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Mord II: Nochmals „Mordmerkmal Heimtücke“, oder: Bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit

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Als zweite Entscheidung dann das BGH, Urt. v. 20.06.2024 – 4 StR 15/24 -, über das ich schon einmal in anderem Zusammenhang berichtet habe (siehe Verkehrsrecht I: Begriff des Unfalls bei der Unfallflucht, oder: Verkehrstypische Gefahr realisiert?). 

Wegen des Sachverhalts verweise ich auf das frühere Posting. Hier geht es jetzt um die Frage, ob das LG zu Recht das Mordmerkmal „Heim

„Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat durchgreifende Rechtsfehler sowohl zum Nachteil als auch zum Vorteil (§ 301 StPO) des Angeklagten ergeben.

1. Die Begründung, mit der das Landgericht das Mordmerkmal der Heimtücke verneint hat, hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Ausführungen zum fehlenden Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten sind widersprüchlich und lückenhaft.

a) Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung ist dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt (vgl. BGH, Urteil vom 1. Februar 2024 – 4 StR 287/23 Rn. 12 mwN; Beschluss vom 10. Januar 1989 – 1 StR 732/88, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 7). Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2023 – 1 StR 104/23; Urteil vom 16. August 2005 – 4 StR 168/05, NStZ 2006, 167, 169; Urteil vom 4. Juni 1991 – 5 StR 122/91, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 15 mwN).

Für das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 4. Februar 2021 – 4 StR 403/20 Rn. 26 mwN; Beschluss vom 4. Mai 2011 – 5 StR 65/11 Rn. 9 mwN). Das Ausnutzungsbewusstsein kann bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens entnommen werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt. Das gilt in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter selbst dann, wenn er die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat. Denn bei erhaltener Einsichtsfähigkeit ist die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt (vgl. BGH, Urteile vom 9. Oktober 2019 – 5 StR 299/19 Rn. 10 mwN und vom 31. Juli 2014 – 4 StR 147/14 Rn. 7 mwN).

b) Dem werden die Erwägungen im angefochtenen Urteil nicht gerecht. Zur Begründung der Ablehnung des Ausnutzungsbewusstseins hat die Jugendkammer angeführt, dass der Angeklagte wegen der Fahrt „mit aufheulendem Motor und durchgehend angeschaltetem Licht“ damit rechnen „musste“, dass die Geschädigten das sich nähernde Fahrzeug wahrnehmen würden. Damit hat das Landgericht auf Umstände abgestellt, die lediglich die Wahrnehmungssituation der Tatopfer betreffen, und zwar, obwohl es ebenfalls angenommen hat, dass diese das Fahrzeug als ihnen drohende Gefahr für Leib und Leben vor der Kollision nicht erkannt haben. Denn nach den Urteilsgründen ging der Geschädigte I.     von einem Fahrzeug auf Parkplatzsuche aus. Ebenso sah die Geschädigte H.     in dem wahrgenommenen Motorengeräusch keinen Anlass, sich nach hinten umzudrehen. Aber auch im Falle eines dahingehenden Vorstellungsbildes des Angeklagten ließen die vorgenannten Umstände die Arglosigkeit dann nicht entfallen, wenn die verbleibende Zeitspanne zu kurz gewesen wäre, um der erkannten Gefahr zu begegnen. Insoweit geht die Jugendkammer im Rahmen der Ausführungen zum bedingten Tötungsvorsatz selbst davon aus, dass die Wahrnehmbarkeit des vom Angeklagten durchgeführten Fahrmanövers aufgrund der sehr kurzen Phase vom Anfahren bis zur Kollision von nur knapp sechs Sekunden für die Geschädigten stark eingeschränkt war. Stattdessen legen die festgestellten äußeren Umstände ein Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten nahe. Danach fuhr er mit einem Pkw plötzlich und überfallartig von hinten auf einem Gehweg auf sein anvisiertes Tatopfer zu, welches in der kurzen Phase der Annährung hierauf keinerlei Reaktion zeigte, die auf ein Erkennen des Angriffs hindeutete. Anhaltspunkte, weshalb der Angeklagte, der sich selbst dahin eingelassen hat, der Geschädigte habe sich bei der Zufahrt von hinten nicht umgedreht, diese Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt nicht erfasst haben könnte, benennt die Jugendkammer nicht. Eine hierfür in Betracht kommende psychische Ausnahmesituation mit Auswirkungen auf die Erkenntnisfähigkeit hat sie nicht festgestellt.“

Mord I: „Heimtücke ist kein „heimliches“ Vorgehen, oder: Mordmerkmal „Heimtücke“

Heute dann StGB-Entscheidungen. Alle drei stammen vom BGH und alle drei haben mit Mord (§ 211 StGB) zu tun.

