Berufung I: Der Angeklagte sitzt im Zuschauerraum, oder: Ist der Angeklagte erschienen?

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Wir starten in die 42. KW.72025 mit zwei Entscheidungen aus dem strafverfahrensrechtlichen Berufungsverfahren.

Den Opener macht der BayObLG, Beschl. v. 23.06.2025 – 203 StRR 234/25. Es geht in der Entscheidung u.a. um die Frage des „Erscheinens des Angeklagten“ in der Hauptverhandlung. Das LG hat die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung zwar im Sitzungssaal befunden habe, sich jedoch hartnäckig und konstant geweigert habe, als Angeklagter an der Verhandlung teilzunehmen. Er habe weder auf dem für den Angeklagten vorgesehenen Stuhl Platz genommen noch sich auf mehrmalige Nachfrage (bereit) erklärt, der Verhandlung in der Rolle als Angeklagter beizuwohnen, sondern permanent die Verhandlung durch stereotype Monologe gestört. Rechtlich sei bei einem Angeklagten, der sich in der Berufungshauptverhandlung in querulatorischer Weise störend verhalte, von einem Nichterscheinen auszugehen.

Dagegen die Revision des Angeklagten, die Erfolg hatte:

2. Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Annahme der Berufungskammer, rechtlich sei bei einem Angeklagten, der sich in der Berufungshauptverhandlung in querulatorischer Weise störend verhalte und seine Mitwirkung verweigere, von einem Nichterscheinen auszugehen, erweist sich als rechtsfehlerhaft, so dass die Verwerfung der Berufung zu Unrecht erfolgt ist.

a) Nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen, wenn bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 der Vorschrift ist ebenso zu verfahren, wenn die Fortführung der Hauptverhandlung in dem Termin dadurch verhindert wird, dass sich der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat und kein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht anwesend ist. Satz 3 sieht vor, dass über eine Verwerfung wegen Verhandlungsunfähigkeit nach diesem Absatz das Gericht nach Anhörung eines Arztes als Sachverständigen entscheidet. Sinn und Zweck des § 329 StPO ist es, eine Verzögerung oder Vereitelung der Sachentscheidung über eine Berufung durch den Angeklagten zu verhindern (BT Drucks. 18/3562 S. 70; Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 2 m.w.N.). Die Bestimmung enthält eine Ausnahme von dem in § 230 Abs. 1 StPO niedergelegten Verfahrensgrundsatz, dass gegen einen ausgebliebenen Angeklagten nicht verhandelt und entschieden werden darf. Sie ist im Interesse des Angeklagten eng auszulegen und anzuwenden (Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 2 m.w.N.).

b) Um an Stelle des Angeklagten im Verfahren Erklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen, bedarf es einer ausdrücklichen Erklärung des Angeklagten, dass der Verteidiger befugt sein soll, über die Verteidigerrechte hinaus rechtswirksam Verfahrensbefugnisse für ihn wahrzunehmen. Demgemäß bestimmt § 329 Abs. 1 S. 1 StPO das Erfordernis des Nachweises einer besonderen Vertretungsvollmacht, soll ein Verteidiger den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung vertreten. Die Pflichtverteidigerbestellung als solche genügt nicht (zum Ganzen Senat, Beschluss vom 9. Dezember 2024 – 203 StRR 591/24-, juris Rn. 16 m.w.N.).

c) Erscheinen des Angeklagten im Sinne des § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO meint nach der Vorstellung des Gesetzgebers die körperliche Anwesenheit im Sitzungssaal sowie ein Sicherkennengeben gegenüber dem Gericht (BT Drucks. 18/3562 S. 69 zur Neufassung von § 329 StPO). In erst- und zweitinstanzlicher Hauptverhandlung ist von einem einheitlichen Abwesenheitsbegriff auszugehen (ausführlich Arnoldi in MüKoStPO, 2. Aufl. 2024, § 230 Rn. 5). Der Senat schließt sich dieser Auffassung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung im Einklang mit der Literatur an (vgl. Eschelbach in BeckOK StPO, 55. Ed. 1.4.2025, § 329 Rn. 14; Paul in KK-StPO, 9. Aufl., § 329 Rn. 4; Quentin a.a.O. § 329 Rn. 21, 24; Brunner in KMR, 110. EL, § 329 Rn. 19; Gmel/Peterson in KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 230 Rn. 3 zu § 230 StPO; Arnoldi a.a.O. § 230 Rn. 10 m.w.N. zu § 230).

