgte auf Grundlage der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft zu dem neuartigen Coronavirus und dem prognostizierten Fortschreiten der Pandemie und orientierte sich an der maßgeblichen Empfehlung der Landesregierung Baden-Württemberg zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie (vgl. insbesondere den Erlass des Ministeriums der Justiz und für Europa vom 14. März 2020 JUMRI-JUM-1400-3/1/3), was sich in Ermangelung eigener gerichtlicher und sonstig wissenschaftlich augenblicklich vorhandener Sachkunde des Gerichts auch aufdrängt. Nachdem das für die Empfehlung der Landesregierung und den Erlass des Justizministeriums maßgebliche Prinzip der Kontaktvermeidung nicht nur dem unmittelbaren Schutz von erhöht gefährdeten Personen, sondern vornehmlich der gesamtgesellschaftlich notwendigen Verringerung der Infektionsrate dient, bestand die Notwendigkeit einer Aussetzung der Hauptverhandlung, die bei Beginn und Unterbrechung der Hauptverhandlung nicht abzusehen war. Die Aussetzung der Hauptverhandlung war bei den vorliegenden Gegebenheiten unumgänglich. Die rechtliche Möglichkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung über drei Wochen hinaus (§ 229 Abs. 1 StPO) bestand zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aussetzung der Hauptverhandlung noch nicht, da das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020 erst am 28. März 2020 in Kraft getreten ist (BGBl. 2020 Teil I Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 574). Mit diesem Gesetz ist in § 10 des Einführungsgesetzes zur Strafprozessordnung (EGStPO) nunmehr ein befristeter Hemmungstatbestand für die Unterbrechung einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung geschaffen worden, der auf die aktuellen Maßnahmen zur Vermeidung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 abstellt. Damit soll verhindert werden, dass eine Hauptverhandlung aufgrund der aktuellen Einschränkungen des öffentlichen Lebens ausgesetzt und neu begonnen werden muss. Der Tatbestand ist weit gefasst und erfasst sämtliche Gründe, die der ordnungsgemäßen Durchführung einer Hauptverhandlung aufgrund von Infektionsschutzmaßnahmen entgegenstehen (vgl. BT- Drucks. 19/18110, S. 32 f.). Unter Zugrundelegung und Berücksichtigung dieser Erwägungen sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Entscheidung der Strafkammer vom 23. März 2020 leichtfertig oder unter Verkennung der hohen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts des inhaftierten Angeklagten getroffen wurde.

Ausweislich der Darlegungen im Vorlageschreiben der Vorsitzenden vom 23. März 2020 und des damit vorgelegten Telefonvermerks vom 23. März 2020 zwischen dem Berichterstatter und dem Präsidenten des Landgerichts ist von einem Ende der Quarantäne mit Ablauf des 5. April 2020 auszugehen. Insoweit ist nichts dagegen zu erinnern, dass sich die Strafkammer bei der Aussetzungsentscheidung offenbar von der Annahme leiten ließ, nach Beendigung der Quarantänemaßnahme Anfang April eine Neuterminierung vornehmen zu können. Aus dem Erlass des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 14. März 2020 und der Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 17. März 2020, wonach öffentliche Schulen oder Hochschulen (§§ 1 und 2 CoronaVO) sowie andere Einrichtungen (§ 4 CoronaVO) am 20. April 2020 wieder ihren Betrieb aufnehmen können sollen, ergeben sich zumindest nachvollziehbare Hinweise darauf, dass die Gefährdungslage ab Ende April 2020 die Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache zulassen könnte. Zwar ist dies wegen der dynamischen, in weiten Teilen unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie und ihrer Auswirkungen keineswegs sicher. Jeglicher Grundlage entbehrt diese optimistische Annahme jedoch nicht (so auch OLG Karlsruhe, aaO, Rn. 13). Im Übrigen sind bevorstehende, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt absehbare weitere Verfahrensverzögerungen – die nicht anders zu behandeln wären als bereits eingetretene (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, juris Rn. 32 mwN) – nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund ist mit einem zeitnahen Neubeginn der Hauptverhandlung zu rechnen und von einer straffen, den verfassungsgerichtlichen Vorgaben zur notwendigen Verhandlungsdichte in Haftsachen genügenden Terminierung auszugehen.