Den Opener macht das BGH, Urt. v. 25.07.2024 – 1 StR 471/23. Das LG hat den Angeklagten u.a. (nur) wegen versuchten Totschlags in Tateinheit  verurteilt. Die Staatsanwaltschaft verfolgt mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Sachrüge gestützten Revision ua. die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes. Insoweit hat das Rechtsmittel keinen Erfolg:

„Das Landgericht hat, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte ist der Schwager des Geschädigten A., der im Tatzeitpunkt von dessen Schwester getrennt lebte und im Rahmen des Scheidungsverfahrens die Auseinandersetzung des gemeinsamen Vermögens betrieb. Der in Kanada lebende Angeklagte unterstützte seine Schwester bei den Verhandlungen, indem er mehrfach sowohl mit deren Scheidungsanwalt als auch dem Geschädigten telefonierte, bis dieser seine Anrufe nicht mehr entgegennahm. Anlass für den Angeklagten, den Geschädigten persönlich aufzusuchen, war die zuletzt am 17. November 2022 geäußerte Bitte seiner Schwester mit den Worten: „H. bitte komm und zeig dich dem Mann! Komm, damit er dich sieht!“.

Nachdem der Angeklagte am 23. November 2022 von Kanada nach Deutschland eingereist war, erwarb er spätestens am Folgetag einen Zimmermannshammer, der auf der einen Seite eine flache und breite Schlagfläche und auf der anderen Seite ein spitzes Ende, eine sogenannte „Klaue“, besaß.

Am frühen Morgen des 25. November 2022 fuhr der Angeklagte mit einem Mietwagen zum Wohnanwesen des Geschädigten, wo er gegen 5.31 Uhr eintraf, um den Geschädigten zu stellen; den Zimmermannshammer führte er mit. Mit zwei Eimern in den Händen verließ der Geschädigte gegen 6.10 Uhr das Haus und betrat den vor der Wohnungseingangstür befindlichen Treppenaufgang, der ab diesem Moment infolge des aktivierten Bewegungsmelders hell ausgeleuchtet war. Der Geschädigte drehte sich zur Tür, sperrte diese ab, nahm die zuvor abgestellten Eimer wieder auf und erblickte nun den einige Meter entfernt unterhalb der fünf bis sechs Treppenstufen stehenden Angeklagten mit dem Hammer in der Hand.

Der Angeklagte bewegte sich unmittelbar über den Treppenaufgang auf den Geschädigten zu und holte – für diesen erkennbar – unter billigender Inkaufnahme tödlicher Folgen mit dem Hammer zum Schlag aus. Der Geschädigte ließ daraufhin die beiden Eimer fallen, ging dem Angeklagten ein oder zwei Treppenstufen entgegen, führte seine Hände zum Schutz über den Kopf und ergriff den Schlagarm des Angeklagten, um die Wucht des bereits geführten Schlages abzufangen. Obwohl dies gelang, traf der Angeklagte den Geschädigten mit der spitzen Seite des Hammers frontal an der rechten Schädelseite oberhalb der Schläfe. Der Geschädigte erlitt hierdurch eine – nicht lebensgefährliche – Riss-Quetsch-Wunde sowie eine Kalottenfraktur (Absprengung der Lamina interna) rechts parietal mit winzigen intrakraniellen Lufteinschlüssen.