d) Darauf, ob der Angeklagte sich zur Person oder zur Sache äußert, kommt es demnach nicht an (Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 14; Quentin a.a.O. § 329 Rn. 24). Der Angeklagte muss nicht aktiv an der Verhandlung mitwirken und kann zu einer aktiven Teilnahme nicht gezwungen werden (Arnoldi a.a.O. § 230 Rn. 11; zur Mitwirkungsfreiheit Rogall in SK-StPO, 6. Aufl., vor §§ 133 ff. Rn. 73). Auch ein Sitzen im Zuschauerbereich macht den Angeklagten nicht abwesend (BGH, Beschluss vom 16. Februar 2021 – 4 StR 517/20 –, juris zu einer dem Angeklagten vom Vorsitzenden zugewiesenen Sitzposition im Zuhörerraum).

e) Nur wenn der Angeklagte unerkannt im Sitzungssaal erschienen ist und sich dem Gericht gegenüber nicht als Angeklagter zu erkennen gegeben hat, ist dies als Nichterscheinen zu werten (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. April 2022 – 1 Rv 34 Ss 173/22 –, juris; Arnoldi a.a.O. § 230 Rn. 10; Quentin a.a.O. § 329 Rn. 24 m.w.N.; Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 329 Rn. 7; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 14 und 17; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 230 StPO Rn. 7; Deiters in SK-StPO, 6. Aufl., § 230 Rn. 14).

f) Erscheint der Angeklagte zum Termin im Sitzungssaal und gibt sich dem Gericht gegenüber hinreichend als Angeklagter zu erkennen, kann die für die Durchführung der Verhandlung erforderliche Präsenz des Angeklagten im Sitzungssaal festgestellt werden. In diesem Fall liegt kein Ausbleiben des Angeklagten im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO vor. Dies gilt auch dann, wenn der Angeklagte jede Mitwirkung an der Verhandlung verweigert, indem er prozessleitenden Anordnungen, etwa der Anordnung der Einnahme des Platzes auf der Anklagebank, keine Folge leistet (Quentin a.a.O. § 329 Rn. 24; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4; Frisch in SK-StPO, 6. Aufl., § 329 Rn. 8). Dem obstruktiven Verhalten des Angeklagten ist in diesem Fall nicht durch eine Verwerfung der Berufung, sondern durch geeignete Maßnahmen nach § 177 GVG zu begegnen (vgl. Frisch a.a.O. § 329 Rn. 8; Quentin a.a.O. § 329 Rn. 24). § 329 Abs. 2 S. 2 StPO stellt dementsprechend klar, dass ein Verwerfungsurteil nicht ergehen darf, wenn der Angeklagte wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungssaal entfernt worden ist (Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 15b; vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 9. August 2021 – 202 ObOWi 860/21 –, juris zur Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG). Die Abwesenheitsverhandlung nach § 231b StPO geht § 329 Abs. 1 StPO vor (Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 15b).

g) Nach diesen Vorgaben durfte die Strafkammer die Berufung des Angeklagten hier nicht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verwerfen. Denn der Angeklagte ist zum Termin im Sitzungssaal erschienen und hat sich als Angeklagter zu erkennen gegeben. Nach der Niederschrift der Hauptverhandlung (zur Beweiskraft vgl. § 274 StPO) hat das Gericht den Beschwerdeführer in der Sitzung als Angeklagten behandelt, ihm als Angeklagten Hinweise erteilt und von ihm Unterlagen als Anlagen zu Protokoll genommen. Das Stören der Verhandlung und die Verweigerung der Mitwirkung stehen dem Ausbleiben nach den oben dargelegten Grundsätzen nicht gleich. Der Verweis des Landgerichts auf eine Mitwirkungspflicht des Angeklagten trägt die Verwerfung nicht. Vielmehr ist anerkannt, dass auch ein Angeklagter, der erscheint, die Verhandlung aber mit der Behauptung, verhandlungsunfähig zu sein, ablehnt, nicht als ausgeblieben im Sinne von § 329 Abs. 1 StPO behandelt werden darf (Gössel a.a.O. § 329 Rn. 6; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 14 und 15; Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 18; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4; Frisch a.a.O. § 329 Rn. 9; Quentin a.a.O. § 329 Rn. 24; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 14). Das Gericht kann in diesem Fall die Verhandlungsfähigkeit feststellen lassen und den Angeklagten wie einen Angeklagten behandeln, der von seinem Schweigerecht Gebrauch macht (Gössel a.a.O. § 329 Rn. 6). Nach dem Erscheinen hätte sich die Strafkammer daher zunächst über die Verhandlungsfähigkeit vergewissern müssen (Arnoldi a.a.O. § 230 Rn. 11).

Das landgerichtliche Urteil ist mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§§ 353, 354 Abs. 2 StPO). Die Entscheidung ergeht nach § 349 Abs. 4 StPO.“

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