Der Senat geht davon aus, dass die Strafkammer unverzüglich nach Rückgabe der Akten einen neuen Termin zur Hauptverhandlung bestimmen wird und das Verfahren schnellstmöglich durchgeführt und jedenfalls in erster Instanz beendet werden kann.

Wenngleich eine bereits erfolgte Terminabsprache bzw. detaillierte Angaben zur Terminauslastung der Strafkammer wünschenswert gewesen wären, ist die Schwelle zu einer nicht hinnehmbaren Verfahrensverzögerung vor dem Hintergrund des bisherigen Verfahrensganges bei der erforderlichen Gesamtschau und Gesamtabwägung unter Berücksichtigung des hohen Gewichts der Tatvorwürfe sowie der durch die Neuterminierung bewirkten Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus noch nicht überschritten. Bei seiner Beurteilung hat der Senat überdies berücksichtigt, dass sich der Angeklagte bei dem nach der derzeitigen Beurteilung frühestmöglichen Beginn der Hauptverhandlung Anfang Mai 2020 längstens acht Monate in Untersuchungshaft befunden haben wird. Dies ist vorliegend noch vertretbar, da der Strafkammer eine frühere Neuterminierung aufgrund der beschriebenen Gegebenheiten nicht möglich war, was angesichts der relativ geringen Verzögerung noch hinnehmbar ist.

Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:

Falls die Hauptverhandlung entgegen der Erwartungen nicht zeitnah durchgeführt werden kann, werden strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Jedenfalls sind die Anstrengungen und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1 und 2 StPO sowie dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“

U-Haft III: Versagung der Anrechnung von U-Haft, oder: Verfahren verschleppt?

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Und als letzte „U-Haft-Entscheidung“ stelle ich den BGH, Beschl. v. 22.10.2019 – 4 StR 227/19. Schon etwas älter, ist mir bisher aber immer wieder „durchgegangen“. Heute passt er dann aber ganz gut.

Das LG hat den Angeklagten wegen räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und angeordnet, dass die im Zeitraum vom 11.04.2018 bis zum 19.08.2018 sowie vom 22.08.2018 bis zum 21.09.2018 erlittene Untersuchungshaft nicht auf die Strafe angerechnet wird.

Der BGH hat auf die Revision des Angeklagten aufgehoben. Er sieht die vom LG angenommene Mittäterschaft im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB nicht ausreichend festgestellt. Dazu dann demnächst noch mehr.

Heute geht es hier um die Strafzumessungsentscheidung, zu der es eine „Segelanweisung“ des BGH gibt

„Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Die Begründung, mit der das Landgericht die – teilweise – Anrechnung der im Verfahren erlittenen Untersuchungshaft versagt hat, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 2 StGB kann das Tatgericht – ausnahmsweise (vgl. BGH, Urteil vom 23. Juli 1970 – 4 StR 241/70 , BGHSt 23, 307 ) – anordnen, dass die Anrechnung der Untersuchungshaft auf die verhängte Strafe ganz oder teilweise unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist. Eine Versagung der Anrechnung der Untersuchungshaft kann durch ein Verhalten des Verurteilten nach der Tat gerechtfertigt sein, das nicht seiner Verteidigung dient und entweder gerade darauf abzielt, die (angeordnete) Untersuchungshaft zu verlängern, um sich durch deren spätere Anrechnung ungerechtfertigte Vorteile im Rahmen der Strafvollstreckung zu verschaffen, oder den Zweck verfolgt, das Verfahren aus anderen Gründen böswillig zu verschleppen (vgl. BGH, aaO, S. 308). Zwar können auch Fluchtvorbereitungen oder ein Fluchtversuch einen Grund für die Versagung der Anrechnung darstellen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass solche Handlungen, die selbst Haftgrund sind und dem Täter allein durch seine (erneute) Inhaftierung Nachteile erbringen, nicht zugleich eine Versagung der Anfechtung der erst durch sie veranlassten Untersuchungshaft zu rechtfertigen vermögen. Nur wenn das Verhalten des Verurteilten zu einer Verschleppung des Verfahrens geführt hat, soll dem Täter die dadurch veranlasste oder verlängerte Untersuchungshaft nicht im Wege der Anrechnung zugutekommen (BGH, aaO; Beschluss vom 23. Februar 1999 – 4 StR 49/99 , NStZ 1999, 347, 348). Gleiches gilt für Verdunkelungshandlungen (vgl. SSW/Eschelbach, StGB, § 51 Rn. 19), die – wie hier die vom Landgericht festgestellte und nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft erfolgte Einwirkung des Angeklagten auf den Zeugen W. – zu einer Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls führen. Dass die festgestellten Verdunkelungshandlungen des Angeklagten auf eine Verlängerung der Untersuchungshaft oder eine Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls abzielten oder den Zweck verfolgten, das Verfahren zu verschleppen, ist weder festgestellt noch naheliegend.