Im Anschluss entwickelte sich zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten eine über mehrere Minuten andauernde Rangelei mit wechselseitigen Faustschlägen, die sich von den Treppenstufen durch den Garten bis zum Gartentor und von dort aus auf die davorgelegene Straße verlagerte. Der Angeklagte äußerte dabei gegenüber dem Geschädigten, dass er ihn umbringen werde, während dieser den bewaffneten Schlagarm des Angeklagten weiter festhielt und wiederholt lautstark um Hilfe und nach der Polizei rief. Ein erneutes Zuschlagen mit dem Hammer war dem Angeklagten infolge der anhaltenden Gegenwehr des Geschädigten nicht möglich. Als der Zeuge P., ein durch die Rufe aufmerksam gewordener Nachbar, in das Geschehen eingriff, konnte der Geschädigte dem Angeklagten den Hammer entwinden und diesen zum Zwecke der Festnahme einstweilen festhalten. Zwar gelang es dem Angeklagten schließlich, sich aus dem Griff des Geschädigten zu lösen, den Hammer wieder an sich zu bringen und zu flüchten; jedoch erachtete er die Tatausführung infolge der unerwarteten Gegenwehr und der Anwesenheit des Zeugen P. als gescheitert.

2. Das Landgericht hat den Angeklagten, der sich dahin eingelassen hat, er habe mit dem Hammer nur eine Aussprache mit dem Geschädigten erzwingen, diesen aber weder töten noch verletzen wollen, wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Das Mordmerkmal der Heimtücke hat es abgelehnt, da nicht zu seiner Überzeugung feststehe, dass der Geschädigte im Zeitpunkt des ersten Angriffs arg- und wehrlos gewesen sei. Der Strafzumessung hat das Landgericht den nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB und §§ 46a, 49 Abs. 1 StGB (doppelt) gemilderten Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt. Die Voraussetzungen des Täter-Opfer-Ausgleichs nach § 46a Nr. 1 StGB hat es als gegeben erachtet, weil der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung bei dem Geschädigten entschuldigt und die Wiedergutmachung der Tat durch Zahlung von 10.000 Euro ernsthaft erstrebt habe. Insoweit dürfe es dem Angeklagten nicht zum Nachteil gereichen, dass der Geschädigte, der zunächst Gesprächsbereitschaft signalisiert habe, weder die Entschuldigung noch das Zahlungsangebot angenommen habe. Besonderes Gewicht begründe schließlich die familiäre Verbindung zwischen dem Geschädigten und dem Angeklagten, welcher der Onkel der Söhne des Geschädigten sei.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat nur zum Strafausspruch Erfolg.

1. Die Verneinung des Mordmerkmals der Heimtücke lässt auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen keinen Rechtsfehler erkennen.

a) Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 14. Juni 2017 – 2 StR 10/17, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 41 und vom 4. Juli 1984 – 3 StR 199/84, BGHSt 32, 382, 383 f.; Beschluss vom 2. Dezember 1957 – GSSt 3/57, BGHSt 11, 139, 143). Arglos ist ein Opfer, das sich keines erheblichen Angriffs gegen seine körperliche Unversehrtheit versieht. Die Arglosigkeit führt zur Wehrlosigkeit, wenn das Opfer aufgrund der Überraschung durch den Täter in seinen Abwehrmöglichkeiten so erheblich eingeschränkt ist, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, dem Angriff auf sein Leben erfolgreich zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das ist der Fall, wenn das Opfer daran gehindert ist, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen oder in sonstiger Weise auch durch verbale Äußerungen auf den Täter einzuwirken, um den Angriff zu beenden (vgl. BGH, Urteile vom 24. Mai 2023 – 2 StR 320/22 Rn. 11; vom 15. November 2017 – 5 StR 338/17 Rn. 9; vom 25. November 2015 – 1 StR 349/15 Rn. 14 und vom 21. Dezember 1951 – 1 StR 675/51, BGHSt 2, 60, 61; Beschluss vom 26. März 2020 – 4 StR 134/19 Rn. 13). Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Vielmehr kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 6. Januar 2021 – 5 StR 288/20 Rn. 28; vom 21. Januar 2021 – 4 StR 337/20 Rn. 12 f.; vom 9. Oktober 2019 – 5 StR 299/19 Rn. 9; vom 25. November 2015 – 1 StR 349/15 Rn. 14 und vom 27. Juni 2006 – 1 StR 113/06 Rn. 10; jeweils mwN).

b) Nach Maßgabe dessen kommt der Versuch einer heimtückischen Tötung hier nicht in Betracht. Zwar hat das Landgericht seiner rechtlichen Würdigung den falschen rechtlichen Ansatz zugrunde gelegt, indem es die Heimtücke objektiv verneint, anstatt auf das – wegen des Versuchs allein relevante – Vorstellungsbild des Angeklagten abzustellen. Die Feststellungen zum objektiven Geschehensablauf und die Erwägungen des Landgerichts zum Tötungsvorsatz belegen allerdings, dass sich der Angeklagte keine heimtückische Tötung vorstellte.

Nach den Feststellungen trat der Angeklagte dem Geschädigten vor dem ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriff offen feindselig gegenüber. Er stand – für den Geschädigten gut erkennbar – im Lichtkegel der Hausbeleuchtung mit einigem räumlichen Abstand unterhalb des Treppenaufgangs, den Zimmermannshammer sichtbar in der Hand. Der Angeklagte näherte sich dem Geschädigten über die Treppenstufen in unverhohlener und vom Geschädigten augenblicklich erkannter Angriffsabsicht. Trotz der kurzen Zeitspanne von wenigen Sekunden war der Geschädigte im Zeitpunkt des Angriffs nicht mehr arglos, sondern lediglich überrascht durch die unerwartete Begegnung mit dem Angeklagten. Die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff des Angeklagten war, wie an der Reaktion des Geschädigten deutlich wird, auch nicht so kurz, dass diesem keine Möglichkeit mehr blieb, dem Angriff wirksam zu begegnen. Wie der Fortgang des Geschehens zeigt, war der Geschädigte aufgrund der bestehenden Kräfteverhältnisse und der Möglichkeit, Nachbarschaft und Polizei zu Hilfe zu rufen, auch nicht wehrlos. Allein dass es ihm nicht gelang, noch zurück ins Haus zu gelangen oder den Angriff vollständig abzuwehren, ändert daran nichts. Es liegt fern, dass sich der Angeklagte, der weder sich noch sein Werkzeug verborgen hielt, etwas davon völlig Abweichendes vorgestellt hat.“

Wegen der Ausführungen des BGH zum TOA komme ich auf die Entscheidung noch einmal zurück.

Wiedereinsetzung I: Rechtsmittelbegründungsfrist, oder: Eigenverantwortliche Prüfpflicht des Anwalts

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In die neue Woche starte ich dann mit zwei Entscheidungen zur Wiedereinsetzung.

Die erste stammt vom BGH. Es handelt sich bei dem BGH, Beschl. v. 31.07.2024 – XII ZB 573/23 – zwar um eine Entscheidung aus einem Zivilverfahren. Die Ausführungen des BGH zur Prüfpflicht des Rechtsanwalts betreffend den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen können aber auch im Strafverfahren von Bedeutung haben, wenn dem Mandanten, wie z.B. bei der Nebenklage, ausnahmsweise ein Verschulden seines Anwalts zugerechnet wird.

Gestritten wird in dem vom BGH entschiedenen Verfahren (noch) um Wiedereinsetzung gegen die Versäumung einer Beschwerdebegründungsfrist. Das AG hatte den Antragsgegner in einem Verfahren nach § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG (sonstige Familiensache) verpflichtet, an die Antragstellerin, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, einen Betrag von 293.000 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Gegen den seinem Verfahrensbevollmächtigten am 25.07.2023 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 24.08.2023 beim AG Beschwerde eingelegt und diese am 02.10.2023 begründet. Das AG hat den mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen Schriftsatz am 04.10.2023 auf elektronischem Wege an das OLG weitergeleitet. Durch Beschluss vom selben Tag hat das OLG darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Beschwerde des Antragsgegners als unzulässig zu verwerfen, weil eine Rechtsmittelbegründung nicht innerhalb der Frist des § 117 Abs. 1 Satz 3 FamFG eingegangen sei. Dieser Hinweis ist dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners am 06.10.2023 zugegangen.