U-Haft II: Fortdauer der U-Haft, oder: „Terminierungsfehler“ der Strafkammer versus Verhältnismäßigkeit

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Die zweite Entscheidung im heutigen „U-Haft/Haft-Reigen“ ist der OLG Braunschweig, Beschl. v. 25.03.2020 – 1 Ws 47/20. Das OLG hat einen so. Überhaftbefehl wegen nicht mehr gegebener Verhältnismäßigkeit aufgehoben.

Der Angeklagte verbüßt derzeit aufgrund eines Urteils des LG Braunschweig eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten.  Am 04.04.2019 hat das AG Braunschweig gegen den Angeklagten einen auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr sowie subsidiär auch den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehl erlassen. Mit diesem Haftbefehl werden dem Angeklagten 14 Fälle des bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, davon in einem Fall in Tateinheit mit Erpressung, sowie weitere 9 Fälle des gewerbsmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, begangen in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel zur Last gelegt. Wegen der Einzelheiten des Vorwurfs bitte im Volltext nachlesen.

Aufgrund der Verdunkelungsgefahr wurden verschiedene Beschränkungen während der Untersuchungshaft gemäß § 119 StPO gegen den Angeklagten angeordnet, so z.B.  ein Verbot der Teilnahme an Veranstaltungen mit Strafgefangenen und ehrenamtlichen Mitarbeitern, der Teilnahme am Gottesdienst gemeinsam mit Strafgefangenen und ehrenamtlichen Mitarbeitern und der Teilnahme an Sportveranstaltungen gemeinsam mit Strafgefangenen ab. Zugleich wurden allgemeine unüberwachte Besuche, unüberwachter Schriftverkehr und eine allgemeine Telefonerlaubnis (auch in der Muttersprache) versagt und die Verhinderung von Kontakten zu den Mitangeklagten Pp.1, Pp.2 und der Ehefrau des Angeklagten. Darüber hinaus ordnete die Staatsanwaltschaft die Einzelhaft für den Angeklagten an. Wegen weiterer Einzelheiten bitte auch den Volltext lesen.

Auch wegen des weiteren Verfahrensverlaufs verweise ich auf den Volltext. Das OLG hat den Haftbefehl jetzt aufgehoben. Die Entscheidung ist recht umfangreich. Daher empfehle ich das Selbststudium. Hier zunächst nur (meine) Leitsätze:

1. Der Verweis auf die angespannte Terminslage der Verteidiger eines Angeklagten in Untersuchungshaft kann allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen.

2. Zur Berücksichtigung von Terminschwierigkeiten der Verteidiger bei der Anberaumung der Hauptverhandlung im Hinblick auf die Fortdauer der Untersuchungshaft.

Das OLG hat der Entscheidung folgende Leitsätze gegeben:

1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen findet grundsätzlich auch dann Anwendung, wenn die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird und lediglich Überhaft notiert ist. Allerdings erfährt das Beschleunigungsgebot in solchen Fällen wegen der geringeren Eingriffsintensität eine Abschwächung.

2. Der Grad dieser Abschwächung richtet sich stets nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles. Entscheidend ist insoweit, in welchem Maße der Gefangene in der Strafhaft Beschränkungen nach § 119 StPO unterliegt und ob die Überhaftnotierung der ansonsten denkbaren Unterbringung im offenen Vollzug und/oder der Gewährung von Lockerungen entgegensteht.

3. Der Verweis auf die angespannte Terminslage der Verteidiger eines Angeklagten in Untersuchungshaft kann allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Denn das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen, gilt nicht uneingeschränkt, sondern kann durch wichtige Gründe begrenzt sein. Ein solcher Grund kann in bestimmten Situationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein.

4. Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminsschwierigkeiten der Verteidiger ist infolgedessen kein verfahrensimmanenter Umstand, der eine Verzögerung von mehreren Monaten rechtfertigen könnte. Vielmehr muss zwischen dem Recht eines Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass die Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden. Dabei hat auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) das Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist regelmäßig Vorrang.

5. Die Aussetzung der Hauptverhandlung in einer (Über-)Haftsache „zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus“ ist jedenfalls dann nicht gerechtfertigt, wenn sie ohne jegliche Begründung ergeht und der erneute Verhandlungsbeginn ungewiss ist. Der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten und Dritter kann gegenüber dem Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist vielmehr nur dann überwiegen, wenn die Aussetzung der Hauptverhandlung tatsächlich erforderlich ist, weil ihre Fortführung auch unter Schutzvorkehrungen nicht verantwortbar wäre.

Auf eins will ich dann aber doch besonders hinweise: Mit Beschluss vom 17.03.2020  hatte das LG die Hauptverhandlung zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus ausgesetzt, ohne das aber in der Aussetzungsentscheidung näher zu begründen. Dazu merkt das OLG an:

„Die Aussetzungsentscheidung der Kammer lässt die Aufrechterhaltung des Haftbefehls vom 4. April 2019 (in der Fassung der Haftfortdauerentscheidung vom 19. Dezember 2019) bereits deshalb als unverhältnismäßig erscheinen, weil sie jegliche Begründung vermissen lässt. Insbesondere lässt sich der Aussetzungsentscheidung nicht entnehmen, dass der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten diese Maßnahme tatsächlich erfordert und eine Fortführung der bereits fortgeschrittenen Hauptverhandlung auch bei denkbaren Schutzvorkehrungen — z.B. ein größerer Abstand zwischen den einzelnen Sitzplätzen der Verfahrensbeteiligten und das Tragen von Schutzkleidung für Wachtmeister — nicht möglich gewesen wäre (vgl. insoweit Beschluss des Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen vom 20. März 2020, Vf. 39-IV-20, juris, Rn. 23; keine Haftsache). Schließlich rechtfertigt die Verfahrensaussetzung auch nicht, dass Rechtsanwalt pp. aufgrund seiner gesundheitlichen Situation sicherlich die weitere Teilnahme an der Hauptverhandlung derzeit nicht hätte zugemutet werden können. Denn der Beschwerdeführer hat noch zwei weitere Verteidiger, wobei jedenfalls in Bezug auf den erfahrenen Strafverteidiger pp. ein besonders erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf bei einer Infektion mit Covid-19 nicht zu erkennen ist.“

U-Haft I: Coronapandemie, oder: Anderer wichtiger Grund für Fortdauer der U-Haft

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Ich hatte ja neulich schon kurz über den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.03.2020 – HEs 1 Ws 84/20, allerdings nur auf der Grundlage der dazu vom OLG herausgegebenen PM. Heute kann ich nun den Volltext vorstellen.

Zur Erinnerung: Es geht um die Fortdauer der U-Haft in einem Schwugerichtsverfahren. Der Angeklagte befindet sich seit dem 24.09.2019 in Haft. Die am 09.03.2020 begonnene Hauptverhandlung ist wegen der COVID-19-Pandemie unter Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft am 17.03.2020 ausgesetzt worden. Die Haftprüfung nach § 121 StPO hat zur Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft geführt:

„3. Auch die besonderen Voraussetzungen über die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung ist gewahrt. Wegen eines (anderen) wichtigen Grundes, welcher die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigt, konnte Urteil noch nicht ergehen (§ § 121 Abs. 1 StPO).

a) Noch am Tag des Bekanntwerdens der Tat am 24.09.2019 hat die Kriminalpolizei die Ermittlungen übernommen und in der Folge, insbesondere zur Aufklärung der Hintergründe der Tat, zahlreiche Zeugen vernommen sowie die elektronische Kommunikation des Angeklagten ausgewertet. Die rechtsmedizinischen Untersuchungen zur Todesursache fanden am 25.09.2019 statt. Nach Vorlage des Schlussvermerks der Kriminalpolizei am 07.11.2019 schloss die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen am 25.11.2019 mit der Erhebung der Anklage ab. Nach Eingang der Anklage am 26.11.2019 veranlasste der Vorsitzende des Schwurgerichts noch am selben Tag das gemäß § 201 StPO Erforderliche. Am 20.12.2019 beschloss das Schwurgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens. Entsprechend der Verfügung des Vorsitzenden des Schwurgerichts vom 08.01.2020 begann die Hauptverhandlung am 09.03.2020 mit geplanten Fortsetzungsterminen am 25.03.2020, 26.03.2020 und 27.03.2020; ein früherer Beginn der Hauptverhandlung im Februar war wegen der Verhinderung des Verteidigers und der Vertreterin der Nebenklage nicht möglich.