Am 11.10.2023 hat der Antragsgegner beim OLG Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Mitarbeiterin Frau E. seines Verfahrensbevollmächtigten ausgeführt, diese sei in der Kanzlei für die Fristenverwaltung zuständig. In den mehr als 20 Jahren ihrer Beschäftigung sei ihr bislang kein Fehler im Fristenkalender unterlaufen. Nach der Organisation des Büros werde zunächst eine Vorfrist von einer Woche eingetragen, wobei die Fristen sowohl in einem gesonderten Fristenkalender als auch digital in der Anwaltssoftware notiert würden. Neben der Vorfrist gebe es ferner die sogenannte Notfrist. Der Verfahrensbevollmächtigte kontrolliere regelmäßig die Einhaltung der Fristen. Sämtliche Mitarbeiter seien bei Aufnahme ihrer Tätigkeit über die Regelungen für die Fristenkontrolle und deren Bedeutung belehrt worden. Diese Belehrungen würden auch regelmäßig wiederholt, zuletzt am 04.08.2023. Der Verfahrensbevollmächtigte habe beim Diktat der Beschwerdeschrift explizit erklärt, dass die Frist für die Beschwerdebegründung einen Monat betrage und diese allerspätestens am 25.09.2023 beim OLG, hilfsweise beim Familiengericht, einzugehen habe. Er habe ferner diktiert, dass ihm die Akte zur Vorfrist am 18.9.2023 vorgelegt werden solle, damit ausreichend Zeit für die Rechtsmittelbegründung verbleibe. Tatsächlich habe Frau E. die Vorfrist aber versehentlich für den 18.10.2023 und die Notfrist für den 25.10.2023 eingetragen. Dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners sei dies nicht aufgefallen, da er auf die ordnungsgemäße Einhaltung und Beachtung der Fristen vertraut habe und aufgrund seiner Arbeitsbelastung eine Kontrolle nicht erfolgt sei. Erst durch den Hinweis des OLG vom 04.10.2023 habe er den Fehler bemerkt und nach seiner urlaubsbedingten Abwesenheit vom 03. bis zum 10.10.2023 den Wiedereinsetzungsantrag gestellt.

Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unbegründet zurückgewiesen. Hiergegen richtete sich die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners, die keinen Erfolg hatte.

Der BGH führt dazu umfangreich aus. Ich beschränke mich daher hier auf Leitsatz der Entscheidung, nämlich:

Werden einem Rechtsanwalt die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt, hat er den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich zu prüfen.

Dazu hatte der BGH übrigens schon mal ählich im BGH, Beschl. v. 01.03.2023 – XII ZB 483/21, NJW-RR 2023, 698) – Stellung genommen.

Amtshaftung wegen Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: (Nur) Aufhebung wegen OLG-Verfahrensfehler

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Und dann eine etwas ungewöhnliche Entscheidung, nämlich der BGH, Beschl. v. 25.04.2024 – III ZR 54/23.

Es geht nämlich um ein Amts­haf­tungs­ver­fah­ren wegen un­be­rech­tigter Entziehung der Fahrerlaubnis. Folgender Sachverhalt: Die Verwaltungsbehörde entzog dem Kläger im August 2019 seinen Motorrad- und Pkw-Führerschein. Mit Urteil des VG München vom 14.12.2020 wurde der Bescheid aufgehoben und der Beklagte angewiesen, den Führerschein zurückzugeben, was im Februar 2021 erfolgte.

Der Kläger arbeitete im fraglichen Zeitraum bei einem Unternehmen in der Z. Straße 100 in M. und wohnte in der K.-Straße in S. Er reduzierte mit Vereinbarung vom 30.08.2019 und Wirkung zum 01.09.2019 seine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden auf 28 Wochenstunden und arbeitete in der Folge nur noch an vier Tagen pro Woche. Die reduzierte Arbeitszeit wurde bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Mitte des Jahres 2022 beibehalten.

Der Kläger behauptet Einkommensverluste aufgrund des Fahrerlaubnisentzugs in Höhe von insgesamt 31.678 EUR€; einen immateriellen Schaden macht er iin der Revision nicht mehr geltend. Er trägt vor, durch den erhöhten Zeitaufwand für den Arbeitsweg gezwungen gewesen zu sein, seine Arbeitszeit von zuvor 40 Stunden auf 28 Stunden zu reduzieren. Der Arbeitsweg habe sich durch den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel auf mindestens eineinhalb Stunden einfach verlängert, während er vorher mit dem Motorrad lediglich rund 30 Minuten einfach benötigt habe und an Staus hätte vorbeifahren können. Er hätte ohne Arbeitszeitreduzierung um 6.00 Uhr morgens das Haus verlassen müssen und wäre meist erst nach 22.00 Uhr abends zurückgekehrt. Dies sei nicht zumutbar gewesen, da er so kaum noch Freizeit gehabt hätte. Durch die Arbeitszeitreduzierung habe sich sein Arbeitsentgelt von 5.170 EUR brutto auf 3.619 EUR brutto reduziert. Aus dem um 1.551 EUR niedrigeren Brutto-Lohnanspruch über 18 Monate errechne sich ein Schaden in Höhe von 27.918 EUR. Zudem habe er in diesem Zeitraum in Höhe von 3.760 EUR geringere Bonuszahlungen erhalten.

Sowohl das LG als auch das OLG München haben die Klage abgewiesen. Erst mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde hatte der Kläger vorläufig Erfolg.

Allerdings macht der BGH zur Sache keine Ausführungen, sondern beanstandet (nur) eine Verletzung des rechtlichen Gehörs:

„2. Nach diesen Grundsätzen verletzt die Würdigung des Berufungsgerichts, der Vortrag des Klägers zu den Fahrzeiten sei unsubstantiiert, das von ihm beantragte Sachverständigengutachten müsse deswegen nicht eingeholt werden, den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Der Kläger hat in der Klageschrift unter Vorlage einer Wegzeitberechnung (Screenshot eines Routenplaners, Anlage K 6) vorgetragen, vor Entziehung der Fahrerlaubnis für den Weg zur Arbeit ein Motorrad benutzt zu haben, mit dem der Arbeitsweg in etwa 30 Minuten je einfache Strecke zu bewältigen gewesen sei, während er mit öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens eineinhalb Stunden je einfache Strecke benötigt habe. In seiner Replik auf die Klageerwiderung hat er behauptet, die der Klageschrift beigefügte Wegzeitberechnung sei richtig und spiegele die durchschnittliche Reisezeit zu Arbeitsbeginn und nach Beendigung der Arbeit wider. Zum Beweis hat er die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten.

Bereits dieses Vorbringen hätte dem Tatrichter Veranlassung geben müssen, in die Beweisaufnahme einzutreten und einen – ortskundigen und mit den dort gegebenen Verhältnissen im Berufsverkehr vertrauten – Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen.

In der Berufungsbegründung hat der Kläger sein Vorbringen – unter Vorlage der als „Auszug Maps Fahrstrecke Motorrad“ bezeichneten Anlage BK 6 – überdies dahingehend ergänzt, dass sich die rund 30-minütige Fahrzeit mit dem Motorrad selbst bei vollständiger Sperrung der kürzesten Strecke (laut Anlage K 6) in der „Rush-Hour“ bei Nutzung einer Alternativroute nur um neun Minuten erhöhte, und im Schriftsatz vom 13. März 2023 (Gegenerklärung) an die Einholung des angebotenen Sachverständigengutachtens erinnert.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat diese Umstände zutreffend herausgearbeitet und mit Recht ausgeführt, dass es weiterer Angaben für die Behauptung des Klägers, dass die Fahrzeit mit dem Motorrad deutlich kürzer gewesen sei als mit öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht bedurft und das Berufungsgericht durch die Nichteinholung des Sachverständigengutachtens gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen habe.