b) Am 17.03.2020 beschloss die Strafkammer außerhalb der Hauptverhandlung die Aussetzung der Hauptverhandlung mit der Begründung, dass wegen der COVID-19-Pandemie ein Schutz der zahlreichen Verfahrensbeteiligten, der Zeugen, Vorführungsbeamten und Gerichtswachtmeister sowie der Zuhörer im Sitzungssaal vor einer Infektion durch das Virus in den Fortsetzungsterminen nicht gewährleistet sei und deshalb eine bloße Unterbrechung der Hauptverhandlung gemäß § 229 Abs. 1 StPO nicht mehr in Betracht komme. Mit Verfügung vom selben Tag teilte der Vorsitzende des Schwurgerichts dem Verteidiger, der Vertreterin der Nebenklage sowie der rechtsmedizinischen Sachverständigen mit, dass die Hauptverhandlung alsbald neu zu terminieren sei, und forderte sie auf, zwingende Verhinderungen ab dem 18.05.2020 bis spätestens 24.03.2020 mitzuteilen.

c) Unter diesen Umständen liegt zwar weder eine besondere Schwierigkeit der Sache noch ein besonderer Umfang der Ermittlungen vor. Es besteht aber ein anderer wichtiger Grund im Sinne der §§ 121 Abs. 1 Abs. 3 S. 3 StPO, der es rechtfertigt, den Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten. Insoweit hat der Senat gesehen, dass eine Aussetzung der Hauptverhandlung unter Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft grundsätzlich nur in Betracht kommt, wenn dies aus sachlichen Gründen zwingend geboten ist bzw. unumgänglich ist und diese nicht auf vermeidbaren Fehlern oder Versäumnisse im bisherigen Verfahren beruht (Böhm in: Münchner Kommentar zur StPO, 2014, § 121 Rn. 90 m.z.w.N.). Solche Säumnisse liegen aber nicht vor, vielmehr beruht die Aussetzung der Hauptverhandlung auf außergewöhnlichen und von niemanden zu vertretenden Umständen.

d) Nach der insoweit maßgeblichen und vom Senat dabei berücksichtigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht muss bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachtet werden. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteiltem die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. nur etwa BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18 –, NJW 2019, 915 m.w.N.).

e) Nach dieser Maßgabe bilden – unter anderem – nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter, einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12.12.1973 – 2 BvR 558/73 –, BVerfGE 36, 264 = NJW 1974, 307, und vom 23.01.2019 a.a.O.; KK-StPO, 8. Aufl. 2019, § 121 Rn. 16 m.w.N.). Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 20.11.2015 – 1 Ws 148/15 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 17.04.2008 – 4 OBL 18/08 –, juris). In Anbetracht der zwischenzeitlich als nachgewiesen anzusehenden hohen Ansteckungsgefahr, der vermutlich hohen Anzahl unentdeckter Infektionen und des derzeit noch nicht abschließend einschätzbaren Ausmaßes schwerer bis tödlicher Krankheitsverläufe kann ein solcher wichtiger Grund deshalb auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht – wie hier – nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.