3. Der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht ohne den Verstoß zu einem in Bezug auf das Klagebegehren günstigeren Ergebnis gelangt wäre. Das gilt auch, wenn man den Umstand mit einbezieht, dass der Kläger nach Rückerhalt der Fahrerlaubnis seine Arbeitszeit nicht wieder verlängerte. Denn das Berufungsgericht hat diesen Umstand lediglich als einen „auch“ gegen den Kausalzusammenhang sprechenden Gesichtspunkt angesehen, nicht jedoch seine Entscheidung selbständig tragend auf ihn gestützt.“

Und dann gibt es für das OLG noch etwas mit den Weg

„Die angefochtene Entscheidung ist daher im tenorierten Umfang aufzuheben und das Verfahren insoweit an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht auch Gelegenheit, sich gegebenenfalls mit den weiteren Rügen des Klägers in der Nichtzulassungsbeschwerde auseinanderzusetzen. Hinsichtlich des Umstandes, dass der Kläger nach Rückerhalt der Fahrerlaubnis seine Arbeitszeit nicht wieder verlängerte, weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass der Kläger in Ansehung der Gründe im Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts, in dem dieses moniert hatte, es fehle an einem Beweisantritt für die Behauptung, dass der Arbeitgeber einer (Rück-)Verlängerung nicht zugestimmt habe, mit einer Bewertung seines Vorbringens als „unsubstantiiert“ im angefochtenen Zurückweisungsbeschluss nicht (mehr) rechnen musste; sollte es im zweiten Rechtsgang darauf ankommen, ist ihm insoweit Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu geben.“

Ich bin gespannt, ob man von der Sache noch einmal etwas hört.

Regulierung nach Unfall mit Leasingfahrzeug, oder: Schadensbetrachtung und Darlegungs-/Beweislast

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Und heute im Kessel Buntes zweimal der BGH.

Zunächst hier das BGH, Urt. v. 02.07.2024 – VI ZR 211/22 – zum Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall mit einem Leasingfahrzeug.

Es geht um folgenden Sachverhalt: Die Klägerin verlangt von dem beklagten Haftpflichtversicherer weiteren Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, bei dem ein von der Klägerin geleaster und zum Zeitpunkt des Unfalls im Eigentum der Leasinggeberin stehender PKW einen Totalschaden erlitten hat. Die volle Haftung der Beklagten für den Unfallschaden steht dem Grunde nach außer Streit.

Die Klägerin beauftragte einen Sachverständigen, der den Wiederbeschaffungswert des Unfallfahrzeugs und unter Berücksichtigung von drei Angeboten regionaler Ankäufer am 10.10.2019 einen Restwert von 13.800 EUR ermittelte. Die Klägerin gab dies der Beklagten zur Kenntnis. Spätestens am 23.10.2019 legte die Beklagte der Klägerin dann ein über eine Internet-Restwertbörse ermitteltes Restwertangebot vom 21.10.2019 über 22.999 EUR vor und rechnete den Fahrzeugschaden – unter Übernahme des von der Klägerin angegebenen Wiederbeschaffungswertes – auf dieser Basis ab. Die Klägerin lehnte das Angebot unter Hinweis auf eine bereits am 22.10.2019 zu dem in dem von ihr eingeholten Schadensgutachten ermittelten Restwert erfolgte Veräußerung des Unfallwagens ab.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin den Differenzbetrag zwischen dem von der Beklagten angesetzten Restwert und dem tatsächlich erzielten Verkaufserlös, also 9.199 EUR, nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.

Das LG hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG ein Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt, ob für das streitgegenständliche Fahrzeug auch bei Abruf von Angeboten überregionaler Ankäufer bzw. von Internet-Restwertbörsen kein höherer Restwert als 13.800 EUR zu erzielen gewesen sei, und die Klage sodann unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils abgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin die von ihr geltend gemachten Ansprüche in vollem Umfang weiter.

Die Revision hatte beim BGH keinen Erfolg. Hier dann die Leitsätze des BGH zu der Entscheidung:

1.  Macht ein Leasingnehmer nach einem Verkehrsunfall einen an dem Leasingfahrzeug entstandenen Sachschaden allein als fremden Schaden des Leasinggebers in gewillkürter Prozessstandschaft gegenüber dem Unfallgegner geltend, sind im Rahmen der subjektbezogenen Schadensbetrachtung die Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten des Leasinggebers maßgeblich.

2. Zur Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich des bei der Abrechnung eines Totalschadens zu berücksichtigenden Restwertes des Unfallfahrzeugs.