f) Insoweit geht der Senat in Anlehnung an die bisherige obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. OLG Hamburg a.a.O.) davon aus, dass dem zu entscheidenden Spruchkörper bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar ein – vom Senat nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu steht. Deshalb ist es nicht zu beanstanden, dass sich das Schwurgericht vorliegend auf Grundlage der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft zu diesem neuartigen Virus und dem prognostizierten Fortschreiten der Pandemie an der maßgeblichen Empfehlung der Landesregierung Baden-Württemberg zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie (vgl. insbesondere den Erlass des Ministeriums der Justiz und für Europa vom 14.03.2020 JUMRI-JUM-1400-3/1/3) orientiert hat, was sich in Ermangelung eigener gerichtlicher und sonstig wissenschaftlich augenblicklich vorhandener Sachkunde des Gerichts auch aufdrängt. Nachdem das für die Empfehlung der Landesregierung und den Erlass des Justizministeriums maßgebliche Prinzip der Kontaktvermeidung nicht nur dem unmittelbaren Schutz von erhöht gefährdeten Personen, sondern vornehmlich der gesamtgesellschaftlich notwendigen Verringerung der Infektionsrate dient, war das Schwurgericht auch nach Ansicht des Senates nicht – wie der Verteidiger meint – zur Fortsetzung der Hauptverhandlung gehalten, weil es „nicht ersichtlich [sei], dass einer der direkten Verfahrensbeteiligten zu einer akuten Risikogruppe gehöre“ und Zuhörer in einem Abstand von 1,5 m zueinander platziert werden könnten. Schließlich besteht für den Senat kein Anlass daran zu zweifeln, dass das Schwurgericht die Entscheidung, die Hauptverhandlung auszusetzen, nicht leichtfertig, sondern wohlüberlegt und unter Erwägung aller ihm zu diesem Zeitpunkt ersichtlichen Möglichkeiten, die Hauptverhandlung an den bereits bestimmten Terminen mit einem vertretbaren Ansteckungsrisiko fortzusetzen, getroffen hat, nachdem es – wie es im Aussetzungsbeschluss mitteilt – die Situation und Handlungsoptionen mit der Gerichtsleitung und anderen Strafkammern erörtert hatte. Die rechtliche Möglichkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung bis Mai gem. § 229 StPO bestand zum Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer über die Aussetzung der Hauptverhandlung noch nicht, da das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19 Pandemie im Zivil-, Insolvenz und Strafverfahrensrecht vom 27.03.2020 erst am 28.03.2020 in Kraft getreten ist (BGBl. 2020 Teil I Nr. 14 v. 27.03.2020, S. 572).

g) Die sofortige Entlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft ist jedenfalls schon nicht deshalb geboten, weil völlig ungewiss wäre, wann die Hauptverhandlung durchgeführt werden kann und damit ein Urteil zu erwarten ist. Insoweit ist nichts dagegen zu erinnern, dass sich das Schwurgericht offenbar bei der Aussetzungsentscheidung von der Annahme leiten ließ, die Hauptverhandlung bereits im Mai 2020 wieder beginnen zu können. Zwar ist dies wegen der dynamischen, in weiten Teilen unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie und ihrer Auswirkungen keineswegs sicher. Jeglicher Grundlage entbehrt diese optimistische Annahme des Schwurgerichts jedoch nicht. So ergeben sich nicht nur aus dem Erlass des Justizministeriums Baden Württemberg vom 14.03.2020, sondern auch aus der Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 17.03.2020, wonach öffentliche Schulen oder Hochschulen (§§ 1 und 2 CoronaVO) sowie andere Einrichtungen (§ 4 CoronaVO) am 20.04.2020 wieder ihren Betrieb aufnehmen können sollen, zumindest nachvollziehbare Hinweise darauf, dass die Gefährdungslage im Mai jedenfalls der Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache zulassen könnte. Jedenfalls kann auch bei der derzeitig nicht absehbaren Entwicklung der Covid 19 – Pandemie die vom Vorsitzenden derzeit beabsichtige Anberaumung eines neuen Hauptverhandlungstermins im Mai 2020 nicht als ersichtlich undurchführbar bewertet werden.

f) Die Fortdauer der seit dem 25.09.2019 andauernden Untersuchungshaft ist mit Blick auf die Schwere des Vorwurfs auch verhältnismäßig.

III.

Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:

Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 m.w.N). Falls sich entgegen der Annahme des Schwurgerichts die Gefährdungslage im Mai noch nicht in dem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein, um eine weitere Verzögerung des Verfahrens rechtfertigen zu können. So wird das Schwurgericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., GVG § 169 Rn. 5; Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, GVG § 169 Rn. 10) und/oder die Zulassung der Tonübertragung in einen Arbeitsraum für Pressevertreter gemäß § 169 Abs. 1 Satz 3 GVG kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schwurgerichts – etwa wegen einer laufenden Klimaanlage und ggf. damit verbundener Ansteckungsgefahren – umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Gerichtsgebäudes, zu erwägen sein (vgl. Löwe-Rosenberg a.a.O.). Jedenfalls sind die Anstrengungen des Schwurgerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1, Abs. 2 StPO sowie dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“